Ein Nachmittag im Mai (eBook)
288 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-02165-5 (ISBN)
Siân James (1930-2021), geboren als Siân Davis in Coed y Bryn im walisischen Ceredigion, war eine preisgekrönte Autorin, Übersetzerin und Dozentin für kreatives Schreiben. 1958 heiratete sie den walisischen Schauspieler Emrys James, mit dem sie vier Kinder bekam. Sie veröffentlichte zu Lebzeiten dreizehn Romane, zwei Sammlungen mit Kurzgeschichten und ein Memoir. Wiederkehrende Themen ihrer Bücher sind Ehen und Affären sowie die Beziehungen von Frauen untereinander, insbesondere zwischen Müttern und Töchtern, Schwiegermüttern und Schwiegertöchtern. Siân James liebte ihre walisische Heimat, Schauplatz vieler ihrer Romane, und engagierte sich ihr Leben lang für soziale Reformen, für Feminismus und Pazifismus. Die Neuausgabe ihres 1975 erschienen Romans One Afternoon (Ein Nachmittag im Mai) wurde 2023 von Persephone Books in England veröffentlicht. Ein warmherziger und feministischer Text, der uns in das Leben einer Alleinerziehenden in den frühen 1970ern führt.
Siân James (1930-2021), geboren als Siân Davis in Coed y Bryn im walisischen Ceredigion, war eine preisgekrönte Autorin, Übersetzerin und Dozentin für kreatives Schreiben. 1958 heiratete sie den walisischen Schauspieler Emrys James, mit dem sie vier Kinder bekam. Sie veröffentlichte zu Lebzeiten dreizehn Romane, zwei Sammlungen mit Kurzgeschichten und ein Memoir. Wiederkehrende Themen ihrer Bücher sind Ehen und Affären sowie die Beziehungen von Frauen untereinander, insbesondere zwischen Müttern und Töchtern, Schwiegermüttern und Schwiegertöchtern. Siân James liebte ihre walisische Heimat, Schauplatz vieler ihrer Romane, und engagierte sich ihr Leben lang für soziale Reformen, für Feminismus und Pazifismus. Die Neuausgabe ihres 1975 erschienen Romans One Afternoon (Ein Nachmittag im Mai) wurde 2023 von Persephone Books in England veröffentlicht. Ein warmherziger und feministischer Text, der uns in das Leben einer Alleinerziehenden in den frühen 1970ern führt. Magda Birkmann liebt es, ihre Begeisterung für Literatur zu teilen, erst als Buchhändlerin in der Berliner Buchhandlung Ocelot, nun als Zuständige für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Berliner Literaturhauses Lettrétage und als freiberufliche Literaturvermittlerin. Magda Birkmann war Mitglied der Jury für den Deutschen Buchpreis 2024. Nicole Seifert ist gelernte Verlagsbuchhändlerin und promovierte Literaturwissenschaftlerin. Sie lebt in Hamburg und arbeitet frei als Autorin, Übersetzerin und Literaturkritikerin. 2021 erschien bei Kiepenheuer & Witsch ihr Buch FRAUEN LITERATUR. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt, 2024 folgte "Einige Herren sagten etwas dazu". Die Autorinnen der Gruppe 47. Sabine Längsfeld übersetzt bereits in zweiter Generation Literatur verschiedenster Genres aus dem Englischen in ihre Muttersprache. Zu den von ihr übertragenen Autor:innen zählen Anna McPartlin, Sara Gruen, Glennon Doyle, Malala Yousafzai, Roddy Doyle und Simon Beckett.
Erstes Kapitel
Ich komme inzwischen kaum noch am Theatre Royal vorbei, das hat keinen bestimmten Grund. Ich bin einfach so selten in der Stadt.
Dieser Nachmittag im Mai war eine Ausnahme, es war ein Donnerstag mit frühem Ladenschluss, meine Tochter hatte eine Mandelentzündung, und die Apotheke mit Notdienst war die auf der High Street.
Ich lief eilig am Theater vorbei. Es tut inzwischen nicht mehr besonders weh, aber schön ist es auch nicht, außerdem wollte ich so schnell wie möglich nach Hause. Als ich auf dem Weg zum Parkplatz um die Ecke bog, kam mir ein Schauspieler entgegen. Ich kannte ihn aus dem Fernsehen, doch dann erinnerte ich mich wieder daran, dass ich ihn vor ein paar Jahren auch persönlich kennengelernt hatte. Ich wollte ihn gerade anlächeln, als er zu meiner Überraschung abrupt stehen blieb, mich, als ich mit ihm auf einer Höhe war, an sich zog, mitten auf den Mund küsste und mindestens eine halbe Minute lang festhielt. «Charlie!», sagte ich, als er mich wieder losließ. «Wie schön, dich zu sehen.» Ich fragte mich, ob er mich mit jemandem verwechselt hatte, aber er sagte bloß: «Anna», und dann noch einmal: «Anna.» Er hakte sich bei mir unter, und wir gingen gemeinsam zum Parkplatz, so eng umschlungen, als wären wir ein Liebespaar.
«Ich komme gerade aus der Apotheke, Hudson’s. Mary, meine Kleine, na ja, sie ist jetzt auch schon sieben, hat eine Mandelentzündung. Ich fürchte, ich muss nach Hause. Kann ich dich irgendwohin mitnehmen, Charlie?» Ich versuchte erfolglos, meine Fassungslosigkeit zu überspielen.
Er stieg zu mir ins Auto, berührte meine Beine und drehte mich zu sich um.
«Anna! Du erinnerst dich an mich, Anna.»
«Natürlich», sagte ich, und er küsste mich wieder.
Mir fielen ein paar Details von damals ein. Ein Abend auf einer Party vor vielen Jahren, er war mir weinend um den Hals gefallen – ich war davon ausgegangen, dass er betrunken war –, es war auf einer Silvesterparty gewesen, glaube ich, er war damals noch sehr jung, und Giles hatte gesagt: «Kann sich bitte jemand um ihn kümmern?» Dann war dieser Jemand gekommen und hatte ihn weggebracht. Für mich war der Zwischenfall ohne Bedeutung gewesen.
«Ich habe mich nach dir erkundigt», sagte er, streichelte meine Hände, drehte sie um und studierte die Handflächen, als wären es Landkarten. «Ich habe oft mit dem Gedanken gespielt, dich zu besuchen.»
Ich versuchte, meine Knie zwischen seinen herauszuziehen. Er verstärkte den Druck.
«Als Kind war ich mal mit der Schule in Holland. Warst du schon mal in Holland?»
Ich schüttelte den Kopf.
«Ich habe mein ganzes Geld für ein Schokoladengetränk ausgegeben, für ein völlig überteuertes natürlich, ein dickflüssiges, schaumiges Gebräu namens Chocenchenbrau oder so was.»
Ich lächelte. Er schien eine Reaktion zu erwarten.
«Na ja, vor ein paar Jahren war ich mit dem Young Vic in Amsterdam auf dem Theaterfestival und wollte das Zeug unbedingt noch mal trinken. Ich habe drei oder vier Tage danach gesucht, also nach genau demselben Getränk, und den Rest kannst du dir denken. Es schmeckte widerlich, ich konnte es nicht austrinken.»
«Ich muss nach Hause», sagte ich. Desillusionierung an und für sich oder auch in Teilaspekten erschien mir als Thema zu groß und zu deprimierend.
«Triff dich heute Abend nach der Vorstellung mit mir.»
«Bis dahin geht es Mary sicher noch nicht besser.»
«Dann Samstag. Samstag gibt’s hier eine Party. Versprich mir, dass du dir Samstag die Vorstellung ansiehst und danach hinter die Bühne kommst. Versprich es.»
Ich versprach es. Ich glaube nicht, dass er sonst wieder ausgestiegen wäre. Ich fuhr nach Hause und konzentrierte mich aufs Autofahren.
Eigentlich wollte ich im Theater anrufen und mit einer erfundenen Ausrede einen Rückzieher machen. An jenem ersten Nachmittag hatte mich die Begegnung einfach nur überrascht und auch ein bisschen amüsiert.
Doch dann ging ich tatsächlich auf die Party – obwohl es ziemlich schwierig war, für einen Samstagabend eine Babysitterin zu bekommen. Die Erinnerung an jene Nacht, als er zusammengebrochen war und in meinen Armen geweint hatte, ging mir, obwohl ich sie aus den Tiefen meines Unterbewusstseins hatte heraufzerren müssen, nicht mehr aus dem Kopf. Ich musste in dem Zusammenhang ständig an eine Szene aus einem Film mit dem Titel Anders als die anderen denken, den ich vor ewigen Jahren gesehen hatte, aber mit mir in der Deborah-Kerr-Rolle und mit Charlie als dem jungen Schüler. Jedenfalls war ich aufgewühlt und ging auf die Theaterparty – die erste, seit mein Ehemann Giles Goodhart, der ehemalige Intendant, vor vier Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war.
Aber davor musste ich Romeo und Julia durchstehen – Charlie spielte den Mercutio. Ich versuchte nicht mal, der Aufführung viel Aufmerksamkeit zu schenken. Ich war zu sehr damit beschäftigt, mir den Kopf zu zerbrechen, ob ich mich zu sehr aufgedonnert hatte, über meine Frisur oder vielmehr den Mangel an Frisur nachzudenken, zu überlegen, ob ich Mrs Lamb gesagt hatte, wo Marys Halsspray zu finden war, und ob ich Jane und Elizabeth daran erinnert hatte, die Kaninchen zu füttern. Nach dem letzten Vorhang beschloss ich, doch nicht auf die Party zu gehen, sondern mich nur kurz hinter der Bühne blicken zu lassen, um Charlie zu beglückwünschen, mich mit ein paar Leuten von früher zu unterhalten und anschließend wieder nach Hause zu fahren. Wahrscheinlich hatte er seine Begeisterung über unser Wiedersehen längst überwunden. Ich wollte ihn nicht in Verlegenheit bringen.
Sobald ich seine Garderobe betrat, wusste ich, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Charlie wirkte befangen. Er stellte mich den Anwesenden förmlich vor – Mrs Anna Goodhart – und küsste mich auch nicht, als sie wieder gegangen waren, sondern schminkte sich ab und beobachtete mich währenddessen im Spiegel.
«Ich möchte dir gratulieren, Charles. Ich fand die Vorstellung wunderschön, absolut großartig.»
Es war, als wäre er zum Ritter geschlagen worden. «Ist das dein Ernst? Ganz ehrlich? Meinst du das wirklich so?»
Das hatte ich völlig vergessen. Giles hatte mir immer wieder erzählt, Lob sei für Schauspieler so wichtig wie für andere Menschen Essen und Trinken. Sie brauchten natürlich ebenfalls Essen und Trinken, aber an erster Stelle kam das Lob. «Absolut umwerfend», sagte ich wieder.
«Als ich 66 herkam, hatte ich natürlich noch nicht die Chance, wirklich viel zu machen. Es war mein erstes Engagement, ich kam direkt von der Schauspielschule. Giles hatte mich in einem Schulprojekt gesehen und sich zufällig an mich erinnert. Stört es dich übrigens, wenn ich über Giles rede?»
«Natürlich nicht. Das ist kein Problem.»
Ich blieb doch zu der Party, wie ich es versprochen hatte. Ich begegnete mehreren Leuten, die ich lange nicht gesehen hatte und von denen mich einige diverse Male zu diversen Veranstaltungen eingeladen hatten und die ich mit Ausreden über Babysitter und kranke Kinder und so weiter abgespeist hatte.
Doch niemand schien mir etwas übel zu nehmen, und niemand schien besonders überrascht zu sein, dass ich in Charlies Begleitung kam. Ich wurde etwas gelassener. Ich aß und trank ein wenig, und ich tanzte; nicht gut, aber auch nicht so schlecht, wie ich befürchtet hatte.
Dann traf ich auf eine ältere Schauspielerin, die ich früher ziemlich gut gekannt hatte. Sie klopfte auf den freien Stuhl neben sich, und mir blieb nichts anderes übrig, als mich zu ihr zu setzen. Sie freue sich sehr, mich zu sehen, sagte sie. Und ob ich mich nicht auch darüber wundern würde, dass nicht sie in der Rolle der Amme zu sehen sei? Wäre Giles noch am Leben, wäre dafür niemals eine andere in Betracht gezogen worden. Ob ich das nicht genauso sähe? Margot habe Passagen ausgelassen. Was ich davon hielte? Sie habe damit das ganze Stück aus dem Gleichgewicht gebracht. Zugegeben, sie habe eine gute Stimme und auch eine gewisse Präsenz, aber ihr fehle es an Humor und an der nötigen Wärme. Natürlich würde sie nicht im Traum daran denken, mit jemand anderem als mir darüber zu sprechen. Ob ich letzten Monat Der kaukasische Kreidekreis gesehen hätte? Nicht? Wie außerordentlich schade. Sie hätte zu gern meine Meinung zu Margots Rolle in dem Stück gehört.
Weil ich weder das Stück noch die Schauspielerin kannte, verlor ich den Faden, doch dann kam zum Glück das nächste Tablett Getränke in unsere Richtung, meine Gefährtin fand Trost in einem anderen Gesprächspartner, und ich konnte weiterziehen.
Charlie tanzte mit einem umwerfend gut aussehenden Mädchen, das ihm die Arme um den Hals gelegt hatte. Er lachte sie an. Sie sahen beide so jung und schön aus, dass ich versucht war, mich heimlich davonzustehlen. Was in Gottes Namen hatte ich hier zu suchen? Kurz verspürte ich Panik.
Dann hörte die Musik auf, und er war wieder an meiner Seite. «Entschuldige, dass ich dich allein gelassen habe», sagte er. «Es hat dir hoffentlich nichts ausgemacht.» Er nahm mich am Arm, und ich lehnte meinen Kopf gegen seine Schulter, nicht nur froh, sondern triumphierend, weil er sich tatsächlich dafür entschuldigte, mit einem anderen Mädchen getanzt zu haben, als hätte ich ein Vorrecht auf ihn.
Wir tranken noch etwas, und dann sagte er: «Also gut, lass uns gehen.»
«Ich dachte, wir wären wegen der Party hier», sagte ich.
«Lass uns gehen.»
Sein Wagen parkte direkt vor dem Theater, und während er fuhr, saß ich daneben und sah...
Erscheint lt. Verlag | 28.1.2025 |
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Reihe/Serie | rororo Entdeckungen |
Nachwort | Nicole Seifert |
Übersetzer | Sabine Längsfeld |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 1970er • alleinerziehend • Britischer Humor • bücher literatur • Frauen in der Literatur • Frauenromane • Gesellschafsroman • Liebesroman • Mutter-Tochter-Beziehung • Neue Liebe • Schwiegermutter • Wales • Wiederentdeckete Literatur • Witwe |
ISBN-10 | 3-644-02165-1 / 3644021651 |
ISBN-13 | 978-3-644-02165-5 / 9783644021655 |
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