Der Doppel-Schreier (eBook)
516 Seiten
tredition (Verlag)
978-3-384-19721-4 (ISBN)
Lisei Luftvogel, geboren im Ruhrgebiet und aufgewachsen in der linksalternativen Szene, hat eine bewegte Vergangenheit. Bereits als Kind reiste sie durch Europa und erlernte zahlreiche Sprachen. Ihre akademische Laufbahn führte sie nach Perugia, wo sie Philosophie, Anthropologie und Assyrisch-Babylonisch studierte, und später nach Venedig, wo sie Arabisch und Jiddisch lernte. Ihre Reisen nach Syrien und in den Libanon sowie ihre Erfahrungen in der linken Alternativszene ihrer Eltern und ihre Studien von Autobiografien und sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschungen zu Geheimdiensten, Kriegen, Ideologien und deren Auswirkungen prägen ihre tiefgründigen und vielschichtigen Erzählungen. Luftvogel lebt seit über zwanzig Jahren in Ferrara, wo sie als Deutsch- und Feldenkrais-Lehrerin tätig ist. Ihre umfassenden Kenntnisse und persönlichen Erfahrungen spiegeln sich in ihren literarischen Werken wider.
Lisei Luftvogel, geboren im Ruhrgebiet und aufgewachsen in der linksalternativen Szene, hat eine bewegte Vergangenheit. Bereits als Kind reiste sie durch Europa und erlernte zahlreiche Sprachen. Ihre akademische Laufbahn führte sie nach Perugia, wo sie Philosophie, Anthropologie und Assyrisch-Babylonisch studierte, und später nach Venedig, wo sie Arabisch und Jiddisch lernte. Ihre Reisen nach Syrien und in den Libanon sowie ihre Erfahrungen in der linken Alternativszene ihrer Eltern und ihre Studien von Autobiografien und sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschungen zu Geheimdiensten, Kriegen, Ideologien und deren Auswirkungen prägen ihre tiefgründigen und vielschichtigen Erzählungen. Luftvogel lebt seit über zwanzig Jahren in Ferrara, wo sie als Deutsch- und Feldenkrais-Lehrerin tätig ist. Ihre umfassenden Kenntnisse und persönlichen Erfahrungen spiegeln sich in ihren literarischen Werken wider.
1.
Warum sie zu diesem verdammten Touri-Turm wanderten? Eine romantische Idee ihrer Mutter. Es regnete in Strömen und Ruth meinte, es sei eine Gelegenheit, diesen Ort so leer zu erleben wie früher, als sie dort in den Siebzigern mit dem Bulli gestanden hatten. Also zogen sie los, mit Regenjacken und Schirmen. Zum Glück gab es in Pisa Arkadengänge, doch das letzte Stück mussten sie durch den Regen laufen. Was Ruth wohl mit dieser Zeit verband? Zara erinnerte sich daran, dass sie damals noch eine ganze Familie gewesen waren und ihr Vater die Suppe mit seinen scharfen Gewürzen verdorben hatte, die er von einer seiner Reisen mitgebracht hatte. Sie hatte an jenem Abend so lange gezetert, bis Ruth sie mit einem Fünftausend-Lire-Schein für eine Lasagne zur nächsten Tavola Calda geschickt hatte, ein kleiner Triumph damals. Ihre Mutter stapfte neben ihr her und pfiff Singing in the Rain. Sie behauptete, dass sich bei Regen das Wesen der Stadt verändere. Am Piazza dei Miracoli waren ihre Füße und Hosen bereits mit Wasser durchtränkt.
Johannes? Stand da wirklich Johannes? Ohne Regenschirm und mitten auf der nassen Wiese. Zara erkannte ihn an seiner zackigen Bewegung und seiner dürren, hochgewachsenen Statur, obwohl sie ihn seit zweieinhalb Jahrzehnten aus den Augen verloren hatte. Johannes der Fotograf, Reinhards alter Kompagnon aus ihrer Reporterzeit. Nein, das konnte nicht wahr sein. Er kehrte ihnen den Rücken zu, vielleicht war er es gar nicht. Dann neigte er den Kopf seitlich und zuckte mit der rechten Schulter. Doch, das war er, zweifellos. An sein komisches Zucken konnte sie sich genau erinnern. Der alte Freund ihres Vaters stand keine dreißig Meter von ihnen entfernt auf der im Schlamm versunkenen Wiese des Wunderplatzes.
„Gehen wir zum Baptisterium?“ Ruth kehrte ihr schlagartig den Rücken zu und lief davon. „Da ist Johannes“, sagte Zara. Ruth marschierte unbeirrt weiter. „Da ist Johannes“, schrie Zara ihr hinterher. Der Mann im Regen drehte sich um und Zara winkte.
„Zara? Nee, wie kommst du denn hierher? Du bist doch Zara?“ Natürlich war sie es. Johannes triefte vor Nässe. Er hatte wohl Ruths gleiche absurde Idee gehabt. Vielleicht war er auch in den Siebzigern mit seinem Bulli hier gewesen. Durch die Regentropfen blickte sie in sein faltiges Gesicht. Es sah aus wie früher, nur grau. Die langen dünnen Haare klebten ihm am Kopf. Er lächelte breit. Sie umarmten sich. Eine Halluzination? War das hier wirklich alles echt?
„Mensch, was machst du denn in Pisa?“, fragte Johannes.
„Ich pendle zwischen Pisa und Berlin, schon seit Jahren. Also, eigentlich wohne ich hier.“ Sie drehte sich um. „Mann, ich habe Ruth verloren.“ Vor ihr erstreckte sich die gähnend leere Wiese.
„Ruth?“ Johannes‘ Stimme bekam einen schnulzigen Unterton.
„Johannes, bist du allein hier?“
„Annette ist im Hotel geblieben.“
„Ach so.“ Zara kannte Annette nicht. „Lass uns Ruth suchen und dann einen Kaffee trinken gehen.“
„Machen wir.“
Johannes stapfte neben Zara unter ihrem Schirm Richtung Baptisterium. Eigentlich war der Schirm überflüssig, so nass, wie sie waren, trotzdem hielt sie ihn über ihre Köpfe. Zara erzählte von ihren Uni-Jobs in Pisa und Berlin, wissenschaftliche Mitarbeiterin, Philosophie und Kulturwissenschaften, momentan arbeite sie an einem Essay über die Zwischenwelt, eine Sphäre vor der Aufspaltung von Objekt und Subjekt, die nur Kinder und Verrückte wahrnahmen. Das analytische Denken hindere die Erwachsenen daran. Johannes nickte. „Interessant.“ Im Wintersemester sei sie vielleicht wieder in Berlin, mal sehen. Sonst war sie auch Deutschlektorin oder Rikscha-Fahrerin. „Toll“ und „ach mein Gott, die Zara“, sagte Johannes dazwischen. Sie erreichten das Baptisterium und traten durch eine der Pforten des runden Taufgebäudes. Stille. Dann ein Niesen hinter einer Säule. „Ruth“, rief Zara. Sie lugte hervor. „Mann, warum musst du einfach abhauen.“ Von allen dreien war sie die Trockenste. Mit ihrer Jeansjacke und dem kurzen Punkerschnitt sah sie schick aus. Johannes hatte nur noch Augen für sie. Ruth und Johannes umarmten sich innig, sie küssten sich sogar. Warum war Ruth gerade verschwunden, wenn sie sich jetzt so freute? Das Verhalten ihrer Mutter war Zara mal wieder ein Rätsel.
„Wir sind ja alle total nass“, lachte Ruth.
„Gehen wir einen Kaffee trinken? Ich kenne eine Bar mit leckeren Cornetti“, schlug Zara vor. Johannes‘ Augen klebten weiter an Ruth.
„Du immer mit deinen Hörnchen“, antwortete Ruth. „Es ist doch schon Mittag.“
„Na und.“
„Lass uns lieber zusammen essen gehen.“
„Ich muss gleich ins Hotel zu Annette, aber für einen Kaffee bin ich zu haben“, wandte Johannes ein.
Zara grinste. „Na, dann lasst uns gehen.“
„Echt ein komischer Zufall“, sagte Johannes, „vor kurzem habe ich Reinhard in Damaskus getroffen und jetzt euch hier.“
„WAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAS?“, Zara schrie so laut, dass es durch die ganze Kuppel hallte. Die Wände drehten sich. Sie legte die Hände auf den Kopf. Die Kolonnen drehten schneller. Der Fußboden sah aus wie Spinnweben. Sie zog den Kopf nach hinten und schrie weiter in Richtung ockerfarbener Kuppel. Die schwarz-weißen Säulen drehten sich, sie drehten sich, sie drehten sich. Zara schrie, sie schrie wie der Schrei von Munch. Das Bild hatte ihr als Kind Angst gemacht. Jetzt war sie selbst dieser Schrei. Schrei. Schrei. Schrei. Uaaaaaaaaaaaaaah. Ruth klebte ihr eine. Der Schrei blieb ihr in der Kehle stecken. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Zara Ruth an und schlug sie zurück. Ruth taumelte leicht. Johannes machte ein paar Schritte rückwärts in Richtung Ausgang. Die Wände rotierten nicht mehr. „Du bleibst hier“, schrie Zara Johannes an. „Ja“, sagte er leise. „Das geht hier alle an, nicht nur Ruth und mich. Komm bitte rein.“
Ruth setzte sich jenseits der Absperrung auf die Marmorstufen des Taufbeckens und begann zu weinen. Johannes nahm neben ihr Platz und streichelte ihr den Rücken.
„Johannes! Was hast du gesagt?“ Zaras Stimme war rau geworden.
Stille. Eine Minute Stille. Nur Ruths Schluchzen war zu hören, sie putzte sich die Nase.
„Ich habe Reinhard in einer Eisdiele in Damaskus getroffen.“
„Sag mal, spinnst du?“
„Wie?“
„Reinhard lebt? RUTH! Ihr seid doch alle bescheuert. Was geht hier ab?“
Johannes blickte hilfesuchend zu Ruth.
„Lass uns in Ruhe darüber sprechen“, sagte Ruth mit gebrochener Stimme.
„Du spinnst doch total. Die Beerdigung war gar nicht echt?“
„Was für eine Beerdigung?“, fragte Johannes.
„Wusstest du davon gar nichts?“, schrie Zara.
„Ich? Nein. Was für eine Beerdigung?“
„Seiner Lederjacke“, sagte Ruth leise.
„Ich habe geglaubt, er sei tot, du weißt das, Ruth.“
„O Mann, Scheiße“, sagte Johannes.
Stille. Ruth hielt den Kopf zwischen ihren Händen. Sie weinte aber nicht mehr.
„Sollten wir nicht besser in aller Ruhe darüber weiterreden, in einer Bar? Es hat aufgehört, zu regnen.“ Johannes stand auf und stellte sich wieder an den Ausgang. Von draußen brach die Sonne herein. „Du willst dich doch nur da rausziehen“, klagte Zara ihn an. „Ich möchte jetzt von euch beiden wissen, was hier läuft.“
„Johannes hat recht, lass uns in eine Bar gehen“, wandte Ruth ein.
„Ich gehe jetzt in keine Bar und ihr bleibt hier! Wovor habt ihr denn Angst, vor Jesus? Bei dem Wetter kommt hier sowieso keiner rein. Draußen ist alles voller Schlamm.“
Ruth atmete laut. „Kannst du dich erinnern, als ich dir an der Beerdigung erklären wollte, dass er in einer anderen Ebene lebt?“
„In einer anderen Ebene? Das hat sich nach religiösem Zeugs angehört. Mein Gott! Buddhistische Reinkarnation oder so. Er war doch in Tibet gewesen.“ Zara blickte zu Johannes. „Und von einer bescheuerten Versuchskatze hat sie mir auch erzählt, eine, die zugleich lebt und tot ist.“
„Schrödinger“, sagte Ruth.
Johannes stand in der jetzt von Licht durchfluteten Pforte. „Schrödinger?“, fragte er halblaut.
„Ja genau, Schrödinger. Weißt du Ruth, wie lange ich mir damit den Kopf zerbrochen habe. Diese Geschichte der anderen Ebene. Wieso sollte Syrien eine andere Ebene sein, oder Indien?“
„Weil es Ebenen gab, von denen man besser nichts wusste. Mitwissen ist nicht immer ungefährlich. Reinhard war da in was reingerutscht. Ich wollte damit nichts zu tun haben und musste dich schützen.“
Johannes nickte. „Ich bin nach dem Massaker von Sabra und Schatila aus der Kriegsreportage ausgestiegen. Das hat mich fertig gemacht. Die Albträume haben mich geplagt. Manchmal habe ich immer noch welche. Es hat ewig gedauert, bis ich wieder ein normales Leben führen konnte.“
Zara sah zum angeleuchteten Johannes. „Was hat das mit den Ebenen und gefährlichem Mitwissen zu tun?“
„Das versteht man nur, wenn man es selbst miterlebt. Ich wollte da nicht weiter reinrutschen.“
„Das hört sich an, als hätte Reinhard Lepra, oder ihr enthaltet mir weiter Dinge vor. Und jetzt? Jetzt hat er keine Lepra mehr? Seit wann? Johannes, du hast ihn doch getroffen, Mann.“
„Ich habe ihn zufällig getroffen“, sagte Johannes mit kleinlauter Stimme. Er bewegte sich auf Zara zu und legte ihr eine Hand auf die Schulter.
„Ruth, du hast gewusst, dass er lebt, und hast es mir vorenthalten, jahrelang. Du hättest es mir sagen können. All die Jahre. Warum?“
„Ich hatte es versucht, dir zu erklären, du...
Erscheint lt. Verlag | 25.6.2024 |
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Verlagsort | Ahrensburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Beirut • Bewaffneter Kampf • Damaskus • Deutscher Herbst • Familienbande • Familiengeheimnisse • Freundschaft • Geheimnisse • Historische Romane • jüngere Geschichte • Kalter Krieg • Kulturelle Missverständnisse • Kultur und Politik • Libanon • Liebe • Liebe und Freundschaft • Menschen • Naher Osten • Palästinenser • Palästinenserkonflikt • Persönliche Entwicklung • Philosophie • Reiseabenteuer • Reisen • Roadstory • Syrien • Terrorismus • Walter Benjamin • Wissen • Zwischenwelt • zwischenwelten |
ISBN-10 | 3-384-19721-6 / 3384197216 |
ISBN-13 | 978-3-384-19721-4 / 9783384197214 |
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