Ihr kennt mich nicht (eBook)
368 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-44907-3 (ISBN)
7
1926 ist Maman dreiunddreißig und beschließt, das Elend hinter sich zu lassen. Sie entscheidet sich für den einzigen Beruf, den sie kennt: Kauffrau. Mit Großpapas gesamtem Erbe – er ist kürzlich gestorben – leistet sie sich einen neuen Milchwarenladen in Chartres. Und zwar nicht irgendwo, sondern in der Rue de la Pie, wo die edlen Feinkostgeschäfte logieren. Mamans Laden steht stolz an der Straßenecke, neben dem Bäcker, gegenüber vom Weinhändler. Brot, Wein, Käse, eine ideale Kombination, um in Scharen Kunden zu locken. Und Maman spart nicht an der Fassade: ein großes, blitzblankes Fenster, weißer Stuck und ein Ladenschild mit goldenen Lettern: »À la bonne crème«.
Schon auf der Ladenschwelle dringt einem der Geruch des kräftigen Maroilles in die Nase. Nach ein paar Minuten hat man sich gewöhnt, und dann beginnt der Augenschmaus. In der Auslage liegen dicht an dicht, neben- und übereinander Dutzende Käsesorten. Einer eleganter als der andere: Mimolette mit der orangenen Rinde, schneeweißer Vacherin, kleine Ziegenkäse mit Kräuterkruste, alle Farben sind vertreten.
Morgens will ich nur eines: mit Maman in den Laden. Madeleine geht zur Schule, der Alte zur Arbeit, und ich soll eigentlich mit Großmama zu Hause bleiben. Ein Martyrium. Ich mag diese Alte nicht, sie lächelt nie, strickt pausenlos und wischt mir mit der eigenen Spucke die Wangen sauber. Noch jetzt ekelt es mich, wenn ich daran denke. Und sie verschreckt mich mit ihren Sprüchen. »Simone, das Brot: immer richtig herum auf den Tisch, sonst lockst du den Teufel ins Haus.«
Schlaftrunken schlüpfe ich im Morgengrauen in meine Kleider und dränge mich an Maman. »Willst du wirklich, Simone? Sehr spannend ist es ja nicht für dich …« Ich klimpere mit den Augen, versuche ein Lächeln. Maman zuckt mit den Schultern. Sie bürstet und flicht mir die Haare. Dann gehen wir beide durch die morgendliche Stille, während nur zögerlich die Dunkelheit weicht. Die menschenleere Stadt gehört uns. Maman ist mit großen Schritten unterwegs zu ihrem erträumten Vermögen, und ich renne hinterher, um mitzuhalten. Sie hat mich zu ihrer Begleiterin auserwählt. Um nichts in der Welt würde ich diesen Platz hergeben.
In den Laden kommen nur wenige Kunden. Ich sitze immer hinten auf dem Holzhocker, auf den Maman klettert, wenn sie an die oberen Regale muss. Ich habe einen Auftrag: die weißen, schwarz umrandeten Namensschilder ordnen, die Maman auf den Käse stellt. »Hier ist das Alphabet, Simone. Damit kannst du die Namen sortieren.« Meine erste Leseerfahrung: Ich entziffere den Anfangsbuchstaben und suche dann, ob Fourme d’Ambert vor oder nach Livarot gehört. Mein Zeigefinger gleitet über Mamans Liste. Wenn ich den Buchstaben gefunden habe, stecke ich das Schild an seinen Platz in einer Metalldose, in der früher Butterkekse waren.
Eines Sonntags beim Abendessen verkündet Maman, dass es Zeit wird, dass ich in die Schule komme.
»Simone geht im Oktober auf Sainte-Bernadette.«
Bei diesen Worten verschluckt sich der Alte an seinem billigen Wein. Er stammelt:
»Sainte-Bernadette? Aber die nehmen Schulgeld!«
Maman verdreht die Augen und erwidert:
»Ja, und?«
»Na ja, Jacqueline, du weißt ja, dass wir nicht auf Gold gebettet sind!«
»Schon richtig, mit deinem Lohn haben wir nicht gerade das große Los gezogen!«
»Hör auf damit. Warum soll Simone nicht auf die Volksschule wie Madeleine?«
»Weil ich für Simone das Beste will.«
Der Alte murmelt etwas Unverständliches. Der Entschluss steht fest. Ich werde bald in die École Sainte-Bernadette in der Rue des Lisses gehen, im Schatten der Kathedrale, nur einen Sprung von zu Hause, und nur einen Sprung vom Gefängnis.
Eine katholische Mädchenschule. Für die Töchter der Honoratioren unserer kleinen Provinzstadt. Einer Stadt, die im ewigen Rhythmus ihres katholischen Jahreskalenders lebt, mit Messen, Wallfahrt und Osterwoche. Zitternd betrete ich zum ersten Mal den Hof von Sainte-Bernadette. Meine Trauer, Maman zu verlassen, verschmilzt mit der Euphorie, eine neue Welt zu erobern. Der Hof ist winzig, eingeklemmt zwischen einer Kapelle, zwei Häusern, in denen der Unterricht stattfindet, und einem Kastanienbaum mit gelblichen Blättern. Auf dem Asphalt prangt ein richtiges Himmel-und-Hölle-Spiel. Mädchen in meinem Alter mit Zöpfen und ordentlichen Kitteln warten, bis sie aufgerufen werden. Auch ich trage einen dunkelblauen Kittel. Auf den Kragen hat Madeleine eine Hyazinthe gestickt, auf die ich sehr stolz bin. Hinter den großen Fenstern erkenne ich die Tafel und die Schulbänke. All dieses Neue: als würde mein Leben beginnen. Ich bebe.
Doch schon bald ist der Wurm drin. Nicht was das Schulische angeht, ich lerne mit links. Nichts leichter als das Zählen mit dem Rechenschieber. Mit der Fibel bin ich nach drei Monaten durch. Nein, das Problem sind die Zicken in meiner Klasse. Eine vor allem, Juliette, eine elende Schnüfflerin. Sie sagt, ich rede nicht anständig. »Sie hat den Mund voller Schimpfwörter. Bei mir zu Hause ist das verboten.« Wenn ich komme, kneift sie sich theatralisch die Nase zu und kreischt: »Findet ihr nicht, dass es hier plötzlich nach altem Camembert stinkt?« Die anderen Mädchen kichern, ich balle die Fäuste, zwinge mich, keine Fußtritte zu verteilen, schiele auf ihre Lackschühchen. Ich habe klobige Stiefel, abgelegte von Madeleine.
So kann es nicht weitergehen. Ich muss reagieren. Ich entscheide mich für eine weniger frontale Taktik als bloße Gewalt. Spielverderberei. Ich reiße der blinden Kuh das Tuch von den Augen, schnappe mir die Anweisung für die Schatzsuche, halte mit dem Fuß ein schwingendes Springseil auf. Ich ernte Fiepen, Quieken, Kreischen. Und ich lache mich kaputt. Ich bin die Königin des Schulhofs, ich bleibe nicht mehr links liegen, die Plagen können mich mal gernhaben.
Lang geht das nicht gut. Eines Tages vor dem Mittagessen muss ich zur Direktorin, Schwester Solange. Mit einem Knoten im Magen stehe ich an der Tür zu ihrem Büro. Vor allem darf Maman nichts davon erfahren, es würde sie bekümmern, sie hat schon genug Sorgen. Andererseits werde ich mich nicht bestrafen lassen, wo ich doch nicht die einzige Schuldige bin. Schwester Solange steht im Gegenlicht vor dem Fenster. Sie trägt nicht ihren Schleier, Strähnen umstehen ihr Gesicht, sie sieht jung aus. Sie wendet sich mir zu, die Hände gefaltet, die Brauen erhoben.
»Simone, Ihre Kameradinnen beschweren sich ständig über Ihre Streiche. Was haben Sie damit im Sinn?«
Ihre Stimme klingt sanft, ich fasse Vertrauen.
»Ehrwürdige Schwester, ich weiß nicht, was Sie meinen.«
»Ich weiß ja, dass es nicht leicht für Sie ist, Simone. Aber Sie sind ein kluges Mädchen. Sie müssen verstehen, dass es Dinge gibt, die man nicht tut.«
»Ich …«
»Ich möchte Ihnen keine Moralpredigt halten. Ich erwarte von Ihnen nur eines: Hören Sie auf, Streit anzuzetteln. Damit geht es allen besser, vor allen Ihnen selbst.«
Erleichtert verlasse ich das Büro. Keine Strafe, kein Brief an Maman. Ich habe mir nur ein Wort gemerkt: klug. Ich höre auf mit der Spielverderberei, wohl oder übel. Ich fange ein neues Spiel an. Etwas noch Aufregenderes. In den Pausen wähle ich mit Bedacht meine Beute, schleiche mich heran, und hopp, hebe ich einen Rock an. Die Mädchen kreischen, unentschlossen, ob sie lachen oder mich mit Flüchen überschütten sollen. Ich aber verschwinde schnell hinter dem Kastanienbaum, mein Herz hüpft, weil ich auf dem Schulhof mehr denn je im Mittelpunkt stehe.
Sehr bald schon muss ich wieder zu Schwester Solange. Diesmal trägt die Direktorin ihren Schleier. Ganz aufrecht sitzt sie am Schreibtisch. Kein Blatt Papier, nur die lederne Schreibunterlage und der metallene Federhalter. Schwester Solange hat die Stirn in Falten gelegt. Meine Knie zittern.
»Simone, das ist inakzeptabel.«
»Ehrwürdige Schwester, es ist nicht meine Schuld …«
»Still. Die Sache ist ernst. Die Mutter Ihrer Kameradin Juliette sitzt in der Bibliothek, sie erwartet Ihre Entschuldigung.«
Der Schweiß steht mir auf dem Rücken. Ich haspele:
»Aber ich habe nicht angefangen …«
Schwester Solange fällt mir ins Wort:
»Es ist ganz egal, wer angefangen hat. Darum geht es nicht mehr. Sie haben über die Stränge geschlagen, Simone. Sie müssen sich entschuldigen.«
Ich stelle mir die Szene vor: Ich, die Ameise, gezwungen, vor einer Menschenfresserin zu buckeln. Ich schüttele den Kopf. Schwester Solange schlägt mit den Fäusten auf den Tisch.
»Muss ich Sie erinnern, dass Juliettes Vater Direktor der Banque de France ist? Und Sie, Simone, Sie sind nichts.«
»Nein, nein, das kann ich nicht!«
»Simone, hier steht der Ruf meiner Schule auf dem Spiel. Wenn Sie sich nicht entschuldigen, setzt es eine exemplarische Strafe.«
Ohne zu überlegen, rufe ich:
»Das ist mir immer noch lieber!«
Sichtlich bekümmert nickt Schwester Solange. Sie tritt zu mir, in der Hand eine Nadel und ein Band. Sie kniet nieder. Ich wage keine Bewegung. Schnell ein paar Nadelstiche. Im Nu ist von hinten mein Rock angehoben, das Höschen freigelegt. Schwester Solange hat das eine Ende des Bands an meinen Rocksaum genäht und das andere in das Gummi einer meiner Zöpfe gesteckt.
»Und jetzt drehen Sie Runden über den Hof!«
Die Direktorin öffnet die Tür. Es ist gerade Pause, man hört das fröhliche Stimmengewirr. Ich habe einen dicken Kloß im Hals.
»Oh, nein, nicht das, ich flehe Sie an!«
Ich versuche das Band abzureißen. Schwester Solange verdreht mir das Handgelenk. Ich...
Erscheint lt. Verlag | 1.8.2024 |
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Übersetzer | Elsbeth Ranke |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
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ISBN-10 | 3-426-44907-2 / 3426449072 |
ISBN-13 | 978-3-426-44907-3 / 9783426449073 |
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