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America Fantastica (eBook)

Roman | Beißend komische Satire | »Durchdringend und messerscharf.« Haruki Murakami | »Der beste amerikanische Autor seiner Generation.« San Francisco Examiner

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
528 Seiten
HarperCollins eBook (Verlag)
978-3-7499-0771-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

America Fantastica - Tim O'Brien
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Einst Star-Journalist, lässt den in Ungnade gefallenen Boyd Halverson seine Vergangenheit einfach nicht los, während ihn die Gegenwart zermürbt. Also beschließt er eines Tages die lokale Bank auszurauben, eine Geisel zu nehmen und abzuhauen, um eine Rechnung zu begleichen - mit dem Mann, dem er die Schuld an seinem verpfuschten Leben gibt. Doch das gestohlene Geld übersteigt nicht mal Boyds eigene Rücklagen und Angie Bing, die Bankangestellte, mit der er immer ganz gerne geflirtet hat, stellt sich als ganz schön aufmüpfige Geisel heraus. Für die beiden beginnt ein Roadtrip in die Untiefen einer von Scham und Betrug zerfressenen Nation - mit einigen gefährlichen Verfolgern auf den Fersen. Nur die Polizei scheint sich nicht für Boyd und Angie zu interessieren ...

»Durchdringend und messerscharf.« HARUKI MURAKAMI



<p>Tim O'Brien erhielt 1979 den National Book Award für »Die Verfolgung«. Zu seinen weiteren Büchern gehören »Was sie trugen«, Pulitzer-Finalist und ein <em>New York Times Book of the Century</em>, und »Geheimnisse und Lügen«, Gewinner des James Fenimore Cooper Prize. Im Jahr 2013 wurde er mit dem Pritzker-Literaturpreis für sein Lebenswerk in der Militärliteratur ausgezeichnet.</p>

4


»Was ist das hier?«, fragte Angie, als Boyd mit einem rostigen Schlüssel in der Haustür stocherte. Er rüttelte kurz, stieß die Tür mit dem Knie auf und sagte: »Eine Drecksbude. Aber sie gehört mir.«

Boyd hatte dankbar zur Kenntnis genommen, dass vor dem Haus keine Polizeiwagen standen. Trotzdem spürte er, wie die Uhr tickte. Er war erschöpft und überspannt. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er die Martinshörner hören würde, oder was man sonst so hörte, wenn man mit einundachtzigtausend geklauten Dollar auf der Flucht war. Die Spritztour nach Mexiko hatte ihm ein paar Tage, vielleicht eine Woche geschenkt, aber ein kurzer Blick in die Akten würde ihn mit diesem bescheidenen, wenn auch inzwischen sehr teuren Bungalow abseits des Ocean Park Boulevard in Verbindung bringen.

Das Haus hatte leer gestanden, seit seine Mutter vor beinahe zwei Monaten gestorben war. Im Vorgarten steckte einsam ein Zu-verkaufen-Schild, es wirkte in dem hohen Unkraut beinahe verloren, Namen und Telefonnummer des Maklers waren nicht mehr zu erkennen. Strom und Wasser waren nicht abgestellt, um mögliche Käufer nicht zu verschrecken, aber eigentlich war es das Grundstück, nicht das heruntergekommene alte Haus, das eines Tages für einen warmen Geldregen sorgen könnte. Boyd wusste aber auch, dass Kapitalerträge zu diesem Zeitpunkt nicht mehr relevant sein würden.

Er schob die Fenster auf, schaltete den Deckenventilator ein und betrachtete die unschicke Möbellandschaft, in der er aufgewachsen war. Dreißig Jahre alte Essensgerüche drangen ihm in die Nase, auf dem Küchenboden verstreut lagen rücklings einige tote Wasserwanzen. Es war dieses Haus, dachte Boyd, dieses Umfeld, aus dem der ehrgeizige Junior einst seinen jugendlichen Ausbruch oder, großzügiger formuliert, Aufstieg organisiert hatte, einen sich selbst und anderen gegenüber rücksichtslosen Kampf, mit dem er sich von Kunstfurnier und Plastiktischdecken befreit hatte. Arme Mom, armer Pop, dachte er. Armer, schneidiger Junior.

»Na ja«, sagte Angie.

»Ich weiß«, sagte Boyd. »Schön ist was anderes.«

Angie stellte ihren Koffer ab und ließ sich abgekämpft in einen staubigen Sessel fallen – denselben Sessel, in dem Juniors Vater einst bis in die Nacht hinein seine Selbsthilfebücher gelesen hatte.

»Mach noch mehr Fenster auf«, sagte Angie. »Meine Güte, hier riecht es nach … ich weiß nicht … verbrannten Würstchen oder ranzigem Speiseöl oder so.« Sie streifte sich die neuen Sandalen von den Füßen. »Andererseits – versuch mal, sechzehn Jahre in einem Camper zu wohnen. Dann wirst du dich über diese Hütte nicht beklagen. Wir lüften richtig durch und schrubben alles ordentlich, dann wird’s schon gehen.«

Boyd zuckte mit den Schultern. »Wir bleiben hier nicht lange. Ein, zwei Tage nur. Kommt drauf an.«

»Kommt worauf an?«

»Ich muss ein paar Leute ausfindig machen.«

»Und dann?«

»Weiß nicht«, gestand Boyd.

»Ah ja, fast hätte ich vergessen, wie gern du alles im Voraus planst.« Angie schnaubte abfällig und schloss die Augen. Sie trug ein schwarzes Unterhemd, Er kehrt zurück stand in kitschiger Silberschrift auf ihrer Brust. Die Haare hatte sie zu zwei Zöpfen geflochten. »Na ja, was auch immer du vorhast, es verheißt bestimmt nichts Gutes.«

»Stimmt.«

»Und? Willst du es mir nicht erklären?«

Vor seinem geistigen Auge blitzte eine Liste von Erklärungen auf, zusammen mit dem verstörenden Bild von Jim Dooneys blauem, grinsendem Blick. Ihm war klar, dass ein Erklärungsversuch sie nur verwirren würde.

»Du hast recht«, sagte er. »Wir sollten hier ein bisschen sauber machen.«

»Geht’s dir gut, Boyd?«

»Ja, ja.«

»Du siehst aber nicht gut aus. Du siehst aus wie jemand, der gleich Rosenkohl essen soll.«

Er wandte sich ab, sein Blick glitt über den Flur in das winzige Kinderzimmer, das er vierzehn Jahre lang mit seiner Schwester geteilt hatte. Wie unnötig, das alles, dachte er.

Achtzehn Stunden im Greyhound. Er war mit den Nerven am Ende.

»Dafür, dass ich so einen Scheiß gebaut habe, geht’s mir richtig gut«, sagte er.

»Du solltest dich ein bisschen hinlegen.«

»Ja, das sollte ich.«

»Solltest du wirklich. Sonst fängst du noch an, Menschen zu zerstückeln.« Sie nahm seinen Arm und führte ihn in ein Schlafzimmer. »Und hör auf mit den schmutzigen Wörtern, Boyd. Ich mag das gar nicht.«

Es gelang ihm, ein bisschen zu schlafen, auch wenn der Schlaf nervös und flimmrig war, so als würde jeden Augenblick jemand an die Tür klopfen. Er stand auf, nahm sein Handy und wählte Evelyns Nummer in Bel Air. Niemand antwortete, und er hinterließ eine kurze Nachricht: Bank überfallen, war in Mexiko, muss mit dir reden, wo ist Dooney?

Er duschte, rasierte sich und begann, das Haus durchzuwischen.

Angie schlief noch.

Später stand sie, sichtbar erholt, mit einer Flasche Sprudel da und sah ihm zu. Sie redete, erzählte aus ihrem Leben, was immer ihr gerade in den Sinn kam. Er hatte das Gefühl, dass sie ihn seit zwei Wochen ununterbrochen volllaberte, beinahe, als hätte sie nicht ein einziges Mal Luft geholt.

Während Boyd ein Haarbüschel seiner Mutter aus dem Waschbeckenabfluss zupfte, erzählte Angie, wie sie im östlichen Teil von Sacramento in einer Pfingstgemeinde aufgewachsen war. Wie sie viermal in der Woche abends in die Kirche musste, dass es sie aber, das ließ sich nicht leugnen, zu dem anständigen und moralischen Menschen gemacht hatte, der sie nun war. Sie erzählte von ihrem vierten Kuss. Sie erzählte, was es bedeutete, so zierlich zu sein, wie schwer es war, passende Kleidung zu finden, wie sie sich auf den Kopf stellen musste, um respektiert zu werden. Sie sprach über ihre Schwester Ruth, die als Kosmetikvertreterin von Tür zu Tür ging, und die davor als Gehilfin eines Hufschmieds beim Rodeo gearbeitet hatte, worüber Angie ihren derzeitigen Freund kennengelernt hatte, Randy, einen Elektriker, der selbst eine Zeit lang Rodeo geritten hatte, zumindest wenn er nicht gerade dabei war, in Häuser einzubrechen oder Autos zu klauen.

»Vielleicht ziehe ich diese Sorte an, diese kriminellen Elemente«, sagte Angie resigniert und belustigt zugleich, als wäre sie stolz darauf. »Wenigstens ist er eins neunzig groß und überhaupt nicht fett oder langweilig oder alt oder sonst was. Wie groß bist du eigentlich?«

»Eins achtzig«, antwortete Boyd. »Und dick bin ich auch nicht.«

»Klar«, sagte sie. »Und ich bin auch nicht Angie Bing, Entführungsopfer. Wie auch immer. Wer hat denn gesagt, dass ich über dich rede? Es ging um mich selbst, glaube ich.«

»Zweifellos«, sagte Boyd.

Er drehte sich um, öffnete seinen Koffer, zog ein sauberes Hemd an und band sich eine Krawatte.

Angie schien es gar nicht zu bemerken.

Sie quasselte immer weiter, wie sie sich in der Ausbildungszeit mit Kellnern über Wasser gehalten hatte, dass Impfungen Satanswerk waren, dass ihr Chef in der Bank Schwierigkeiten hatte, schriftlich zu dividieren, und dass Randy eines Nachmittags, als er wegen irgendetwas wütend war, den HP Jet Pro Drucker von jemandem aus der Wohnung geschleppt und in den Swimmingpool geschmissen hatte, und den Gefrierschrank dann auch noch.

Die Stimmbänder dieser Frau müssen aus Titan sein, schloss Boyd, aus Raumfahrtmaterial.

Angie sah ihn scharf an und sagte: »Titan?«

»Hab nur laut nachgedacht«, sagte Boyd. »Dein Elektriker klingt nach einem Klassetyp.«

Angie runzelte die Stirn. »Und was hat das mit Titan zu tun?«

»Keine Ahnung«, antwortete Boyd.

»Jetzt hör zu. Wenn das Kritik war, dann ist es mir egal, weil Randy ist echt verliebt in mich, so richtig. Wir sind verlobt. Und er ist einunddreißig. Wie alt bist du noch mal?«

»Neunundvierzig.«

»Wie kommst du also darauf, dass du seinen Platz einnehmen könntest?«

»Das tue ich nicht.«

»Wenn du meinst.«

»Ja, meine ich.«

»Du sagst nur, dass du es meinst.«

Boyd pochten die Schläfen. Er ging in die Küche, fand eine Flasche von dem Lieblingswodka seiner Mutter und suchte ein sauberes Glas. Er gab auf und nahm einen großen Schluck aus der Flasche. Dann rückte er die Krawatte zurecht und sah auf die Uhr.

»Zu allem anderen«, sagte Angie gerade, »solltest du vielleicht noch wissen, dass Randy unfassbar wütend werden kann. Einmal, in einer Bar, habe ich zugesehen, wie er einem Typen eine Zigarre ins Ohr gerammt hat, eine brennende Zigarre, wumms, einfach so, dabei hat der noch nicht mal mit mir geflirtet. Also kaum.« Sie zuckte ein paarmal amüsiert mit den Augenbrauen. »Wie auch immer, ich wette einundachtzigtausend Dollar, dass ihm diese Geiselsache richtig heftig gegen den Strich geht. Nach Mexiko durchbrennen, Schmuck für mich kaufen, im selben Bett schlafen und wer weiß was sonst noch alles.«

»Da war sonst nichts, Angie.«

»Stimmt schon. Aber erklär das mal Randy.«

»Wie soll er es denn je herausfinden?«

»Also, weiß nicht. Ich meine, er kann ja lesen.«

Boyd sah sie an. »Was? Was soll er lesen?«

»Der liest alles. Kataloge, Comic. Er ist nicht blöd, Boyd, weißt du. Erinnerst du dich an die Postkarten in dem Hotel in Santa Rosalía, an der Rezeption?«

»Du hast ihm eine Postkarte geschickt?«

»Na ja. Er ist schließlich mein Verlobter.«

Boyd setzte noch einmal die...

Erscheint lt. Verlag 22.10.2024
Übersetzer Gregor Hens
Sprache deutsch
Original-Titel America Fantastica
Themenwelt Literatur Comic / Humor / Manga
Literatur Krimi / Thriller / Horror
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte American gangster • Bankraub • Banküberfall • Desinformation • Flucht • Geiselnahme • Gesellschaftskritik • Gesellschaftssatire • Hitman • Lügner • Roadtrip USA • Satire • Tim O'Brien • Troll • USA Gesellschaft • US-amerikanische Literatur • Verteran
ISBN-10 3-7499-0771-4 / 3749907714
ISBN-13 978-3-7499-0771-7 / 9783749907717
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