Nicht aus der Schweiz? Besuchen Sie lehmanns.de

Was du kriegen kannst (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2024
416 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-28098-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Was du kriegen kannst - Clemens Böckmann
Systemvoraussetzungen
17,99 inkl. MwSt
(CHF 17,55)
Der eBook-Verkauf erfolgt durch die Lehmanns Media GmbH (Berlin) zum Preis in Euro inkl. MwSt.
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Wer ist diese Frau? Ihre Stasi-Akten beschreiben Uta als 'groß', 'schlank', 'sehr intelligent, z. T. auch sehr raffiniert'. Sie nennen sie 'mannstoll' und notieren, dass sie 'sehr viel raucht und auch viel Alkohol verkonsumiert'. Aber ist das schon alles? Wie kann man einen Menschen voller Hoffnung und Lust beschreiben, der in die Widersprüche seiner Zeit gerät?
Über vierzig Jahre war Uta Sexarbeiterin. Seit 1971 von der Stasi auf Männer angesetzt, war sie dabei Täterin und Opfer zugleich. In Clemens Böckmanns die Geschichte aufwühlendem Roman erzählen er, sie und die Akten gemeinsam ein Leben. Dabei gibt es keine Wahrheit über die DDR oder die Ausbeutung als Frau - aber Aufmerksamkeit für einen von allen vergessenen Menschen.

Clemens Böckmann studierte in Kiel, Leipzig, Lissabon und Tel Aviv. Er arbeitet als Filmemacher, Herausgeber und Autor u. a. für Deutschlandfunk Kultur und unterschiedliche Zeitungen. Seit 2019 betreut er den Nachlass des Dichters und Skispringers Alvaro Maderholz.

Spätestens ab November setzt im Erzgebirge der Schneefall ein. Dann sind bald die Zufahrtsstraßen zum Dorf gesperrt, wenn überhaupt kommen die Leute zu Fuß aus den anderen Ortschaften. Meist aber halten sie still. Die Tage werden dann heller, weil die Maschinen im VEB langsamer laufen. Dann brennt schon früh in der Stube der Ofen, und Uta schmilzt Schnee in ihrem Becher. Vor etwas mehr als zehn Jahren hat die Rote Armee den Frieden zwingen müssen, auch in diesen Landstrich zu kommen. Drei Wochen noch wird es so ruhig sein, dann wird sich langsam in der Mitte der Stube ein künstlicher Berg erheben, das Erbstück der Familie Krahl, bereits übergeben von der Mutter an den Sohn, wobei sich Ähnliches in fast allen Wohnungen um sie herum vollzieht, ein alter Brauch, sagt Utas Vater, und ihre Mutter schüttelt nur leise den Kopf. Uta baut mit ihrem Vater über die Wochen bis Weihnachten den Berg mit seinen gestützten Stollen und dampfbetriebenen Hebevorrichtungen immer höher. Wieder und wieder holen sie dieselben kleinen Papierknäule aus seinem Inneren hervor, die das Holz während der Lagerung vor Feuchtigkeit schützen sollen. Vorsichtig schieben sie Holzwolle in die Hohlkörper des anwachsenden Bergs, die sie danach sorgsam verkleiden, kleine Löcher bohrt ihr Vater in die Bretter und stabilisiert Ebene um Ebene mit schmalen Rohren aus Metall. Dann legen sie gemeinsam einen Teppich aus Schnee und Gestein, genäht aus grobem Stoff, über das Gerüst, um der Landschaft einen anderen Anblick zu geben.

Mit zwei winzigen Figuren hat Uta ihre Sammlung begonnen, Bergwerksmännern mit von Kohle und Eisen verfärbten winzigen Bärten, die sie auf den Berg stellt, wenn sie sie nicht hertauscht oder handelt. Denn mit ihrem Vater geht Uta wie jedes Jahr von Haus zu Haus und betrachtet zunächst durch die Fenster, wie die Berge überall in den Stuben wachsen, wie die Männer aus ihren Kisten geholt und mit Werkzeugen und Instrumenten bewaffnet auf ihnen postiert werden. Lieblingsfiguren hat sie dabei, Gesichter, auf die sie das ganze Jahr sehnsüchtig wartet. Spielmannszüge gibt es, tapfere Mannschaften müder Bergarbeiter im Schatten ihrer Maschinen, kunstvoll verziert mit dem nie schmelzenden Schnee, bringen sie die Schätze des Bodens zum Vorschein. Unermüdlich, Jahr für Jahr, ohne Pause, ohne Hunger, ohne Durst glänzen die Männer in ihren Uniformen auf den stetig wachsenden Bergen, und Uta und ihr Vater machen sich einen Spaß daraus, Wertungen über die Berge der Nachbarschaft abzugeben und Entwicklungen zu verzeichnen, immer auch auf die Gefahr hin, das eigene Gebilde den wertenden Blicken der anderen zu überantworten, sich schwer nur schützend vor den eigenen Berg stellen zu können.

Dann aber kommt Weihnachten, und sie schauen tagelang, Abend für Abend, über Stunden auf den Berg, verlieren sich im neugebauten Fluss am Steilhang, im neuen Sägewerk, wo offenbar ein Unfall war. Aus der Küche stören einzig die Geräusche der Arbeit ihr Treiben in der Stube, fast verschüttet ist die Mutter in der Küche zwischen ihren Töpfen. Zwei Tage zuvor war es in Hof und Garten zu Jagdszenen gekommen, als die Männer aus der Nachbarschaft den Bestand der Gänse abzählten, diese mit Schlagwerkzeugen und Geräuschen zusammentrieben und dann in der Scheune verschwanden, verfolgt von den neugierigen Blicken von Uta und den übrigen Kindern. Schließlich hören sie nur die Väter in der Scheune geschäftig schnattern, während die Gänse nacheinander verstummen.

Irgendwann ist der Berg in der Stube wieder verschwunden, verrutscht und in seine Bestandteile zerlegt. Am Ende des langen Flures, wo dieser sich bedrohlich verengt, verstaut die Mutter die Einzelteile im großen Schrank, und Uta vergisst, wie tief ihre Stollen waren.

Im Frühling 1947 wurde sie geboren. Im Erzgebirge hatte es im Sommer 1946 nichts mehr zu essen gegeben, und die Mutter, zu diesem Zeitpunkt nur Mutter eines neunjährigen Sohnes, Bernd, der die Ehe von Heinz und Ingrid zierte, folgte ihrem Mann, nicht in die Kriegsgefangenschaft, aber in jenes Arbeitsverhältnis, das aus dieser gewachsen war. Anfang Juni erreichte sie mit Utas Bruder den Hof, wenige Kilometer von der Nordsee entfernt, auf auch im Sommer morastig weichen Straßen. Utas Vater Heinz hatte es zuvor geschafft, sich lange Zeit vor direkter Teilnahme am Krieg zu verstecken. Als gelernter Gerber fand er mal hier, mal dort Anstellung bei kriegswichtigen Betrieben, wobei die von Männern besetzten Stellen zusehends weniger wurden und die anfangs großspurig von ihm behauptete Produktion von Produktionsfehlern nach wie vor keine Unterstützung kannte. Vorher schon hatte sich, zu seinem Missfallen, eine Vielzahl jener, die die erste, zweite, dritte und alle anderen Wellen der Verhaftungen und des Verschwindens überstanden hatten, dazu entschieden, wenn nicht sich die doppelte Rune anzustecken, dann zumindest im grünen Overall gen Westen zu marschieren. Seit zwei Jahren war da bereits Krieg. Heinz hatte die Auseinandersetzungen, die darüber geführt worden waren, lange aber schon nicht mehr stattfanden, noch im Ohr, die Gesichter noch vor Augen. Die ehemaligen Genossen, wenn sie nicht Briefe von der Front schrieben, hatten sich rechtzeitig hochgedient und machten bei seiner erneuten Verhaftung vorerst eine Ausnahme. Die letzte Sitzung der Ortsgruppe ihrer Partei hatte im Mai 1933 stattgefunden, im Hinterzimmer der Gaststätte Zur Post, konfrontiert mit der Tatsache, dass einzig noch zwei Genossen vorhanden waren. Wortlos waren sie wieder auseinandergegangen. Utas Vater hatte diesem Treffen schon nicht mehr beiwohnen können, war er doch, wie bis auf die zwei alle übrigen im Ort Verbliebenen seiner Gesinnung, am 21. April 1933 auf Viehkarren verfrachtet worden. Ebenfalls wortlos, aber zum Singen gebracht, rollten sie dann ohne Verdeck die Auerbacherstraße hinab die sechzehn Kilometer bis nach Zschorlau, unter den neugierigen Blicken der Nachbarschaft, von manchen darunter wohlwollend als Osterprozession missverstanden. Das Volk jubelte dieser Selbstreinigung zu. In Zschorlau hatte vorausschauenderweise die Firma August Wellner und Söhne AG zwei Fabrikhallen leergeräumt, um den jetzt ankommenden 207 Herren Unterkunft bieten zu können. Die Hallen waren blank, weniger gefegt als voller Splitter und zurückgebliebener öliger Spuren der früheren Maschinen, welche ihre Hosen und Oberhemden nun aufsogen, sich tränkten, sie unfreiwillig in die Nähe der Maschinen brachten. Morgen für Morgen wurden die Verschleppten zum neuen Ort der Maschinen gezogen, anfänglich unkoordiniert, dann immer reibungsloser liefen sie die sechs Kilometer in den nächsten Ort, wo sie den Walzen und Stanzen zugeordnet wurden. Heinz roch nicht mehr das im Ofen erhitzte Argentan, hatten sie ihm doch bereits vorher schon das Nasenbein zu Splittern verarbeitet, er sah aber, wie einzelne Finger, Zehen und Füße im Glanz des entstehenden Neusilbers erstrahlten. Die Leute starben jetzt auch von außen. Die Wachmannschaften brauchten keine lange Einweisung, junge, wissbegierige Kerle, die intuitiv die sich ihnen bietenden Möglichkeiten erfassten, wilde Typen, die noch kaum ein Auge darauf hatten, welch große Karriere ihnen bevorstand. Hatten sie nur eine Ahnung gehabt, kam es hier zu einer zunehmenden Professionalisierung, nicht wenige, die hier ihr Wissen erlernten, sollten es später unweit von Ettersburg weitergeben. Buchenwald war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr als ein Vorort von Goethes Weimar. Hier aber, im Erzgebirge, in der Albenauer Straße 2, gab es keine Jahreszeiten, und es war ihr Glück, dass Buchenwald noch fern war. Schließlich hatten die Wachmannschaften ausgelernt und verfrachteten die Überreste der früheren 207 Häftlinge nach Zwickau. Heinz aber kam dort nicht an, blieb auf der Strecke, dem Zufall entsprungen, gelang ihm bei offenem Verdeck die Flucht. Siebenundzwanzig Jahre ist er, 83 Tage älter als zuvor, als er wieder im Dorf vor seiner Wohnung auf der Straße steht. Ingrid, als Angestellte ihres Vaters unter dessen Obhut als Schneiderin in dessen Betrieb mit dem Einkanten von Decken befasst, nimmt ihn wieder bei sich auf und pflegt ihn drei Monate. Danach heiraten sie, und sie wird ihre gemeinsame Ehe ab diesem Moment ihre Pflichten nennen. Sechzehn Jahre später wird Uta geboren.

In Eibenstock, Richtung Süden, hatten sich Ingrid und Heinz das erste Mal getroffen. Sie, fünf Jahre jünger als er, des Lesens und Schreibens in der Schule müde, folgte dem Rat ihrer Mutter und hielt Ausschau nach einem Mann,...

Erscheint lt. Verlag 21.10.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alter • Diktatur • Gegenwart • Jürgen Ponto-Preis 2024 • Kapitalismus • Liebe • Opfer • prekär • Prostituierte • Sebald • Sexarbeit • Stasi • Täter
ISBN-10 3-446-28098-7 / 3446280987
ISBN-13 978-3-446-28098-4 / 9783446280984
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,7 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
CHF 20,50