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Die Lungenschwimmprobe (eBook)

Verteidigung einer jungen Frau, die des Kindsmords bezichtigt wurde - Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
704 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-32379-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Lungenschwimmprobe -  Tore Renberg
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Leipzig/Sachsen, im Jahre 1681: die fünfzehnjährige Anna Voigt steht vor Gericht, sie soll ihr neugeborenes Baby getötet haben. Die Obrigkeit will sie verurteilt sehen, es droht ihr der Tod - wie vielen anderen Mädchen und Frauen in dieser Zeit, die des gleichen Verbrechens bezichtigt werden. Aber dieser Fall ist anders: Sie hat nicht nur einen mächtigen Vater, der sich für sie einsetzt. Sondern es findet sich auch ein Arzt, der etwas spektakulär Neues wagt und ein wissenschaftliches Verfahren entwickelt, das in die Medizingeschichte als 'Lungenschwimmprobe' eingehen wird. Durch dieses soll nachgewiesen werden, dass es tatsächlich eine Totgeburt war, wie Anna hartnäckig versichert, und kein Mord. Kann sie gerettet werden?

In Renbergs brillantem historischen Roman folgen wir dieser Geschichte durch die Augen verschiedener, unverwechselbarer, historisch belegter Charaktere - da ist der Arzt, der sich der Wissenschaft verpflichtet fühlt und das Neugeborene untersucht; da ist der kontroverse und progressive Anwalt, der sich entscheidet, diesen nahezu aussichtslosen Fall zu übernehmen; und da ist Annas Vater, ein wohlhabender, einflußreicher Mann, der sich sofort auf die Seite seiner jungen Tochter schlägt und alles daran setzt, damit ihr Gerechtigkeit widerfährt, dessen Hass auf ihre Widersacher so groß ist, dass er sich schon bald auf einen unerbittlichen Rachefeldzug begibt. Demgegenüber stehen die Köchin aus seinem Haushalt, die gegen Anna aussagt - und vor allem der erbarmungslose Ankläger, der das Mädchen durch grausame Folter zum Geständnis bringen will. Inmitten all dessen befindet sich die blutjunge Anna, verzweifelt und verängstigt, aber standhaft in ihrem Beharren darauf, unschuldig zu sein.

Die Lungenschwimmprobe ist ein packender historischer Roman über das Zusammenprallen zweier Welten: die Ausläufer des Mittelalters treffen auf die ersten Ansätze der frühen Aufklärung, dies alles vor dem dramatischen Hintergrund einer barocken Lebenswelt - basierend auf wahren Begebenheiten, die der Autor akribisch recherchiert hat, die Lungenschwimmprobe selbst gilt als Beginn der modernen Rechtsmedizin.

Tore Renberg (geb. 1972) nimmt in der norwegischen Literatur einen außergewöhnlichen Platz ein, da sein literarisches Werk eine große Spannbreite umfasst. Er ist einer von Norwegens populärsten und erfolgreichsten Autoren, vielfach preisgekrönt, seine Bücher erscheinen in 23 Ländern. Die Lungenschwimmprobe ist sein erster historischer Roman, für den er vor Ort in Leipzig akribisch recherchiert hat.

DAS ERSTE KAPITEL


Doktor JOHANNES SCHREYER wird an seinem freien Tag gestört, hält einen Vortrag zur Lage der Dinge und wird zu einer Leichenbeschau gerufen, am 9. und 10. Oktober 1681.

Dunkles Dämmerlicht erhellte den Himmel, als Schreyer sich auf den Weg zur berühmten Herbstmesse in der großen Messestadt machte, so viel wissen wir. Bekleidet mit einem Mantel und in guten Stiefeln vom besten Schuster der Stadt Zeitz saß er bester Dinge in der rumpelnden Postkutsche, voller Vorfreude auf das, was vor ihm lag.

Für Johannes Schreyer war das Leben einfach.

Es ging um Wissen. Es ging darum, seine Zeit nicht mit Kindereien und unnützem Kram zu vergeuden, sondern den Tag zu nutzen, um begierig und friedlich so viel Wissen aufzusaugen, wie ein Mensch nur aufzunehmen vermochte, ohne sich an der Suppenschüssel des Wissens zu verschlucken. In Folge dieses intellektuellen Eifers galt es in Johannes Schreyers Leben keine Sekunde zu vergeuden, und alles, was nur den Anschein einer Unterbrechung erweckte, erzeugte in ihm ein ungutes Gefühl von Zeitverschwendung.

»Doktor Schreyer! Seid Ihr’s? Wartet!«

Der hochangesehene Arzt – Stadtphysicus von Zeitz, wie der korrekte Titel lautete – war soeben nach einer gut einstündigen Reise vor dem Wirtshaus des Städtchens Pegau aus der Kutsche gestiegen, um mit anzusehen, wie der Kutscher den Tieren Wasser gab, während er selbst mit Wasserlassen beschäftigt war. Er hatte die sieben oberen Dörfer entlang der Weißen Elster mit den stattlichen Gütern passiert und ärgerte sich über den Anblick des feisten Boten, der völlig außer Atem über den Platz gerannt kam, wild gestikulierend, als wollte er ein Puppenspiel aufführen.

»Herr Doktor Schreyer, seid Ihr’s, Herr Doktor Schreyer!«

Nun war es sein freier Sonntag, auf den er sich so lange gefreut hatte. Selbstverständlich hatte Schreyer den ersehnten Ausflug bis ins kleinste Detail geplant: Früh aufstehen. Sich schicklich kleiden. Sich von der Gemahlin verabschieden. Katharina auf die Stirn küssen. Und dann: Sich auf den Weg machen. Von Zeitz im Süden nach Leipzig im Norden. Durch das sächsische Tiefland. Unterwegs einen Halt einlegen. Im lieblichen Pegau, wo, wie er wusste, das Bier gut war und die Wirtshäuser ordentlich. Anschließend weiterreisen. Rechtzeitig in der Großstadt eintreffen. In seiner Lieblingsherberge Zum Güldenen Arm in der Petersstraße absteigen. Sich ein vorzügliches Abendessen gönnen und dabei in der Abhandlung lesen, die er in der Reisetasche bei sich trug. Seinem guten Freund Frank Grundtner – einem holländischen Apotheker und Bücherliebhaber mit ausgeprägtem Interesse für Astronomie – einen kurzen Besuch abstatten. Besonders wichtig: den Besuch kurz halten, um früh schlafen zu gehen.

Ziel des Ganzen: Am nächsten Tag in bester Verfassung aufzustehen. Um zur Herbstmesse zu gehen. Gleditschs Buchhandlung aufzusuchen.

Regale über Regale mit Büchern.

Der Himmel auf Erden.

Darauf hatte Schreyer sich auf seine ernste und gewichtige Art gefreut – wo er doch sonst so unter Druck stand. Schlimm genug, dass ihm wenig Zeit für die Dinge blieb, die er am meisten mochte, studieren, lesen, in seiner großen Bibliothek sitzen und sich seine eigenen Gedanken machen. Schlimm genug, ständig an der Bettkante nierenkranker Pfarrersfrauen sitzen zu müssen, die die Hand des Doktors ergriffen und Oh, Herr Doktor, ich mache mir solche Sorgen sagten oder einem gichtgeplagten Kaufmann zuhören zu müssen, der mit der Faust auf den Holztisch haute, dass Tassen und Teller nur so schepperten, und klagte, Sie müssen mir etwas Stärkeres geben, Herr Doktor, oder den Sohn des Prokurators zu betrachten, sein Gesicht voll eitriger Pusteln, und zu wissen, dass man hier bloß noch den Sarg bestellen konnte. Diese wöchentlichen Arztvisiten in den höheren Gesellschaftsschichten langweilten ihn nicht nur – er war der Ansicht, sie sollten von weniger angesehenen Ärzten übernommen werden, als er einer war –, sie standen auch im krassen Gegensatz zu der Sehnsucht, die ihn zu jeder Stunde des Tages begleitete: der Sehnsucht nach Wissen.

Gab es eine edlere Sucht?

Nein.

Sollte er sich nun obendrein von einem keuchenden Dickwanst jagen lassen, an diesem seinem so exakt durchgeplanten freien Sonntag?

Johannes Schreyer war verrückt nach der Welt der Bücher. Er liebte den Anblick der Buchstaben auf einer Buchseite, wie sie sich so sinnlich süß zueinander gesellten, wie sie nachgerade kopulierten, um die Brut des Wissens zu erzeugen, und er genoss die erotische Freude, die in ihm zu brodeln begann, wenn er in diese wogende Landschaft eintauchte. Dies war auch der Grund, weshalb Helena Regina oft, wenn sie in einem der besseren Häuser in Zeitz zu Gast waren, sagte: Ach, mein Mann ist so verliebt in Bücher.

Worauf Schreyer meist etwas verschnupft parierte: Es geht um das Wissen, meine liebe Frau – würden wir Menschen es nicht so sehr lieben, wo wären wir dann? Zurück in der Barbarei, zurück im Krieg, zurück im Elend!

Darüber dachte Schreyer oft nach.

Über das Wesen des Wissens.

An manchen Tagen konnte ihn ein Gefühl großer Freude überkommen, so als hätte er einen unbekannten Gral entdeckt, oder aber als hätte Johannes Schreyer aus Zeitz gefunden, wonach die Menschheit seit Jahrhunderten trachtete und was vor ihm noch niemand erkannt hatte: den Weg zum Frieden.

Wissen!

Natürlich wusste er, dass es so nicht war. Schon vor ihm hatten Menschen Bücher gelesen, ohne dass dies zum Frieden in der Welt geführt hätte.

Dennoch!

Es ließ ihn nicht los.

Schreyer betrachtete sich selbst als eine Figur auf dem Schachbrett der Nachkriegszeit. Eine unscheinbare Figur zwar, aber dennoch von unschätzbarem Wert. Ein Mann von liebenswürdigem Wesen, standhaft und auf Frieden bedacht, ein Hüter des Wissens und der Wissenschaft. Dass er infolge derselben Standhaftigkeit zugleich etwas reizbar und streitsüchtig sein konnte, war ihm nur in Teilen bewusst. Und abgesehen davon, nicht nur er hatte eine kämpferische Natur: Man kreuzte gerne die Klingen in dieser Zeit.

»Herr Doktor Schreyer!«

Der beleibte Bote blieb stehen, stützte sich mit den Händen auf den Oberschenkeln ab und rang nach Luft.

»Mein Herr«, sagte er, »ich habe in Zeitz nach Euch gefragt, habe Euch den ganzen Vormittag gesucht … Herr Schreyer, seid Ihr’s?«

Johannes Schreyer ignorierte den Mann und tat so, als bräche er auf. Neunundvierzig Jahre alt war er zu diesem Zeitpunkt, und ja, in nur dreizehn Tagen würde er fünfzig werden – und wie sah er, nebenbei bemerkt, aus? Er war von mittelgroßer Statur, mit fliehendem Kinn, dafür mit vornehmer Lippenpartie, und die Haut bewegte sich leicht beim Gehen. Nicht, dass der berühmte Arzt aus Zeitz dickleibig gewesen wäre, etwas füllig wirkte er vielleicht.

»Mein Herr … Ich bitte Euch, geht nicht, seid Ihr’s …«

»Guter Mann«, sagte Schreyer und stampfte auf den Boden, dass sich um seine Stiefel eine Staubwolke bildete. »Es reicht. Hört Ihr? Ich habe Zeitz heute Morgen um fünf Uhr verlassen. Habe mein Haus in der Kalck-Gasse verlassen, wo ich mit meiner Gemahlin Helena Regina Schreyer, geborene Lossius, wohne, der Tochter des schwedischen Generalproviantmeisters, und mit meiner reizenden Tochter Katharina, die wunderhübsch singen kann und sich schon lange darauf freut, dass ich ihr von dieser Reise eine Puppe mitbringe, eine Puppe vom Leipziger Markt!« Schreyer zeigte nach links oben, als stünde er in seiner Heimatstadt: »Dort oben, auf der Zeitzer Höhe, mit Blick auf Schloss Moritzburg, die schöne Weiße Elster und die herrlichen Gärten der herzoglichen Residenz – dort wohne ich. Dort habe ich meine Praxis, meine Frau, meine begabte Tochter, dort habe ich meine umfangreiche Bibliothek. Und tagein, tagaus, mein Herr, behelligen mich dort Menschen! Und Ihr seid wohl einer davon?!«

Schreyer hob den Zeigefinger und tippte auf die Brust des Mannes.

»Endlich, habe ich vorhin, als die Postkutsche kam, zur Frau Schreyerin gesagt, endlich kann ich nach Leipzig fahren, ohne mich um die Bogenschützen des Todes zu scheren! Ein gutes Jahr lang waren wir wie gelähmt, vollständig gelähmt von der widerwärtigen Pest! Schwarze giftige Flecken auf menschlichen Körpern. Habt Ihr welche aus nächster Nähe gesehen?«

Der Bote schluckte und schüttelte den Kopf.

»Nun, aber ich«, brach es aus Schreyer heraus, »während ich meinem Beruf nachging! Soll ich Euch die Bilder toter kleiner Kinder vor Augen führen? Hm? Ich habe mit weinenden Vätern zusammengesessen und ihrem verzweifelten Wehklagen gelauscht. Ich habe die trauernden Mütter vor Augen gehabt. Sie hatten alle Hoffnung und alle Freude auf dieser Welt verloren, sehnten sich nur noch danach, ihren Kindern in den seligen Tod zu folgen, ihr beschwerliches Leben hatte jeglichen Sinn eingebüßt! Infizierte Häuser, verbarrikadierte Häuser, Menschen, die vierzig Tage in Quarantäne verbringen mussten, eingesperrt im Haus, deren Hab und Gut auf Karren geworfen, aus der Stadt gebracht und verbrannt wurde! Rollende Pesttransporte auf Kopfsteinpflaster und schlammigen Seitengassen, Pestkutschen und Pestsänften auf dem Weg zu Hospitälern und Friedhöfen, und wieder zurück! Ja? Und die Kaufleute, die Krämer, die Markthändler – was ist aus ihnen geworden? Hm?«

»Ich … ich …«

Schreyer ließ den Mann...

Erscheint lt. Verlag 23.10.2024
Übersetzer Ina Kronenberger, Karoline Hippe
Sprache deutsch
Original-Titel Lungeflyteprøven
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2024 • anna voigt • Aufklärung • Barock • Christian Thomasius • eBooks • Historische Romane • Historischer Roman • johannes schreyer • Kindsmord • Leipzig • Neuerscheinung • Roman • Romane • Weiße Elster • Zeitz
ISBN-10 3-641-32379-7 / 3641323797
ISBN-13 978-3-641-32379-0 / 9783641323790
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