The Watchers - Sie sehen dich (eBook)
352 Seiten
Festa Verlag
978-3-98676-153-0 (ISBN)
A. M. Shine ist einer der führenden irischen Horrorautoren der Gegenwart. Sein erster und bekanntester Roman THE WATCHERS, der in einem geheimnisvollen Wald im Westen Irlands spielt, wurde 2024 mit Dakota Fanning in der Hauptrolle unter der Regie von Ishana Shyamalan und produziert von M. Night Shyamalan verfilmt.
Prolog
John
Auch an den hellsten Tagen wirkte der Wald finster. Es schien, als verbargen die uralten Bäume ein schreckliches Geheimnis vor der Sonne, verwoben deshalb ihre Äste ineinander und breiteten einen schwarzen Schleier unter dem Himmel aus. Stellenweise brach das Licht in dünnen, dunstigen Säulen hindurch, aber es reichte nicht aus, um Wärme zu spenden. Irgendein Licht war immer noch besser gewesen als gar kein Licht, denn es sagte John alles, was er wissen musste: dass es noch Hoffnung gab. Er hatte allen Grund weiterzulaufen. Schließlich befand er sich an einem unnatürlichen Ort, an dem sich die Schatten nie lichteten – als hielte jemand einem eine graue Linse vor die Augen. Er sehnte sich nach Farbe und Licht, um sich einen Weg bahnen zu können, doch zwischen den Bäumen gab es nichts davon. Stunden waren in dieser nicht enden wollenden, lautlosen Vorhölle vergangen, in der nichts als Johns panische Atmung die Stille durchbrach. Dennoch war kein Ende in Sicht. Und die goldenen Lichtfäden begannen allmählich zu verblassen.
Die Behausung hatte er bei Tagesanbruch verlassen, da waren die ersten Risse in dem schwarzen Himmel zu sehen gewesen. Zuvor hatte sich John zwei volle Tage ausgeruht, um wieder zu Kräften und auf die Beine zu kommen und alles zu retten, was ihm vom Leben geblieben war. So viele gescheiterte Versuche lagen hinter ihm. Aber tief in seinem Inneren wusste er, dass er nahe dran war. Ihm fehlten nur noch ein paar Meter. Er hatte einen Kompass in die Erde gezeichnet und an den wenigen blauen Flecken am Himmel so gut es ging abgelesen, wo Norden war. Anschließend war er im Uhrzeigersinn vorgegangen, um alle Richtungen zu überprüfen und einen Ausweg aus dem Wald zu finden. Aber er konnte immer nur so weit laufen, dass er vor Einbruch der Dämmerung zurück war. Und nie war es weit genug. John folgte den Spuren, die er auf dem Hinweg hinterlassen hatte, um wieder in die Arme seiner Frau zurückzufinden, manchmal geschah dies aber erst wenige Minuten vor der Dämmerung – und es wurde jeden Tag später.
Früher hatte er seiner Frau oft Geschenke mitgebracht. Ciara hatte schon immer eine Schwäche für Überraschungen gehabt, gleichgültig wie albern, billig oder kindisch sie auch sein mochten. Da gab es zum Beispiel die Plüschtiere, die er an der Tankstellenkasse gekauft hatte. Sie saßen jetzt auf dem Bett in ihrem Gästezimmer, die Glasaugen zum Fenster gerichtet, weil Ciara die Vorstellung hatte, sie würden die Aussicht genießen. Es gab aber auch Pralinen und Blumen, sogar ein Körbchen praller Erdbeeren, die er am Straßenrand gekauft hatte – immer wenn John glaubte, dass etwas seine Frau zum Lächeln bringen könnte, dann gehörte es schon fast ihr.
Und nun kehrte er nur noch erschöpft, entmutigt und jedes Mal mit leeren Händen zu ihr zurück. Er konnte ihr nicht einmal falsche Hoffnungen machen, ohne sich der Schuld bewusst zu sein, sie belogen zu haben. Denn sie würden niemals nach Hause kommen. Es gab einfach keinen Ausweg. Und er brachte es nicht übers Herz, ihr das offen zu sagen.
Die Schuld an allem gab John sich selbst. Ciara wusste nichts davon. Er glaubte einfach nicht, es erwähnen zu müssen, denn ganz gewiss war nur er allein schuld, und er hatte kaum die Kraft, ein Wort darüber zu sagen, geschweige denn das Offensichtliche auszusprechen. Schließlich hatte er sie zu dem Ausflug gedrängt, obwohl er doch wusste, dass sie es vorgezogen hätte, zu Hause zu faulenzen, wie sie es an den Sonntagen liebte, ohne einen Schritt vor die Tür zu machen. Es war, als bestünde an diesem einen Tag die Welt ausschließlich aus ihrem neuen Haus. Sie war wie ein Kind mit einem Puppenhaus voller Träume, das immer noch nicht glauben kann, dass es ganz allein ihm gehört. So gab es keinen einzigen Stuhl und keine einzige Lampe, die sie nicht angehimmelt hatte. Das Haus war alles, was sie sich je gewünscht hatte – und doch nur eine weitere Sache, die sie verlieren musste.
Ihre letzte warme Mahlzeit war ein altmodisches, deftiges Frühstück gewesen – Johns einzige Spezialität – mit dicken Scheiben Sauerteigbrot, die krumm wurden, egal wie er sie schnitt. Er erinnerte sich noch genau daran. Das Eigelb war wie immer ausgelaufen. Wenn er mit der Pfanne hantierte, trommelte Ciara jedes Mal mit den Fingern auf den Tisch. Die Wahrscheinlichkeit, dass er Herr über die Eier wurde, hatte sich seit ihrem Kennenlernen zwar nicht vergrößert, aber es machte ihre Sonntage doch etwas spannender. Er hätte jeden Bissen genießen sollen, statt das Frühstück wie etwas Gewöhnliches zu behandeln, das immer da sein würde und so normal war wie Sonnenlicht, frische Luft und alle anderen Dinge, die man für selbstverständlich hält. Er hatte am Fenster über der Küchenspüle gestanden und einen Becher übertrieben lange abgewaschen, um zu lauschen, wie er unter dem warmen Wasser quietschte. Das hohe Gras der fernen Felder hatte unter dem sommerlichen Blau wie Wimpern gewirkt, die ihm zuzwinkerten.
In diesem Augenblick kam ihm der Gedanke, einen Ausflug zu unternehmen. John stellte sich vor, dass es ein vollkommen schöner Tag werden würde; ein Tag, dessen gemeinsame Erinnerungen nie verblassen könnten. Wenn er nur gewusst hätte, welches Grauen solche Ideen hervorzubringen vermochten.
Ciara saß in der Ecke der Couch und hatte die flauschigen Socken an den Füßen, die zu ihren Sonntagsklamotten gehörten. Sie lächelte wie immer, wenn er zur Tür hereinschaute, summte vor sich hin und schaltete durch die Kanäle, auf der Suche nach einem Film, der ihm gefallen könnte. Niemals war es um sie gegangen. Wenn sie sich in seinen Arm schmiegte, wusste er nicht, ob ihre Augen offen oder geschlossen waren. Das war ihr vollkommener Sonntag, und für eine lange Zeit änderte sich daran auch nichts. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als John alles ruinieren musste.
»Komm schon«, sagte er und klatschte in die Hände. »Wir gehen auf Abenteuerreise!«
Sie betrachtete ihn mit aufgerissenem Mund und diesem wunderbar erstaunten Blick, wie sie es immer tat, wenn er sie überraschte. Ciara hielt mit dem Daumen über der Fernbedienung inne und warf einen beinahe betrübten Blick auf den Fernseher. Eigentlich hatte sie keine Lust, und John wusste das ganz genau. Ihr Sonntag hatte zu seinem natürlichen Rhythmus gefunden, und Ciara hatte die kommenden Stunden bereits geplant, so wie ein routinierter Schiffskapitän, der vertraute Gefilde durchkreuzt. Dennoch beschloss sie, mitzuspielen und all seine Wünsche zu erfüllen, solange sie nur zusammen waren.
»Wohin fahren wir?«, fragte sie und beugte sich vor, wobei sie die Aufregung vortäuschte, die John so begierig aufnahm, als wäre sie echt.
»Connemara«, erwiderte er. »Es ist nicht weit von hier, und seit wir hergezogen sind, haben wir nur die Hauptstraßen befahren. Lass uns weiter vordringen und auf Entdeckungstour gehen. Blauer Himmel, Berge und Schafe!«
»Schafe?«
»Die sind hier wirklich überall«, antwortete er lachend und breitete die Arme aus. »Kilometerweit gibt es nichts anderes als Schafe.«
»Okay, mein Hübscher!« Sie erhob sich von der Couch und stakste mit steifen Beinen zu ihm hinüber. »Ich fahre, wohin du willst.« Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. »Außerdem hattest du mich schon gewonnen, als du ›Schafe‹ gesagt hast.«
»Da draußen gibt es nur … ein Schaf neben dem anderen«, antwortete er grinsend und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Du kannst dir eins aussuchen, das packen wir dann hinten in den Wagen.«
Das war der Moment, in dem er seine Frau noch in einem Haus in den Armen gehalten hatte und nicht in einem Gefängnis aus Glas und Beton; das war der Moment, in dem er sie hätte retten können. John wünschte sich, Ciara ein wenig länger gehalten zu haben. Wenn er sie doch nur gefragt hätte, was sie wirklich tun wollte, auch wenn er es längst gewusst hatte. Wahrscheinlich hatte sie schon ein halbes Dutzend Filme für ihn ausgesucht. Mit ihrer tiefen, theatralisch klingenden Stimme würde Ciara die Beschreibung vorlesen und er würde den jeweiligen Gewinner bestimmen. Vielleicht wäre ein besserer Ehemann nicht so egoistisch gewesen. In seinen Ohren klang ein Tag auf der Couch inzwischen geradezu himmlisch.
John blieb stehen, wischte sich den Schweiß von der Stirn und rang nach Luft, die wie Schimmel in seine Lunge drang. Die Jahreszeiten hatten keinen Einfluss auf das Waldgebiet. Eine ewige Kälte war dort gefangen und stieg als Nebel aus den tieferen Schächten auf. Es war ein Friedhof aus Bäumen mit schwarzer, weicher Erde, die auch an trockenen Tagen feucht und mit einer albtraumhaften Aura aus Tod und Fäulnis versehen war. Die Stille wirkte zermürbend. Johns unbeholfene Schritte wurden von allen Seiten nachgeahmt, ihr schwindelerregendes Echo führte seine Sinne in die Irre. Unbedingt musste er den Kurs beibehalten. Schließlich hing Ciaras Leben davon ab, dass er nicht vom Weg abkam.
Die finsteren Tiefen des Waldes machten einen urwüchsigen und trügerischen Eindruck. Wie in einem Spiegellabyrinth traktierten sie Johns Augen und verleiteten ihn, an sich zu zweifeln. Zu oft hatte er schon innegehalten, um den gerade zurückgelegten Weg mit dem vor ihm liegenden zu vergleichen, ohne dabei einen Unterschied festzustellen. Vor seinem geistigen Auge kreiste eine Krähe über dem Wald – als würde irgendein Tier das wagen – und beobachtete ihn, John, während er immer wieder denselben übermächtigen Teil der Hölle umrundete wie eine Ratte in einem Laufrad.
Er konnte sich nicht erinnern, aus welcher Richtung sie gekommen waren, als das Auto schließlich am Waldrand liegen blieb. Sie...
Erscheint lt. Verlag | 8.7.2024 |
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Übersetzer | Helga Köller |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
ISBN-10 | 3-98676-153-5 / 3986761535 |
ISBN-13 | 978-3-98676-153-0 / 9783986761530 |
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