Parade (eBook)
171 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-78025-1 (ISBN)
Parade erzählt von einem Leben, das viele andere Leben enthält - von Weiblichkeit, Kunst und Macht, Familie und Freiheit, und davon, woraus wir uns immer wieder aufs Neue erfinden. Rachel Cusk stellt Sprache und Denken auf den Kopf und zeigt uns die Welt, wie sie wirklich ist.
Rachel Cusk setzt ein erzählerisches Karussell in Gang und erzählt uns frappierende Episoden, die sich an den entscheidenden Punkten kreuzen und überlagern.
Plötzlich malt G verkehrt herum. Die eigene Frau zum Beispiel. Dabei macht er sie hässlich. Die Bilder werden ein Riesenerfolg.
In Paris wird eine Frau auf offener Straße von einer Unbekannten attackiert. Die Angreiferin, bevor sie flieht, dreht sich um, ihr Opfer zu betrachten, wie eine Künstlerin, die vor ihrer Leinwand steht.
Eine Mutter stirbt, und die Kinder müssen sich mit ihrem Erbe arrangieren: mit den Geschichten, die sie erzählte, den Rollen, die sie ihnen zuwies, mit der Art, wie sie ihnen ihre Liebe vorenthielt. Ist der Tod eine Art Freiheit?
Rachel Cusk ist die Autorin von <em>Der andere Ort </em>(Prix Femina étranger), der <em>Outline</em>-Trilogie, der autobiographischen Essays <em>Lebenswerk</em> und <em>Danach</em> sowie mehrerer anderer belletristischer Werke und Sachbücher, darunter ihr jüngster Roman <em>Parade</em> (Goldsmiths Prize, 2024). Sie ist Guggenheim-Stipendiatin, Trägerin des Malaparte-Preises 2024 und wurde dieses Jahr mit dem Titel Chevalier de l'ordre des arts et des lettres ausgezeichnet. Sie lebt in Paris.
Die Stuntfrau
Ab einem gewissen Punkt in seiner Laufbahn begann der Künstler G – vielleicht, weil er keine andere Möglichkeit fand, sich zeitlich und räumlich in der Geschichte zu orientieren –, auf dem Kopf zu malen. Beim ersten Hinsehen wirkten seine Bilder wie irrtümlich falsch herum aufgehängt, aber die Signatur am rechten unteren Rand verkündete unmissverständlich den Anbruch einer neuen Wirklichkeit. Gs Frau glaubte, er könnte absichtslos etwas Verstörendes über die weibliche Befindlichkeit zum Ausdruck gebracht haben, und sie fragte sich, ob es negative Konsequenzen für seinen Erfolg haben würde; doch die Kritik reagierte begeistert auf die kopfstehenden Bilder, und G wurde mit einem frischen Schwall aus Preisen und Ehrungen bedacht, die man ihm anscheinend unabhängig von dem zukommen ließ, was er gerade machte.
Sie lebten in einer waldigen Gegend fernab der Stadt, denn trotz der Anerkennung war G verletzt und wütend auf die Welt, der er nicht vergeben konnte. Sein Frühwerk war brutal kritisiert worden, und obwohl die Leute ihm versicherten, seine Fähigkeit zu schockieren sei der sicherste Beweis für sein Talent, hatte er sich von den Angriffen nie erholt. Seine Stärke lag darin, die Versuche der Vergiftung und Vernichtung nicht abzuwehren, sondern eher zu absorbieren. Er schluckte das Gift und ließ sich davon verwandeln, so dass sein Überleben kein Zeichen von Resilienz war, sondern eine langsame Kreuzigung, und am Ende war die Welt gezwungen, sich für das, was sie ihm angetan hatte, selbst zu bestrafen. Die Wälder hatten G aus einer künstlerischen Sackgasse herausgeholfen, als er sich zwischen anekdotischer Darstellungsweise und gleichgültiger Abstraktion gefangen sah. Er hatte viel Zeit damit verbracht, die örtlichen Forstarbeiter zu beobachten, und jedes Mal wenn ein Baum gefällt wurde, hatte sich ihm die Frage des Vertikalen aufgedrängt. Zunächst hatte er die Männer und die Bäume in einem Zustand der Verbundenheit gemalt, in der die Stämme und die Körper austauschbar waren. Dann hatte er gesehen, dass auch die Körper gefällt werden konnten; sie wurden auf eine vergleichbare Weise von ihren Wurzeln getrennt, auf die Seite gerollt oder in Abschnitte zerteilt. Zuletzt kam er auf die Umkehrung als Mittel, die Gewalt aufzulösen und das Prinzip der Ganzheitlichkeit wiederherzustellen. Die Welt war abermals intakt, stand aber auf dem Kopf und hatte sich damit von den Beschränkungen der Wirklichkeit befreit.
Als Gs Frau die umgedrehten Bilder zum ersten Mal sah, fühlte sie sich, als hätte jemand sie geschlagen. Das Gefühl, dass alles richtig erschien und doch grundlegend falsch war, erkannte sie auf Anhieb wieder. Dies war ihre Befindlichkeit, die Befindlichkeit ihres Geschlechts. Die Bilder machten sie unglücklich, besser gesagt hielten sie ihr ein Unglück vor Augen, das sie offenbar immer schon in sich getragen hatte. Eines der Bilder liebte sie besonders. Es zeigte schlanke Birken im Sonnenlicht, und die verrückte Ruhe und Unschuld der umgedrehten Bäume schien anzudeuten, der Irrsinn könnte eine Zuflucht sein. Wie konnte er ihr namenloses weibliches Unglück, das den Irrsinn verlockend erscheinen ließ, so gut verstehen? Anders als viele seiner Kollegen hätte man G niemals der Ausbeutung bezichtigen können; weder litt er an blinder männlicher Selbstgefälligkeit, noch hatte er sich je eine Freiheit herausgenommen, nur weil der öffentlich anerkannte Wert seines Blicks sie scheinbar legitimierte. Er hatte seiner Frau erzählt, dass er sich vor ihrem Kennenlernen oft mit Masturbation beholfen hatte. Wollte er tatsächlich eine marginalisierte Perspektive für sich beanspruchen? In dem Fall hätte er seine Männlichkeit ablegen müssen, wenn auch nur vorübergehend. Der Perspektive hatte er sich schlingernd angenähert, wie von der Seite, er war ihrer Entrechtung teilhaftig geworden und ihrer sprachlosen, fragmentierten Identität, nur mit dem Unterschied, dass er es geschafft hatte, ihr eine Stimme zu geben.
Die ersten Versuche waren großformatige Porträts in einem fließenden, ziemlich naiven Stil, die wiedererkennbare Personen aus der Gegend und aus ihrem Bekanntenkreis zeigten. Die Bilder wirkten schlicht und formell. Anscheinend wollte G eine Aussage über seine Ehrlichkeit in genau dem Moment treffen, als er die Welt umdrehte. Warum standen diese Leute kopf? Die Frage drängte sich auf, doch die Antwort schien so offensichtlich, als hätte ein Kind sie geben können, und dieserart erhellten die Bilder ein Wissen, über das ihr Publikum längst verfügte. Später ging G zu großen, detailreichen Landschaften über, in denen die Natur offensichtlich ein Hoch erlebte und ihre Kraft demonstrierte, sich von der menschlichen Gewalt zu erholen, ihren Status als Wächterin, die aus jedem neuen Morgengrauen hervorgeht und abermals im Licht steht. Die Natur badete in einer wortlosen moralischen Fülle, unschuldig und nichts von der erfolgten Umkehrung ahnend, und dieser Faktor der Unschuld oder der Ignoranz war es, der die Gegenständlichkeit des Gemäldes von dem löste, was als sein Gegenstand erschien.
Die Frage, ob G wirklich eine auf den Kopf gestellte Welt abgemalt oder die Bilder nach dem Malen einfach umgedreht und signiert hatte, wurde erstaunlicherweise beschwiegen. Das erste Szenario hätte eine erhebliche technische Herausforderung bedeutet, das zweite wäre ein absurder Scherz, der sich binnen Minuten abhandeln ließe. Dennoch wurde G nie öffentlich dazu befragt, und in den vielen akademischen Texten über die radikale Entwicklung seines Werks wurde sie unterschlagen. Manchmal sprachen die Leute Gs Frau unter vier Augen darauf an, als könnten sie nur ihr gegenüber das Risiko eingehen, ihre Dummheit auszustellen. In solchen Momenten fühlte sie sich als Sammelstelle für Schwäche benutzt. Sie ärgerte sich nicht darüber, weil sie auf diese Weise sehr viel mehr erfuhr; aber dass sich eine solche Verwirrung um die Wahrheit durch einmütiges Stillschweigen verschleiern ließ, sagte in ihren Augen etwas aus, und zwar nicht nur über die Kunst. Vermutlich würde auf diese Weise alles Edle irgendwann zerstört. Wahrscheinlich hätte G ihr aus vollem Herzen beigepflichtet, in der Tat bemerkte sie, dass er sich seit Kurzem offen und von sich aus über seine Technik äußerte und die Schwierigkeiten des umgekehrten Malens erklärte, welche sich nur durch die Verwendung von Fotografien lösen ließen. Später verwarf er das Medium wieder, seine Bilder wurden noch größer und zudem traumgleicher und abstrakter. Jedenfalls war die Frage, was ein Mensch eigentlich sei, noch nie so unbeantwortbar erschienen. Oft malte er einen Mann, der allein auf einem Bett saß – die besudelte, ozeanische Leere des Lakens, und irgendwo am oberen Bildrand kauerte der kleine, gepeinigte Mann.
G war der Meinung, Frauen könnten nicht malen. Gs Frau glaubte, dass die meisten Leute so dachten, nur war er leider der Einzige, der es aussprach. Sie fragte sich, ob ihre unerschöpfliche Loyalität und ihre fortwährende Präsenz an seiner Seite ihn überhaupt erst zu dieser Sichtweise verleitet hatten. Ohne sie wäre er vielleicht immer noch ein Künstler, aber nicht wirklich ein Mann. Er hätte kein Zuhause, keine Kinder und keine Lebensumstände, in denen Raum für schöpferische Selbstvergessenheit bliebe, besser gesagt hätte seine Selbstvergessenheit ihn bald umgebracht. Sie überlegte sich, dass er damit eigentlich nur zum Ausdruck bringen wollte, Frauen könnten keine Künstlerinnen sein, solange Männer Künstler waren. Einmal war sie zugegen, als eine Romanautorin ihn im Atelier besuchte. Die umgedrehten Bilder hatten die Autorin getroffen wie ein Blitzschlag, ähnlich wie Gs Frau zuvor. Ich möchte auf dem Kopf schreiben, rief die Besucherin merklich ergriffen. G fand die Aussage natürlich absurd, aber seine Frau freute sich insgeheim, hatte sie doch den Eindruck, dass die von G auf so brillante Weise erhellte Wirklichkeit, die bis auf die komplette Umkehrung der moralischen Wucht in jeder Hinsicht mit ihrem Zwilling identisch war, dem Rätsel und der Tragödie ihres Geschlechts so nah kam wie nichts anderes. Der Tonfall der Romanautorin schien etwas zu beklagen, eine Ungerechtigkeit vielleicht, als wäre sie sich zum ersten Mal einer Aneignung bewusst geworden. G war nicht der erste Mann, der Frauen besser beschrieb, als Frauen es zu können schienen.
Die Dame hatte uns aufgefordert zu gehen, weil sie die Wohnung plötzlich brauchte. Der Wunsch duldete keinen Aufschub – wir wussten zwar nicht wohin,...
Erscheint lt. Verlag | 15.7.2024 |
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Übersetzer | Eva Bonné |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Parade |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Ablehnung • Abschiede • aktuelles Buch • Attacke • Beziehungen • Bücher Neuererscheinung • Coventry • danach • Deborah Levy • Der andere Ort • Eltern • Emanzipation • Episoden • Erbe • Erzählband • Erzählen • Familie • Feminismus • Freiheit • Georg Baselitz • Gewalt • Grenzen • Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis 2022 • Identität • IN TRANSIT • Kinder • Krimi Neuerscheinungen 2024 • kudos • Kunst • Kunstszene • Leben • Lebenswerk • Leinwand • Liebe • Longlist Booker Prize • Louise Bourgeois • Macht • Machtstrukturen • Malen • Malerei • Missfallen • Mutter-Kind-Beziehung • Mutterschaft • Neuererscheinung • neuer Krimi • Neuer Roman • neues Buch • Opfer • Outline-Trilogie • Parade deutsch • Paris • Sheila Heti • Sprache und Denken • The Stuntman • Tod • Überfall • Vermächtnis • Weiblichkeit |
ISBN-10 | 3-518-78025-5 / 3518780255 |
ISBN-13 | 978-3-518-78025-1 / 9783518780251 |
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