Erbgut. Was von meiner Mutter bleibt (eBook)
224 Seiten
Harpercollins (Verlag)
978-3-7499-0758-8 (ISBN)
Platz 6 Sachbuch-Bestenliste November von'Die Literarische Welt', Radiosender WDR 5, 'Neue Zürcher Zeitung' sowie Ö1
Der Versuch einer Tochter, am Erbe der Mutter nicht zu ersticken
Als Marlen Hobrack sich daranmacht, den Nachlass ihrer Mutter zu bewältigen, winkt ihr kein Einfamilienhäuschen, keine hübsche Altbauwohnung. Sondern ein Berg von Schulden und Dingen, die am Lebensende einer Arbeiterin bleiben: Steppdecken, Vitaminpräparate, Putzmittel, Fotos. Wie in Chiffren hat sich ihre Mutter in sie eingeschrieben.
Analytisch und radikal ehrlich legt Marlen Hobrack die Tiefenschichten ihrer Mutter frei - auch in sich selbst - und stellt gesellschaftliche Fragen, die uns alle betreffen: Was verraten die Dinge, die Menschen horten, über das, was sie im Leben wirklich brauchen? Bewältigen Frauen ihre Traumata durch Konsumsucht? Wie schreibt sich das Trauma unserer Eltern durch ein Erbe in uns fort?
Dieses Buch ist ein doppelter Verrat. Ein Verrat an der Ikone der Mutter und an den Ikonen der Konsumgüter, die uns ein Leben lang begleiten - um uns nach unserem Tod auf gemeinste Weise bloßzustellen.
'Es ist ein unverschämter Text, da die Scham uns hier nur von der Erkenntnis an uns selbst abhalten würde. Unverschämt ist dieser Text, nicht, weil er schamlos agiert, sondern die eigene Scham darstellt, mutig einen Raum einnehmen lässt. Eine Verbeugung vor diesem Buch.'
Martin Piekar, Lyriker und Robert-Gernhardt-Preisträger 2024
<p>MARLEN HOBRACK, geboren 1986 in Bautzen, studierte Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaften und arbeitete im Anschluss für eine Unternehmensberatung. Seit 2016 schreibt sie hauptberuflich für diverse Zeitungen und Magazine, u.a. für <i>der Freitag</i>, <i>Die Zeit</i>, <i>Die Welt</i> und das Kunstmagazin <i>Monopol</i>. 2023 erschien ihr Debütroman »Schrödingers Grrrl« im Berliner Verbrecher Verlag. Marlen Hobrack lebt und schreibt in Leipzig.</p>
DIE ARCHÄOLOGIE DES HORTES
So wie die Psychologie unterschiedliche Erklärungsansätze für das Phänomen des Hortens liefert, so will auch ich Erklärungen durchspielen. Auch eine umfassende Hermeneutik ihres Hortes mag das Verhalten meiner Mutter nicht restlos erklären können. Doch ihre Biografie macht vieles verständlich. Wer wie sie als Kind materielle Armut erlebte, neigt naturgemäß dazu, sich materiell auszustatten und für schlechte Zeiten vorzusorgen. Dinge zu kaufen und zu verschenken war immer schon Teil ihres Mutterseins, sie wollte keines unserer materiellen Bedürfnisse unerfüllt lassen. Ihr Problem war eher, zwischen unseren Wünschen und unseren Bedürfnissen zu unterscheiden. Zu oft verwechselte sie jede impulsive Bitte ihrer Kinder mit einer drängenden Notwendigkeit. Doch wie hätte sie die Unterscheidung treffen können, wo man ihr als Kind doch weder Bedürfnisse noch Wünsche erfüllt hatte? Weder das drängende, schmerzliche, basale wie fundamentale Bedürfnis nach Liebe und Fürsorge, Wärme und Geborgenheit. Noch die klitzekleinen materiellen Wünsche nach etwas Eigenem: einer eigenen Puppe, einem eigenen Kleid.
Das Horten und Sammeln als psychischer Akt: als Aneignen und Nicht-mehr-loslassen-Können.
Das Schreiben als eine Archäologie der Mutter. Schicht um Schicht freilegen und vordringen, zu ihrem Kern. Das Verborgene aufdecken und wiederfinden. Finden, was sie gebraucht hat, verstehen, was sie verdrängt hat.
Eine Archäologie, die den Tiefenschichten meiner Mutter nachforscht, nach ihren Beweggründen forscht und gräbt, noch bevor sie selbst begraben wurde. Ein Versuch, meine Mutter zu bewältigen.
Das Schreiben ist dem Horten nicht unähnlich. Man sammelt Ideen, Wörter, Geschichten. Man akkumuliert die Anekdoten der anderen, eignet sie sich an, vergräbt sie, holt sie wieder hervor. Man baut sich ein Haus, die eigenen Bücher werden zur Extension des eigenen Ichs, ganz so wie der Hort eine, wie ich glaube, Fortsetzung und Erweiterung des hortenden Subjekts ist. Und wohnt nicht beiden, den Büchern und den Horten, der grenzenlos narzisstische Wunsch inne, etwas, ein Teil des Selbst, möge den eigenen Tod überdauern und für die Nachwelt bestehen bleiben?
Immer schon war ich verwickelt und verwoben in die Geschichten, die meine Mutter mir wieder und wieder erzählte. Traumatische Szenen, die auf einer Analytikercouch hätten vorgebracht werden müssen, die sie stattdessen mit mir teilte, womit sie mich überforderte und in ihre Kindheitstraumata einhüllte, bis ich selbst das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen, unter ihrem Ballast zu ersticken. Nicht nur epigenetisch kann sich das Trauma fortschreiben; es kann reproduziert werden in der Erzählung, durch die Anteilnahme der anderen.
Ich bin mir nicht sicher, ob es etwas mit den Erzählungen meiner Mutter zu tun hat, aber Erzählungen über das Leid anderer betreffen mich physisch. Sie paralysieren mich. Zeitungs- und Buchtexte, die unerwartet explizit Gewalt an Kindern schildern, lassen mich nicht mehr los. Die Szenen, die Bilder und Geschichten verfolgen mich über Wochen und Monate. Sie bewirken obsessive Gedanken, eine Verpflichtung zum Mitleid und das Gefühl, verfolgt zu werden. Es sind die Geschichten und Gefühle meiner Mutter, die mich verfolgen.
Meine Mutter sagte einmal zu mir, sie habe sich immer vorgestellt, ich würde als Erwachsene Anwältin werden, weil ich so ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden habe. Vermutlich bin ich deswegen nicht Juristin geworden. Weil es selbst der Justiz nicht immer gelingt, Gerechtigkeit herzustellen, und was wäre schlimmer als die Erkenntnis, dass keine Instanz wahrhafte Gerechtigkeit herstellen kann?
Dieses Buch kann meiner Mutter nicht gerecht werden. Es ist Ungerechtigkeit und doch mein gutes Recht.
*
Einen Tag nach dem Tod meiner Mutter treffen meine Geschwister und ich uns in der Wohnung meiner Mutter. Wir halten den Atem an, weil uns plötzlich bewusst wird, welche Aufgabe da vor uns steht. Als das Entsetzen über die Menge der Dinge in die Köpfe und Körper meiner Geschwister einsickert – ich glaube, sie zunächst erstarren, dann in sich zusammensacken zu sehen –, ist ihre nur folgerichtige Reaktion die Abwehr.
»Vielleicht sollten wir einen Entrümpelungsservice engagieren«, schlage ich vor. »Das kostet«, sagt meine Schwester.
Wir würden Geld dafür zahlen müssen, die Dinge, die meine Mutter für sehr viel Geld erstanden hatte, zu entsorgen. Ich habe die Illusion, dass solch ein Entrümpelungsunternehmen vorsichtig das Nützliche vom Unnützen trennen und die nützlichen Dinge einer Zweitverwertung zuführen würde. Später macht mir meine Schwiegermutter klar, dass sie die Sachen schlicht in einen Container werfen werden. Die Vorstellung ertrage ich nicht.
Unterdessen googelt mein Bruder, wie man ein Erbe ausschlägt. Er liest uns einen Artikel vor, den er auf einer juristischen Ratgeberseite aufgetan hat. Ich erinnere mich daran, wie ich als Studentin eines dieser Ratgeberlexika erstellt habe, ohne juristisches Wissen und gegen ein Honorar von 0,1 Cent pro Wort. Vermutlich kursiert es noch immer im Netz. Mein Bruder liest vor: Wer das Erbe ausschlagen will, darf der Wohnung keine Gegenstände entnehmen. Im Grunde müssten wir die Tür hinter uns schließen und gehen. Ich schaue mich kurz in der Wohnung um. Ich sehe Bilder meiner Söhne, gerahmt und gut sichtbar in den Schränken platziert. Sie waren Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke. Mein ältester Sohn ist zu einem guten Teil auch in dieser Wohnung aufgewachsen. Er und ich haben ja die meiste Zeit über in Wohnungen gelebt, die nicht weit von der meiner Mutter entfernt lagen. Diese Dinge sind auch meine Dinge. Ein materielles Erbe, das unser geteiltes Leben symbolisiert. Ich habe einen Teil der Möbel gekauft, als meine Mutter kein Geld besaß, nicht einmal für ein paar Pressspanmöbel aus einem Billigmöbelhaus, obwohl sie mehr als 40 Stunden pro Woche arbeitete. Die Badezimmermöbel, einen Teil der Wohnzimmereinrichtung. Wir haben erst vier Jahre vor ihrem Tod eine neue Küche eingebaut. Ich kann mich von diesen Dingen nicht trennen.
Das bin ich ihr schuldig, das sind wir ihr schuldig. Ihre Dinge, ihr Leben geordnet abzuwickeln, die Wohnung zu übergeben, an den Vermieter, von dem sie sich seit Jahren drangsaliert gefühlt hatte, weil er permanent die Miete erhöhte und sie in Rechtsstreitigkeiten verwickelte. Zuletzt hatte er ihrer Wohnung einen Balkon anbauen lassen. Sie hasste ihn; den Balkon, meine ich. Sie hatte ihn partout nicht haben wollen, weil er Dreck und Scherereien verursacht hatte und sie sicher war, dass er sie den Blicken der Nachbarn in den umgebenden Häusern aussetzen würde. Nicht zuletzt hatte sie fremde Menschen in ihre Wohnung lassen müssen.
Natürlich könnte ich nun den Wohnungsschlüssel in den Briefkasten werfen. Doch ich finde, dass ein Mensch mit Angehörigen, für die er sich aufopferte, es verdient, dass man sich nach seinem Tod der Hinterlassenschaften annimmt.
»Ich brauche nichts aus der Wohnung«, stellt mein Bruder fest, und meine Schwester pflichtet ihm bei. Damit ist die Sache für sie erledigt.
Noch ein Verrat.
Ich werfe einen Blick auf meinen erwachsenen Sohn. Er nickt mir zu. Ich weiß, dass er mir bei der Entrümpelung helfen wird. Er und ich gegen die Wohnung und die Last ihrer Hinterlassenschaften.
Trotzdem überkommt mich ein Unbehagen. Ich fühle mich so unwohl in der Wohnung, weil die Masse der Dinge ein konstantes Rauschen bildet, ein white noise, das immer und überall präsent ist. Invasiv wie ein Pilz, der sich ausbreitet; ein Rhizom der Dinge. Das Rhizom durchdringt auch mich. Wie kann man das erklären? Es ist ein Übergreifen, eine Überwältigung.
*
Als meine Geschwister die Wohnung verlassen haben, fällt mein Blick auf zwei kleine Beutel, die auf dem Flurschrank meiner Mutter liegen. Das Wort »Biohazard« steht in roten Lettern darauf geschrieben. Biologisches Risiko. Eine biologische Gefahr. Das beigefügte Formblatt aus dem Krankenhaus erklärt, was sich in den Beuteln verbirgt. Die letzten Dinge der Toten: eine Brille. Zwei Zahnprothesen. Mein Bruder hat sie aus dem Krankenhaus abgeholt.
Der Mensch sei Prothesengott, so heißt es bei Freud. Die Prothesen, die dem Menschen seine unzulänglichen organischen Fähigkeiten kompensieren, erheben ihn in einen gottgleichen Status. Sie kennzeichnen ein Kulturwesen, das biologische und physiologische Beschränkungen hinter sich lässt. Doch sogar Götter müssen sterben.
*
Horten.
horten (schwaches Verb)
Bedeutungen (2)
-
[wegen seiner Kostbarkeit, Knappheit] als Vorrat sammeln
-
für einen bestimmten Zweck sammeln
Synonyme: anhäufen, ansammeln, aufhäufen, aufspeichern 8
Herkunft von:
Hort, der (Substantiv)
Goldschatz
-
mittelhochdeutsch, althochdeutsch hort, eigentlich = Bedecktes, Verborgenes
-
Stätte, an der etwas in besonderem Maße praktiziert wird
Synonyme zu Hort: Bewahrung, Schonraum, Schutz, Schutzzone 9
Ist es nicht zauberhaft, wenn die Sprache immer schon weiß, was die Tiefenpsychologie erst mühsam aufdecken müsste? Dass der Hort nicht nur Verdecktes und Verborgenes ist, sondern ein Schutzraum?
Freies Assoziieren. Das ist ja die Methode der Psychoanalyse. Sagen, was...
Erscheint lt. Verlag | 24.9.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
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Schlagworte | Autobiografischer Roman • Autofiktion • autofiktionales Schreiben • Buch für Erben • Erbe antreten • Erben • erben buch • Erbgut • Erblast • Erbschaft • Erbschaft bewältigen • Kaufsucht • Klassismus • Konsum • Konsumsucht • Leipzig • Mutter • Mutter-Tochter-Beziehung • Ostdeutschland • Prekariat • Sammelwut • Schulden • schulden erben • Trauer • Unterschicht • Verlusterfahrung • Verwandtschaft • Wut auf Mutter |
ISBN-10 | 3-7499-0758-7 / 3749907587 |
ISBN-13 | 978-3-7499-0758-8 / 9783749907588 |
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