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Ich komme nicht zurück (eBook)

Roman | Nominiert für den Hamburger Literaturpreis 2024 (Buch des Jahres | Shortlist)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
176 Seiten
DuMont Buchverlag
978-3-7558-1064-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ich komme nicht zurück -  Rasha Khayat
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Hanna, Zeyna und Cem - eine leuchtende Freundschaft, die in einem Sommer in den späten Achtzigerjahren ihren Anfang nimmt. Gemeinsam wachsen sie in einer Arbeitersiedlung im Ruhrgebiet auf, bilden eine Wahlfamilie, in der Herkunft keine Rolle spielt. Zuhause ist, wo sie zusammen sein können. Doch je älter die Kinder werden, umso klarer treten die Unterschiede zwischen ihnen hervor. Mit dem 11. September 2001 wird ihre Freundschaft endgültig vor eine Zerreißprobe gestellt, bis sich die Risse zwischen Hanna und Zeyna zum Bruch ausweiten. Jahre später kehrt Hanna zurück in die alte Heimat, in die Wohnung ihrer verstorbenen Großeltern. Die Stadt steht still, und Hanna fühlt sich einsam. Cem, ihr Fels, ist immer noch da, aber Zeyna schon seit Jahren aus ihrem Leben verschwunden. Hanna begibt sich auf die Suche - nach Zeyna, nach Spuren ihrer Geschichte, nach dem, was damals zwischen sie fiel. Sprachlich zupackend und gleichzeitig poetisch erzählt Rasha Khayat von den Leerstellen in unserem Leben und wie wir sie zu überwinden suchen, von der unendlichen Liebe in einer ungewöhnlichen Familienkonstellation und einer tiefen Freundschaft in einer Welt, die aus den Fugen gerät. »Dieses Buch ist wie eine ausgestreckte Hand. Ein traurigschöner Protest gegen all das, was Menschen trennt, statt zu verbinden.« DANIELA DRÖSCHER

RASHA KHAYAT, geboren 1978 in Dortmund, wuchs in Jeddah, Saudi-Arabien, auf. Als sie elf war, siedelte ihre Familie nach Deutschland zurück. Sie studierte Vergleichende Literaturwissenschaften, Germanistik und Philosophie in Bonn. Seit 2005 arbeitet sie als freie Autorin, Übersetzerin und Dozentin. 2016 erschien ihr Debüt >Weil wir längst woanders sind<. Sie erhielt für ihre Arbeit zahlreiche Auszeichnungen, u. a. das Grenzgänger-Stipendium der Robert Bosch Stiftung, Residenzen in Marseille und

I

An frühen Winterabenden an Bushaltestellen drückt sie am härtesten zu. Sie drückt auf die Schultern und kriecht in den Nacken, umfasst diese Stelle im Brustkorb und macht das Atmen schwer. An frühen Winterabenden an Bushaltestellen ist die Einsamkeit am kältesten.

Im Hochhaus gegenüber der Haltestelle sind die Fenster erleuchtet, und ich stelle mir vor, wie sie dahinter Abendbrottische decken, Sportschau gucken, wie Mütter ihren Kindern die Nutellabrote in kleine Häppchen – in Schäfchen, hat Felizia immer gesagt – schneiden, wie Musik läuft und jemand dazu die Melodie versucht mitzupfeifen, während er Wäsche in den Trockner lädt, wie Familien sich von ihrem Tag erzählen, lachen und sich die Butter über den Tisch reichen.

Ich zupfe an dem in Papier eingewickelten Blumenstrauß neben mir auf der eisigen Stahlbank. Immerhin ein Zeichen, denke ich, immerhin ein Zeichen, dass ich zu jemandem fahre, jemandem, dem ich den Blumenstrauß mitbringe. Wenigstens das, ein Zeichen, dass ich nicht vollkommen allein bin.

Juliane hat eingeladen, Geburtstag in ganz kleiner Runde, so wie gerade erlaubt und wie es »okay ist für euch«, hat sie geschrieben. Ich kann mich kaum erinnern, wann ich zuletzt unter so vielen Menschen war. Absichtlich unter Menschen, mit denen man absichtlich Zeit verbringt. An der Kasse am Supermarkt, ja, auf den kurzen Runden über den Friedhof, ja, beim Joggen am Morgen, ja, aber sonst – Stille. Stille. Stille.

Als der Bus kommt, greife ich in die Manteltasche, greife die Maske, streife sie übers Gesicht, sofort beschlägt die Brille, na klar, warum auch sehen können, wenn einen niemand sieht – Mütze, Schal, Maske, dicker Mantel –, wir sind nur noch Fellberge, die zwei, drei Leute, die gleich einsteigen: Ich und ein älterer Mann mit Alditüte in der Hand, und ein Junge, vielleicht vierzehn, fünfzehn, die Kapuze tief in der Stirn, den Blick auf das Smartphone in seiner Hand, durch die Kopfhörer hämmern Beats in seinen Kopf und an unsere Ohren. Menschliche Zeichen in Zeiten der Unsichtbarkeit.

Und dann schon wieder – im hinteren Drittel des Busses, da sitzt die kleine Frau, maskiert, und die dunklen kurzen Haare fransen unter einer gelben Mütze hervor. Sie schaut nach draußen, auf das Hochhaus, und ich bilde mir ein, diese Wangenknochen zu erkennen. Spitze Züge, große Augen, leicht zugekniffen gegen das grelle Licht im Bus, den Blick fokussiert auf die Hochhausfenster.

Ich schiebe mich durch den anfahrenden, fast leeren Bus, verdächtig und verstohlen wie eine Diebin, verlangsame den Schritt kurz vor dem Sitz der Mützenfrau und versuche, so unauffällig wie möglich ihren Blick zu erhaschen. Kann doch nicht sein, denke ich, kann doch nicht sein, dass mir das fast jeden Tag passiert. Fast jeden Tag eine kleine dunkelhaarige Frau irgendwo auf meinem Weg, egal wohin, egal zu welcher Uhrzeit. Zuletzt sah ich sie vorgestern an der Tankstelle, wie sie einen blauen Renault betankte.

Konnte das wirklich sein? Konntest du es wirklich sein?

Natürlich bist du es auch diesmal nicht. Der Bus ruckelt um eine Ecke, ich stolpere leicht gegen den Sitz der Frau und komme ihr unabsichtlich so nah, dass kein Zweifel mehr besteht. Nein, du bist es nicht.

»Sorry«, nuschle ich durch die Maske, sie nickt nur wortlos, und ich setze mich auf den Behindertensitz an der Tür. Was muss die Arme denken, da stolpert eine Frau durch einen kaum besetzten Bus und in sie hinein, nur um sich dann auf den Klappsitz neben der Tür niederzulassen. Meinen Blumenstrauß balanciere ich auf dem Schoß, halte mich mit einer Hand an der grünen Stange fest und schaue verschämt auf den abgelaufenen Boden.

Der Bus sieht noch genauso aus wie zu unserer Schulzeit. Du konntest es gar nicht sein, das hätte mir klar sein müssen. Schließlich saßt du immer auf der hinterletzten Bank. Und wenn da kein Platz war, stelltest du dich so dicht neben die Sitzenden, dass sie irgendwann freiwillig ihren Platz räumten.

Ich versuche, die Erinnerung abzuschütteln. Und doch – glaubt man an Zufall, glaubt man an Wahnsinn – zähle ich im Kopf nach, wie viele kleine dunkelhaarige Frauen mir in den letzten Wochen über den Weg gelaufen sind.

Der Effekt ist immer der gleiche – kurz klopft das Herz im Hals und hüpft, dann der Schreck und das Zucken, der Drittelschritt zurück und die Frage: »Soll ich was sagen? Was soll ich sagen?« Einfach deinen Namen sagen? Den Namen fragen, mit Fragezeichen dahinter, die Stimme heben? Zeyna? Zanzoun?

Nächster Halt: Haydnstraße

Glück gehabt, muss nicht weiter nachdenken. Raffe mich auf, lasse beinahe Julianes Blumenstrauß fallen, bekomme das Papier so gerade noch zu fassen und kann das Winterensemble vor dem Trittbrett retten. Die kleine Straße, die zur Neubausiedlung führt, ist hell erleuchtet mit ganz neuen Laternen, keine flackert, keine steht schief. Aufgereiht wie Soldaten, hätte Felizia gesagt, stehen die nagelneuen Laternen und weisen mir leuchtend die Richtung über den nagelneuen Weg in die nagelneue Siedlung. Tim und Juliane haben hier ein Haus gekauft, »schon erstaunlich«, hatte Tim gesagt, »dass sie hier in der Stadt mal so viele neue Häuser bauen.« Tim redet gerne von Aufwertung, von Immobilienpreisen, von Strukturwandel, von Dienstleiterregion, er papageit all das zurück, was in den Zeitungen steht über dieses triste Fleckchen Welt, in dem wir aufgewachsen sind.

Aber auch die neuen Laternen, die neuen Häuser, die neu geteerten Straßen können nicht überschminken, wer wir hier sind. Wer wir immer waren.

Ja, wer eigentlich? Wer waren wir? Ich denke an die Frau im Bus und an die Frau an der Tankstelle vom Vortag, an die Frau an der Kasse bei Lidl. Denke an uns und an die Jahre, die hinter uns liegen. Denke, beim nächsten Mal sage ich deinen Namen. Vielleicht. Wo bist du? Was willst du mir sagen?

Tims und Julianes Vorgarten ist eingefasst von einer dieser mit Steinen gefüllten Zaunmauern, ich weiß nicht einmal, wie man das nennt. Steine in einem Metallkäfig, der einen mit Kies aufgeschütteten Vorgarten umstellt, ein Vorgarten, der den Namen völlig verhöhnt, darf sich irgendwas Garten nennen, wo nicht eine einzige Blume wächst? Juliane sagt, sie hätte Tim einfach machen lassen, und Tim, der fand das praktisch. Und ordentlich. Und gut sauber zu halten. Denke an Felizias und Theos verwilderten Garten. An unsere Parzelle zwischen den anderen Schrebergärten, an das Salatbeet, die Tomaten, die Rhododendren, Hortensien, die alten Bäume (die Magnolie), die kleine Bank unter Efeuranken. Ich denke an uns, wie wir dort Unkraut gejätet haben, und an Nabil und Theo, die Stunden, Tage, Wochen dort im Schuppen Möbel repariert, Stühle gebeizt, Schubladen zusammengeschraubt haben. Unser Garten, der auch längst Geschichte ist. Aufgegeben schon vor vielen Jahren. Hoffe, dass der neue Besitzer ihn so hegt und pflegt, wie wir es getan haben. Will lieber nicht nachsehen, es lieber nicht wissen.

»Hey, Johanna, da bist du ja!« Juliane hat die Tür geöffnet, noch ehe ich klingeln kann. »Ich hab dich schon die Straße runterkommen sehen. Komm rein, komm rein. Ist ja wahnsinnig kalt draußen!«

Die Wände im Inneren des Hauses atmen Juliane, atmen ihre zwei kleinen Mädchen, blond gelockte Putten in Latzhosen, wie hießen sie noch mal, und wieder dieses Drücken auf die Schultern, der Krampf zwischen Zwerchfell und Bauchnabel. Presse ein Lächeln zurecht, während wir uns im Flur umarmen, erleichtert einerseits, nicht schon wieder allein vor dem Fernseher Pommes essen zu müssen, erleichtert, dass mich jemand an sich drückt, auch wenn’s nur Juliane ist.

Dieses ordentliche Leben, denke ich. Dieses ordentliche Leben mit Steinvorgarten, Puttenkindern und der heimeligen Gemütlichkeit, um die ich schon meine Schulfreundinnen beneidet habe. Erinnere mich, mir nichts sehnlicher gewünscht zu haben, damals schon, dass alles geometrisch sein möge in unserem Leben, und ordentlich. Mütter, die zu Hause Kartoffeln kochen und Schnitzel. Väter, die bei der Sparkasse arbeiten oder beim Elektriker Borchert. Geometrische Gärten, geometrische Kinder, ihre Jeans, während wir … in Pluderhosen, in bunten Farben, genäht von Felizia.

Ich überreiche Juliane die Blumen – »Ach, danke, die sind ja schön! War doch nicht nötig! Komm rein, komm rein, Tim, mach doch mal den Sekt auf«, ruft sie den Flur hinunter. »Und du gib mir mal deinen Mantel und geh durch. Tim ist im Wohnzimmer, Marie ist schon da, wir warten jetzt nur noch auf Lars.« Sie schiebt mich weiter in Richtung Wohnzimmer, während sie in die Küche abbiegt.

Mein Blick streift die Wände und den warm getünchten Holzboden. Überall Zeichen von Familie. Ein Bobbycar, kleine Hausschuhe mit Einhörnern drauf und Nilpferden, Legomännchen und ein lila Rucksack mit kleinen Flügeln dran. Die Garderobe quillt über von Mänteln und Jacken, auf dem kleinen Regal darunter mindestens zwanzig Paar Schuhe – Stiefel und Sneaker, Joggingschuhe und Sandalen, Gummistiefel in allen Größen –, niemand ist hier allein, denke ich. Zwanzig Paar Schuhe als Beweis.

»Da bist du ja!« Tim streckt beide Arme in die Höhe, als er mich sieht, in der einen Hand noch die Sektflasche. Über die Jahre haben Juliane und Tim sich optisch immer weiter angenähert. An der Wand hängt ein Familienfoto vom Lago-Maggiore-Urlaub, da tragen tatsächlich alle vier identische Outfits – rote Ringelpullis, jeder Erwachsene ein Kind auf dem Arm, auch die Kinder in roten Ringeln, vier beige Chino-Hosen, Mokassins ohne Strümpfe. Vier Strohhüte. Ich stelle mir vor, wie der Fremde oder die Fremden, die sie...

Erscheint lt. Verlag 13.8.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 11. September • Arbeiterbiografie • Coming-of-age • Einsamkeit • Freundschaft • Gastarbeiter • Geflüchtete • Gegenwartsliteratur • Gesellschaft • Hamburger Literaturpreis 2024 • Heimat • Herkunft • Identität • Klasse • Liebe • Mölln • post-migrantisch • postmigrantisch • Selbstermächtigung • Wahlfamilie
ISBN-10 3-7558-1064-6 / 3755810646
ISBN-13 978-3-7558-1064-3 / 9783755810643
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