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König Krähe

Die Crawford-Chroniken 2

(Autor)

Buch | Softcover
418 Seiten
2024
8280-edition.ch (Verlag)
978-3-03977-043-4 (ISBN)
CHF 22,25 inkl. MwSt
Im Schatten von Legenden und Geheimnissen
beginnen die Crawfords, ihre Ränke zu schmieden.

In wispernden Schatten, finsteren Höhlen und ihrer bewegten Familiengeschichte
offenbaren sich den Crawfords Wahrheiten, die ihren Zusammenhalt auf die Probe
stellen, und ihnen schwere Gewissensentscheidungen abverlangen. Endlich
erfahren sie, wer sie wirklich sind, und welche Bürde ihre Herkunft bedeutet.
Derweil arbeiten sie für ihren guten Ruf und schmieden erste Bündnisse, nicht
ahnend, dass der Feind längst mit am Tisch sitzt. Eine blutige Fehde droht, als der
Erbe einer mächtigen Adelsfamilie gewalttätig wird. Lassen die Crawfords den
jungen Mann davonkommen, oder statuieren sie an ihm ein Exempel?
Und während im Verborgenen die Pläne zum Sturz der Krähen heranreifen, fällt
ihnen die Krone Twiflotens in die Hände. Wenn Cassander will, kann er schon
morgen König sein.
In einer mittelalterlichen Welt voller Konflikte kämpfen die Crawfords für das Volk
und gegen ihre dunkle Vergangenheit.
Finden sie die Kraft, ihren Weg zu Freiheit und Gerechtigkeit zu gehen, gegen alle
äußeren und inneren Widerstände?

Ein Klopfen riss Fielding aus dem Schlaf. Er setzte sich auf und starrte in die Dunkelheit, lauschte und wagte kaum zu atmen. Neben ihm raschelte es und er hörte an Irvings Atem, dass auch er wach war. Über ihren Köpfen knarrte eine schlecht geölte Tür. Schwere Schritte ließen den Holzboden im Obergeschoss beben. Die Holztreppe ächzte. Fielding hielt den Atem an, spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten, während die Schritte näherkamen. „Was schleicht ihr hier rum, Jungs?“, murmelte Ford im Halbschlaf. „Das sind nicht wir“, flüsterte Irving. Ein Rumsen ließ Fielding vor Schreck zusammenzucken. Er biss in die Decke, um nicht zu schreien. Bleierne Stille füllte die lauernde Nacht, in der er nun nichts mehr hörte als das Pochen seines rasenden Herzens. „Diese verdammte Tür“, brummte Ford. Seufzend stand er auf und entzündete eine Kerze an der Glut des Ofens. Das Licht trieb die Dunkelheit der Nacht in die Ecken der Küche und ließ lebendige Schatten über die Wände tanzen. Ford durchquerte das Zimmer und prüfte die Eingangstür, steckte einen Keil in den Spalt und brummte zufrieden, weil sie nun nicht mehr rappelte. „Wird reichen.“ Der alte Späher legte sich wieder hin. „Das war nicht die Tür“, murmelte Irving. Ford wollte die Kerze ausblasen, aber Irving nahm sie ihm ab. „Hier geht jemand um.“ „Halt die Klappe, Junge. Die Kornmutter bläst und lässt es klappern.“ „Das waren Schritte“, widersprach Fielding. „Feigheit macht dem Vater Schande.“ Der alte Späher drehte sich auf die Seite und war kurz danach eingeschlafen. So sehr Fielding sich auch einredete, dass in diesem Haus alles mit rechten Dingen zuging, er bekam kein Auge mehr zu. Irving ging es genauso. „Meinst du es stimmt, was man sich über die Mühle erzählt?“ „Dass sie verflucht ist?“ „Ja.“ Fielding atmete durch. „Ich habe Blutflecken gesehen, da hinten am Tisch. Weißt du, was hier passiert ist?“ „Niemand weiß das, außer den Crawfords. Gestern Abend war ich im Mühlturm, bin ein Stück reingegangen … da drin … war mir nicht wohl. Diese Mühle ist ein böser Ort.“ Die beiden Freunde schwiegen. „Ich kann so nicht schlafen“, meinte Fielding irgendwann. Er stand auf und weil er sich so schutzlos fühlte, legte er sich eine Decke über die Schultern, deren Enden er vor der Brust zusammenhielt. Mit der Kerze in der anderen Hand ging er zum Absatz der Treppe. Dort blieb er stehen. Vor ihm lag der Aufgang in ein Loch aus gähnender Schwärze. „Meinst du wirklich, da oben geht jemand um? Die Fathers und Mothers sagen, das ist alles Aberglaube.“ „Komm wieder her.“ „Ich gehe nachsehen.“ „Bleib lieber hier, Fields. Ford hat gesagt, Mühlen machen einen verrückt.“ „Einer muss es machen.“ „Knochenhölle“, raunte Irving. Murrend erhob er sich aus seinem Lager, bewaffnete sich mit einem Stuhlbein und stellte sich neben ihn. „Ein Späher der Crawfords lässt seine Leute nicht im Stich.“ Die erste Stufe ächzte anklagend, kaum dass Fielding seinen Fuß auf sie setzte, als wolle sie alle Nachtwandler und Spuke auf die Eindringlinge aufmerksam machen. Er drehte sich zu Irving um, dem das Entsetzen ins Gesicht geschrieben stand. Sein Freund schüttelte den Kopf, formte stumm die Worte ‚Lass es‘ mit den Lippen, aber Fielding hatte es satt, sich vor seiner Angst zu fürchten. Mit rasendem Herzen wagte er sich eine weitere Stufe vor, dann die nächste. Das Kerzenlicht trieb die Dunkelheit vor sich her, drängte sie schließlich in einen Flur, der sich in undurchdringlicher Schwärze verlor. Irving fluchte leise und folgte ihm. Der Wind pfiff ums Haus und brachte das Gebälk zum Klappern. Die Kornmutter atmete ein. Ein kalter Hauch kroch in Fieldings Hosenbeine und strich durch seine Locken, die Kerzenflamme zuckte. Er hielt die Luft an, zählte innerlich bis drei und drückte die erste Tür auf. Vier Betten warfen tanzende Schatten an die Wände. Dies hier war ein Schlafzimmer. Er kniff die Augen zusammen, denn so wurden die Wesen, die hinter dem Vorhang wandelten, sichtbar. Eine dunkle Gestalt, die er insgeheim erwartet hatte, entdeckte er nicht. Er und Irving teilten einen Blick und ein zaghaftes Lächeln. Die nächste Tür öffnete Irving. Sie gab ein langgezogenes Knarren von sich, dasselbe Geräusch, das er vorhin gehört hatte. Wieder stob eine Böe ums Haus, fiel durch das marode Gemäuer ein, strich ihm über den Nacken und griff nach der Kerzenflamme. Eilig legte er seine Hand schützend um das tanzende Lichtlein, dabei rutschte ihm die Decke von den Schultern, ließ ihn fröstelnd und schutzlos zurück, und er glaubte, jeden Moment könne ihn etwas von hinten packen. Mit angehaltenem Atem starrte er auf die schrumpfende Flamme. Bitte nicht, bitte nicht, bitte nicht. Das Flämmchen war kaum mehr als ein winziger Punkt und er fürchtete schon, es würde in einer kleinen Rauchfahne aufgehen, dann, zuckend, wuchs es wieder in die Höhe. Die Kormutter atmete aus und der Wind flaute ab. Die beiden jungen Späher lachten vor Erleichterung. Mit neuem Mut leuchtete Fielding in den nächsten Raum. Hier gab es einen Schrank, ein Bett, ein Tischchen und einen Schemel. In einem Anflug von Waghalsigkeit betrat Fielding das Zimmer und versuchte, den Schrank zu öffnen, aber er war verschlossen. „Auch nichts?“, fragte Irving. „Nichts“, flüsterte Fielding. Im Umdrehen entdeckte er etwas auf dem Bett, halb verdeckt von den Resten einer Strohmatratze. „Warte.“ Er hockte sich hin. „Was hast du da?“ „Nur einen Knüppel.“ Fielding nahm den Knüppel und fühlte sich gleich wohler. Das Ding war schwer und lag gut in der Hand, hatte außerdem einen Lederriemen, den er sich ums Handgelenk legte. Er ging wieder hinaus auf den Flur und schritt mit neuem Mut voran zum letzten Raum. Behutsam drückter er die Tür auf. Die Scharniere waren gut geölt und verursachten nicht das leiseste Geräusch. Ihnen eröffnete sich der Blick auf ein Bett und eine bemalte Truhe. Inmitten der traurigen Verlassenheit des Hauses verströmte dieser Anblick etwas Liebevolles, Lebendiges. Aus zusammengekniffenen Augen spähte Fielding in den Raum und entdeckte wieder nichts, das sich dem Blick der Menschen sonst entzog. Er zuckte die Achseln. „War nur der Wind.“ „Nur der Wind.“ Erleichtert kehrten die beiden um. Auf halbem Weg zur Treppe fuhr der Wind abermals ins Haus. Fielding blieb stehen und lauschte dem Wispern der Kornmutter, die sanft seine Locken streichelte. Flüsterte sie eine Warnung? Er schüttelte den Kopf. Mühlen machen einen verrückt, wenn man nicht aufpasst. Fielding hob seine Decke auf und ging hinter Irving die Stufen hinab. Zurück in der warmen Küche klopften sie einander auf die Schultern und lobten ihre Tapferkeit. „Unmade and unspoken, beinahe hätte ich mich eingenässt.“ „Kno-chen-höl-le.“ Irving grinste. Im nächsten Moment aber gefror sein Lächeln. Alarmiert wirbelte Fielding herum. Was er sah, jagte ihm ein Prickeln durch den Leib: Über den Stiefeln, die bei der Tür standen, ragte der Schatten eines großen Mannes auf. „So schlimm war es gar nicht, Jungs.“ Ford räkelte sich und gähnte herzhaft. „Ich habe es ja gesagt: Das sind alles Ammenmärchen.“ Fielding und Irving tauschten einen wissenden Blick. „Wir sind in den Fields unterwegs, kein Rosenheini weit und breit und der Regen hat auch aufgehört. Was wollen wir mehr?“ Ford steckte sich Kaukraut in den Mund und bot den anderen davon an. Irving griff zu und Fielding wollte auch, aber Meisterin Zederin hielt ihn mit einem strengen Blick davon ab. Mit Grauen dachte Fielding an die letzte Nacht zurück: Der Schatten bei den Stiefeln hatte sich nicht geregt und beim zweiten Hinsehen waren er und Irving sich nicht mehr sicher gewesen, ob er tatsächlich die Form eines Menschen hatte. Am Ende hatten sie sich darauf geeinigt, dass Mühlen einen verrückt machten. Trotzdem hatten sie die restliche Nacht kein Auge zugetan. Sie packten ihre Sachen. „Woher hast du den?“, fragte die Meisterin mit Blick auf den Knüppel, den er gerade in seinen Rucksack stecken wollte. „Lag oben. Auf einem der Betten.“ „Willst du die Crawfords etwa bestehlen?“ „Oh …“ „Gib her und wir vergessen das Ganze.“ Zögerlich hielt Fielding ihr den Knüppel hin. „Das ist doch n…“ Ihre Augen wurden eng und er schluckte seine Widerrede runter. Kaum hatte er ihr den Knüppel gegeben, schlug sie ihn in ein Tuch ein und verstaute ihn im Rucksack. Sie bestand auch darauf, ihn auf dem Rückweg zu tragen, was sehr ungewöhnlich war. Normalerweise musste er immer das Gepäck schleppen. Sie ließen die Mühle hinter sich. Nach wenigen Stunden Wanderung kam Junction in Sicht. Meisterin Zederin stellte Ford und Irving dazu ab, die Umgebung im Blick zu behalten und sie falls nötig zu warnen. Fielding durfte sie in die Stadt begleiten. Junction erstreckte sich über drei Hügel. Damit ähnelte der kleine Ort angeblich der Königsstadt, die auf dreimal drei Hügeln erbaut wurde. Manche unkten darum, Junction sei Worthingtons kleine Schwester. Sie waren auf der Südseite der Windy Fields, nahe an der Bernsteinküste. Darum gab es hier eine Garnison und durch die Straßen liefen reichlich Gardisten mit den fünf bunten Rosen auf ihren Wappenröcken. Heute war Markttag und Fielding frohlockte, dass er warten durfte, während die Meisterin in die Heimstätte ging. So hatte er wieder Gelegenheit, die jungen Leute zu beobachten. Meisterin Zederin kehrte viel zu schnell zurück. „Die Heimstätte ist verschlossen. Ob ich einen Gardisten anspreche?“ „Besser nicht.“ Sie standen noch immer unschlüssig vor der Heimstätte, als sie eine ältere Dame ansprach. Die Dame stellte sich als Jarra vor und erklärte ihnen, das hohe Paar sei kürzlich verstorben. „Das Haus wird nur noch zu den hohen Festtagen geöffnet.“ Meisterin Zederin fragte Jarra aus, aber Fielding hörte bald nicht mehr zu. Gedankenverloren starrte er auf die schönen Vorgärten und verlockenden Hinteransichten von Junction. So viele unbedeckte Schultern und Knie, nachlässig zugeknöpfte Westen und freie Bäuche gab es in Greentown nicht zu sehen. Dies war nun mal Heruwidland. Schönstes Heruwidland! Ihm wurde unangenehm bewusst, dass seine Meisterin ihn mit strenger Miene beobachtete, und das trieb ihm gleich wieder die Schamesröte ins Gesicht. „Also, wo könnte der Schlüssel sein?“, fragte seine Meisterin langsam. Grinsend entblößte Jarra unvollständige Zahnreihen. „Wenn ich ganz genau darüber nachdenke, fällt es mir schon wieder ein.“ Noch immer schaute Meisterin Zederin so seltsam drein. Was wollte sie nur damit sagen? Dann endlich verstand Fielding. Eilig kramte er ein paar Kupferstücke hervor, schaute, ob zufällig ein Gardist zu ihnen herübersah, und steckte sie Jarra zu. „Shimmer and Shine, alle mein“, sang Jarra. „Bin gleich wieder da.“ Verlegen besah Fielding seine Schuhe und entging so Zederins stummem Tadel. Schon im nächsten Moment nahm etwas gänzlich anderes seine Aufmerksamkeit gefangen. Die Schneidermeisterin folgte seinem Blick. „Wirklich niedlich.“ Fielding spürte, wie sein Gesicht erglühte. „Die Mädchen der Windy Fields haben ihren Reiz, das muss man ihnen lassen.“ „Naja, vielleicht.“ „Diese Damen können dich nicht verzücken? Also hast du doch eine Freundin in Greentown? Oder gefallen dir eher Männer?“ „Uh … äh, … ich …“ Vor lauter Verlegenheit scharrte Fielding mit der Fußspitze im Dreck. Die Meisterin winkte ab. „Mich geht es ja nichts an. Du kannst machen, was du willst, mit wem du willst, wann du willst, wenn du meine Meinung hören willst. Ich sage immer, wer eine Chance ungenutzt vorüberziehen lässt, wird sich darüber bis zum letzten Tag ärgern.“ Über diese Worte musste Fielding nachdenken, und während er sie in seinem Kopf hin und her wälzte, kehrte Jarra zurück. Mit selbstzufriedener Miene drehte sie einen großen Schlüssel um den Finger, mit dem sie großzügig die Pforte der Heimstätte aufsperre. Die beiden Frauen betraten das Gebäude und bedeutetem ihm, draußen zu warten. Fielding war froh, dass er für den Moment allein war. Die neugierigen Fragen der Meisterin hatten ihn reichlich aus der Ruhe gebracht. Auspustend ließ er sich am Gemäuer hinabrutschen und nahm seine Beobachtungen der schönen Heruwid von Junction wieder auf. In Greentown gab es sicher auch schöne Leute, aber wie sollte er das wissen, wenn sie sogar im Sommer lange Ärmel, Röcke und Hosen trugen? Er kam aus dem Staunen nicht heraus und die Westen und Sangenröcke, oder besser gesagt das, was sie nicht verbargen, ließ seinen Kopf leicht und seine Gedanken schwach werden. Hatte die Meisterin vielleicht recht? Neulich hatte Fielding beobachtet, wie Gemna mit Buchert auf dem Marktplatz plauderte. Er war langsam an ihnen vorübergegangen und hatte zu ihnen herübergeschielt. Natürlich war das Gemna aufgefallen. Sie hatte mit vorgehaltener Hand gekichert und ihm schöne Augen gemacht. Daraufhin hatte Buchert sie am Arm gepackt und weggezogen. Dabei war Gemna gar nicht so interessant für ihn gewesen. Wieder seufzte Fielding. Das war eine hoch hängende Frucht und ohne eine verdammt lange Leiter würde er da nicht drankommen. Es ist aussichtslos. Fielding hörte die Stimme der Meisterin und kam hastig auf die Beine. „Es tut mir leid, dass Ihr nicht gefunden habt, was Ihr sucht“, sagte Jarra. „Dann haben sie also doch alles nach Drei Felsen geschafft. Naja, bis auf die Statuen und Bänke vielleicht.“ Fielding wusste nicht, wo Drei Felsen lag, und die Meisterin erklärte es ihm: Sie mussten nach Süden, bis zur Bernsteinküste, und wenn sie am Meer waren, mussten sie noch weiter gen Sonnuntergang. Bis dorthin würden sie noch einmal zwei Tage brauchen. Kaum war Jarra außer Hörweite, machte die Meisterin ihrem Ärger Luft. „Was sucht Ihr denn, Meisterin? Vielleicht kann ich Euch helfen.“ „Tut mir leid, Junge, aber das ist geheim. Alles müssen wir uns nicht erzählen, hm?“ Sie zwinkerte und Fielding spürte, wie ihm gleich wieder die Röte ins Gesicht kroch. „Komm jetzt, ich will weiter. Du hast es gehört, wir müssen zur Küste.“ Die Sonne hatte den größten Teil ihres Weges über den Himmel hinter sich gebracht, als sie endlich das Meer sahen. Sie verließen die gepflasterte Landstraße und ritten bis zum Rand der Klippen. Von hier aus bot sich ein schier überwältigender Ausblick auf die Schlingende See. Endlos zog sich das wogende Meer dahin und vermählte sich erst in weiter Ferne mit dem Horizont. Gegen den felsigen Strand rollten jene Wogen, die den Bernstein anspülten, der Smite and Stride reich gemacht hatte, und von dem nicht wenige sagten, er gehöre den Heruwid. Einst herrschte die Herwaz Littenstein über dieses Land und sie kontrollierten den Bernstein. Dann kamen die Comemen und mit ihnen eine Stirp, das war eine Ritterschaft unter einem Adligen, heute würde man ihn einen Earl nennen. Diese Stirp nannte sich Redleton. Es kam zum Streit zwischen der Stirp Redleton und der Herwaz Littenstein. Die Heruwid, die damals noch in Langhäusern wohnten, Schilde aus Holz trugen und sich in Felle kleideten, waren den Comemen mit ihren gerüsteten Rittern und Stahlschwertern hoffnungslos unterlegen. Um diesen Nachteil wettzumachen, lockten die Angehörigen der Herwaz Littenstein die Redletons in einen Hinterhalt und machten Mann und Pferd nieder. Die fünf Rosen, ebenfalls Stirps der Comemen, nur weitaus mächtiger als die Redletons, schworen Rache für ihre Vettern und fielen über die Littensteins her. Die Heruwid hatten keine Chance gegen die geballte Macht der hochgerüsteten Ritter der Comemen und sie rissen die Rosen die Bernsteinküste an sich. Da sie nicht nur streitlustig, sondern auch gierig waren, fielen sie bald nach dem Untergang der Herwaz Littensteins übereinander her. Am Ende war die Herwaz Littenstein Geschichte, ebenso drei der fünf Rosen, die Stirps Prime, Lovegood und Rose. Die zwei Rosen, die diesen Krieg überstanden und die Macht über die Windy Fields mit ihrer wertvollen Bernsteinküste festigen konnten, hießen Smite und Stride. Fieldings Großvater Erlemann war ein stolzer Heruwid. Seine Mutter Golda aber war eine blonde Comemen. Andauernd gerieten die beiden über diese Geschichte in Streit. Großvater sagte, die fünf Rosen hätten der Herwaz Littenstein den Angriff auf die Redletons angehängt, damit sie einen Vorwand hatten, sie zu bekriegen und die Bernsteinküste einzunehmen. Seine Mutter sagte, die Littensteins hätten die Redletons aus reiner Böswilligkeit in einen Hinterhalt gelockt und die fünf Rosen hätten sie gerächt. Dieser Streit zog sich nicht nur durch die Familie Knox, sondern durch ganz Twifloten. Die Heruwid behaupteten, die Rosen seien Lügner, die Commoners wiederum verbreiteten die Geschichte, die Littensteins seien die Verräter gewesen, die den Tod verdient hatten. Wissen konnte das eigentlich niemand mehr. Das alles lag wohl an die eintausend Jahre zurück. Fielding ging hinunter zum Meer, Irving hintendrein. An den mit dunklen Steinen übersäten Strand schlugen kräftige Wellen und das Wasser schäumte. Die Luft duftete nach Tang und er schmeckte das Salz auf seinen Lippen. Fielding breitete die Arme aus und rannte los. Johlend rannte ihm Irving hinterher. Sie rannten, bis sie nicht mehr konnten, und gingen dann barfuß durch den Sand und suchten Muscheln. Irving hob einen unförmigen Stein auf und als er ihn gegen die Sonne hielt, leuchtete er wie orangenes Gold. Ein Bernstein. „Wunderschön“, murmelte er und gab ihn Fielding. Er wog das Stück Bernstein in der Hand. Die Meisterin und Ford hatten sie eindringlich davor gewarnt, auch nur das kleinste Stück davon mitzunehmen. Darauf stand hierzulande nicht weniger als der Tod. Fielding steckte ihn dennoch ein. „Fields, ich … habe nachgedacht.“ „Über uns?“, fragte Fielding mehr im Scherz, aber Irving lächelte nicht. Der junge Späher setzte sich auf einen Felsen und blinzelte in die tiefstehende Sonne. „Weißt du … Mir fällt das nicht leicht.“ Etwas im Tonfall seines Freundes ließ Fielding aufhorchen. Er setzte sich neben ihn und gemeinsam sahen sie eine Weile aufs Meer hinaus. „Mich haben Mädchen nie sonderlich interessiert, Fields.“ „Mich auch nicht.“ Wieder schwiegen sie Sacht berührte Irving seine Hand. „Irv, ich …“ „Schon gut.“ Der junge Späher zog die Hand zurück und rutschte vom Felsen. Lange stand er da und starrte hinaus aufs Meer, während der Wind seine blonden Haarsträhnen hin und her zerrte. Fielding drehte den Bernstein zwischen den Fingern. „Weißt du, Irv, du … bist mein Freund.“ „Schon gut, Fields. Schon gut.“ „Ich bin …“ Ein Lachen perlte von Irvings Lippen. „Es tun sich auch andere Gelegenheiten auf! Für dich und für mich. Komm schon, Bruder. Lass uns zurück zu den Alten gehen.“ Fielding sprang auf die Füße. Er holte aus und warf den Bernstein ins Meer. „Zu unseren alten, unerschütterlichen Anführern.“ *** Aus der Steilküste schälten sich drei schmale Felsen. Sie sahen aus wie riesige Menschen, eingefroren in der Zeit und an diesem Ort. Die Abendsonne warf harte Schatten auf die Körper der Steinkolosse, zeichnete ihre Konturen nach. Der alte Ford deutete auf die vordere Gestalt. „Sie haben Gesichter. Wenn du genau hinsiehst, erkennst du sie.“ „Tatsächlich!“ Irving staunte mit offenem Mund. „Eine Frau! Sie trägt eine Haube auf dem Kopf.“ „Das ist die gütige Allmutter“, sagte Ford. „Drei Felsen, drei Götter. Dort in den Schatten steht der Knochenkönig.“ „Er hat kein Gesicht.“ „Der Tod hat viele Gesichter und doch keins. Weißt du das denn nicht, Junge?“ Irving sagte nichts, aber Fielding sah ihm an, wie genervt er davon war, von dem Alten ständig als ‚Junge‘ bezeichnet zu werden. Er warf seinem Freund ein Lächeln zu, um ihn zu besänftigen, und tatsächlich erwiderte er es. Leere Blicke aus verwitterndem Gestein folgten ihnen, als sie an den Statuen entlanggingen. Ihm war, als starrten sie bis auf den Grund seiner Seele, und er hatte Angst, dass sie dort Geheimnisse entdecken würden, von denen sie besser nichts wissen sollten. Hinter den Statuen war eine Öffnung in den Felsen geschlagen, aus der orangener Feuerschein leuchtete. Im Näherkommen erkannte Fielding mehr Details. Das war nicht einfach nur ein Loch, sondern der mit Ornamenten verzierte Eingang zu einer Heimstätte. „Wartet hier, ich bin gleich zurück“, sagte die Meisterin und betrat den schmalen Pfad, der sich durch die Felsen zur Heimstätte schlängelte. Sie verschwand in den Tiefen des Gesteins und Fielding war wieder einmal zum Warten abgestellt. Unablässig brandete das Meer gegen den Fuß des Steilhangs. Möwen schossen über den Rand der Klippen und jagten schreiend über ihre Köpfe hinweg. Fielding schaute auf zu den Statuen. Diese stummen, geduldigen Giganten hatten Königreiche kommen und gehen sehen und vor ihren Augen würden andere erblühen und wieder verdorren. Alles Leid und alle Freude, das den Menschen widerfuhr, hatten sie tausende Male gesehen und es würden noch abertausende folgen. Dieselben Bitten um Gerechtigkeit, Gnade, Glück, Brot und Liebe wurden von jeder Generation wiederholt, die zu ihren Füßen kniete, von Bauern, Earls und Königen gleichermaßen. Immer und immer wieder. Er war nur ein Schneiderlehrling und gegen die Götter klein und unbedeutend. Seine Sorgen und Bedenken waren gegen sie klein und unbedeutend. Sein Freund Irving saß auf einem Felsen an der Bruchkante der Klippen und starrte aufs Meer. Er sah traurig aus, irgendwie verloren. Fielding fühlte sich von den Göttern aus Stein beobachtet und er meinte, in ihren Gesichtern Wohlwollen zu erkennen. Die Angst, dass sie seine Geheimnisse missbilligen könnten, schwand dahin. Er ging auf die Knie, um zu beten. Zuerst wusste er nicht, was er sagen sollte, doch dann kamen die Worte wie von selbst über seine Lippen. „Erledigt“, hörte er Meisterin Zederin durch seine Versunkenheit. „Ich habe gefunden, was ich suchte. Und was machst du hier, Junge? Betest du etwa?“ Fielding blinzelte gegen die Sonne und schwieg. Ihm war es wohl ums Herz, selbst wenn seine Meisterin verächtlich die Nase rümpfte. „Ein Stück des Wegs ist eine Herberge“, sagte Ford. „Dort nächtigen wir und in aller Früh machen wir uns auf den Heimweg.“ Der Späher pfiff auf den Fingern. Wie auf Kommando stand Irving von seinem Aussichtsposten auf, sprang über die Felsen und schloss zu ihnen auf. Fielding fand, er bewegte sich wie eine Felsenziege. Umgarnt von den Geräuschen des Winds und der Wogen vertraute sich Fielding an diesem Abend einem tiefen, traumlosen Schlaf an, aus dem er mit leichtem Herzen und voller Tatendrang erwachte. Irving hatte recht: Alles war gut. Den ganzen Tag über wanderten sie nach Osten und kamen dabei schnell voran. Ford und Irving sicherten die Umgebung, immer auf der Hut vor den Soldaten von Smite and Stride. So erreichten sie am späten Abend Errington. Kaum hatte es sich Fielding in dem warmen Schankraum gemütlich gemacht, spürte er die Schwere in seinen Füßen. Stöhnend streifte er die Schuhe ab. Er war das lange Wandern nicht gewohnt. Irving scherzte darüber. Es war gut, ihn fröhlich zu sehen. Elmyra stellte einen bis zum Rand mit gestockten Eiern gefüllten Teller und Buchweizenfladen vor den Schneidern ab. Ein halbwüchsiges Mädchen, wohl ihre Enkelin, brachte ihnen das Ale. Die Wirtin setzte sich zu ihnen an den Tisch. Hinter ihr lauerte neugierig das Mädchen. „Sie war vor ein paar Nächten hier“, sagte Elmyra zu Zederin, als rede sie über eine Frau, die nicht im Raum war. „Sie kommt mir bekannt vor. Wie war noch ihr Name?“ „Zedri.“ Elmyra zog die Stirn kraus. „War sie früher schon einmal hier?“ „Das muss ich verneinen.“ „Hä?“ „Nein.“ „Sie kommt mir bekannt vor“, wiederholte Elmyra und kniff die Augen zusammen. „Ist sie etwa mit diesen Crawford-Brüdern verwandt?“ „Aber nein, das bin ich natürlich nicht!“ Fielding prägte sich Zederins gespielte empörte Miene gut ein, während er an seinem Ale nuckelte, um sich ja nichts anmerken zu lassen. „Du musst mich verwechseln“, log Zederin munter weiter. „Mit diesen Räubern habe ich nichts zu schaffen!“ „König Brodrick hat Wicked Cass zum Earl gemacht, wie man so hört. Jetzt lässt er Goldhome Zölle zahlen. Der alte Asqvar“, Elmyra spuckte aus, „war nicht so teuer für Smite and Stride, hehe!“ „Was weißt du über Crawfords Mühle?“, fragte Fielding. „Die ist verflucht. Diese Venarna hat den Fluch ins Haus getragen. Die war nicht von hier, sagen die Leute. Nein, nein. Dunkle Haut soll sie haben. So wie sie.“ „Hatte sie nicht einen schmucken Mann?“, fragte Zederin. „Oh ja. Der war eine Augenweide! Wie hieß er noch? Emmerson?“ „Emory.“ „Richtig, Emory. Woher weiß sie das?“ „Die Leute in Junction reden über ihn.“ „Und was sagen die Leute in Junction?“ „Dass er ein Säufer war.“ „Reingespuckt hat der nicht, das stimmt wohl. Der gute Emory Crawford, war so ein lieber Kerl und auch was zum Hinsehen. Der machte die Pferde scheu, hehe, aber mich nicht.“ Elmyra winkte ab. „Männer können mir gestohlen bleiben. Einer reichte mir!“ Sie überkreuzte die Arme auf dem Tisch und legte ihren mächtigen Busen darauf ab. „Wo der hinkam, da wurde es fröhlich. Aber dann hat er diese Venarna geheiratet. Da wurde er garstig. Konnte kein freches Wort mehr vertragen und wenn er beim Wetten verlor, nene.“ Sie beugte sich vor und flüsterte. „Hat sich manchmal tagelang hier eingenistet. Der wollte gar nicht nach Hause. Trank mehr, als gut für ihn war. Venarna brachte nur Unheil. Sie war verflucht. Das weiß jeder. Jetzt ist Emory tot und die Mühle ist abgebrannt. Ihre Söhne … Wicked Cass und … Wie hieß er noch? Welldrich? Die sind genauso unheimlich wie sie. Die haben ein Mädchen entführt. Wunderhübsch soll sie gewesen sein. Niemand hat sie je wiedergesehen.“ „Sie geht dort in den Nächten um“, flüsterte Elmyras Enkelin. „Wenn der Wind durch die Mühle weht, hört man sie weinen und den Namen Wicked Cass wispern.“ Fielding erschauderte. Die Rote Maid, das Wispern im Wind, das war sie! „Ich habe e…“, begann er. Die Meisterin fiel ihm ins Wort. „Woher willst du das wissen?“, fragte sie Elmyras Enkelin. „Hast du sie etwa gehört? Mit deinen eigenen Ohren?“ Die Kleine stutzte. „Was-?“ „Hast du die Rote Maid selbst gehört? Ihr Weinen und Wispern?“ „Nein, aber so sagen die Leute hier.“ „Und du plapperst das einfach nach, warst aber nie dort? Wusste ich es doch! Soll ich dir etwas sagen, Kleine? Wir, also ich und mein Lehrling hier, haben eine Nacht in der Mühle geschlafen und rein gar nichts gehört!“ Das Mädchen machte große Augen und Elmyra spuckte aus, um das Unheil fernzuhalten. „Sie macht sich nur wichtig“, sagte Elmyra ihrer Enkelin. „Es stimmt“, murmelte Fielding. „Es stimmt, was Meisterin Zederin sagt.“ „Mach dir keine Mühe. Es kann dir egal sein, ob sie uns glauben oder nicht.“ „… an der Mühle ist nichts Besonderes“, behauptete Fielding. „Dort geht niemand um.“ Vorsichtig sah er zu seiner Meisterin, die ihm zunickte. „Da hörst du es, Elmyra. Der Junge gibt mir recht. Lass dir nichts erzählen, Kleine. Das sind bloß Gruselgeschichten.“ Fielding stand in strömendem Regen. Ihm war kalt und er war spät dran. Meisterin Zederin, Irving und Ford warteten schon viel zu lange auf ihn, und sie würden nicht den ganzen Tag warten, das hatte die Meisterin klar gemacht. Sie hatte ihm ein paar Kupfer gegeben und gesagt, wenn er zu lange mit seiner Besorgung brauchte, musste er sehen, wie er zurück nach Greengate kam. „Nimm dir einen Karren, dann musst du nicht laufen.“ Der Ochsenkarren rumpelte näher. Was er nun tun würde, hatte die Meisterin mit ihrer Bemerkung bestimmt nicht gemeint. „Alte Räuberweisheit: Mitfahren immer mit dem Kopf in Richtung Zugtier!“ Fielding wartete, bis der Ochsenkarren nah genug heran war. Er schaute sich noch einmal um. Die Leute hatten die Kapuzen tief in die Gesichter gezogen und hielten die Köpfe gesenkt. Jetzt oder nie. Er huschte an das dahinrumpelnde Gefährt, ging im Lauf in die Knie, warf sich auf den Bauch und rollte unter den Karren. Zwischen den matschbespritzten Holzbrettern des Karrenbodens fanden seine Hände Halt. Er krallte sich fest und zog sich hoch. Seine Füße rutschten gleich wieder von der feuchten Hinterachse und er wurde durch den Matsch gezogen. Fielding trat mit den Hacken. „Alte Räuberweisheit: Mitfahren immer mit dem Kopf in Richtung Zugtier!“ Nun verstand Fielding die Weisheit dieser Worte: Hinge er andersherum, müsste er jetzt versuchen, im Vorwärtslaufen mit dem Karren Schritt zu halten. Er strampelte, hob die Beine und setzte sie auf die Hinterachse. Das war nicht bequem, aber es würde gehen. Der Karren rumpelte über Matschpfützen und Schlaglöcher, die der Regen in kleine Teiche verwandelt hatte. Bei jedem Rucken glaubte er, es würde ihn herunterreißen. Dann endlich, rollte der Wagen auf Stein, passierte eine Burgmauer, dann eine weitere, bog so scharf in eine Kurve ein, dass ihm beinahe die Füße von der Achse rutschten, und fuhr dann geradeaus weiter. Vor Kälte waren seine Finger bald ganz steif und seine Arme brannten. Endlich kam Wiese in Sicht. Er musste nicht mehr lange durchhalten. Fielding biss die Zähne zusammen. Das alles nur für ein dämliches Fläschchen Duftwasser. Eine Bodenwelle schüttelte den Karren durch und er rutschte ab. Platschend landete er im Matsch. Kaum war der Karren über ihn hinweggefahren, rollte er sich über den Weg in eine dornige Hecke. Vorsichtig schaute er sich um, aber er war allein hier. Fielding kam auf die Beine. „HE, WER DA?!“ Ohne sich umzudrehen, rannte er los. Schon hörte er hinter sich schwere Schritte und das Klappern von Metall auf Metall. Er sprang durch eine Hecke, riss sich an den Dornen die Schienbeine auf und fiel der Länge nach hin. „STEHENBLEIBEN!“ Zwei Soldaten brachen rechts und links von ihm durchs Gestrüpp. „SOFORT STEHENBLEIBEN!“ Fielding rappelte sich auf und rannte los. Seine Schuhe glitten auf dem Matsch aus, er strauchelte, fing sich und sprang gleich über die nächste Hecke. Dieses Mal blieb er nicht hängen. „Wer sich umsieht, hat schon verloren.“ Er sah sich nicht um. Blindlings schlug er Haken, hinter ihm die Schritte und Rufe der Soldaten. Vor ihm ragte das wohl höchste Gebüsch Twiflotens auf. Darüber konnte er nicht springen. „ER IST DA VORN!“ Gehetzt blickte sich Fielding um. Knapp hinter ihm ragten Hellebarden über die Hecke. Das Gebüsch raschelte und eine Hose in Schwarz und Rot tauchte zwischen den Blättern auf. Er entdeckte ein Kaninchenloch im Gebüsch, knapp über der Erde. Fielding warf sich auf den Bauch und zwängte sich hinein. Dornen kratzten ihm übers Gesicht und stachen durch sein Hemd, aber er strampelte und wand sich wie ein Wurm, grub die Finger in den Matsch und zog sich schließlich auf die andere Seite. „Ich sehe ihn nicht mehr!“ „Wo ist er?“ Die Schritte waren direkt hinter ihm und eine Hellebarde stach durchs Gestrüpp. Dann hackten die Hellebarden auf die Sträucher ein. Vor Schreck wich Fielding zurück. Mit dem Rücken stieß er an eine Mauer, die sich schier endlos dahinzog. Er wusste nicht, wo er war. Da er keine andere Wahl hatte, lief er an der Mauer entlang. Entweder, er fand einen Ausweg, oder er war geliefert. „ICH SEHE IHN! HIERHER!“ Fielding rannte schneller, dass ihm bald die Lungen brannten. Für ein Fläschchen mit Duftwasser! Die Mauer machte einen Knick. Fielding folgte ihr und fand sich in einer Sackgasse wieder. Panisch schaute er sich um. Die Männer waren fast da, aber hier gab es kein Versteck und keine Hecke. Wie ein Fingerzeig der Götter führte eine in den Stein gehauene Treppe die Mauer hinauf. Fielding fackelte nicht lange und nahm immer drei Stufen auf einmal, hinauf auf einen Wehrgang. Hinter ihm schlossen die Soldaten auf und über den Wehrgang lief ihm ein weiterer entgegen. Ehe er sich versah, war er umstellt. Den Tod vor Augen sprang Fielding. Er flog, dann schlugen seine Füße in Wasser. Er tauchte unter und sofort trug ihn die Strömung fort, tauchte wieder auf, schnappte nach Luft, nur um wieder unter Wasser gezogen zu werden. Etwas streifte seinen Arm. Und er griff danach, doch es war rutschig und glitt durch seine Finger. Immer wieder schluckte er Wasser, stampelte und drehte sich, bis er nicht mehr wusste, wo oben und unten war. Dann stieß sein Kopf gegen etwas Hartes. Fielding schlug die Augen auf und sah nichts als grauen Himmel. Regen fiel auf sein Gesicht. In seinem Kopf pochte es schrecklich. „Schau an, er ist wach“, hörte er eine Frauenstimme. „Wir dachten schon, du wärst hin“, sagte ein Mann. Fielding versuchte sich aufzurappeln. „Immer langsam, Junge.“ Kräftige Hände packten ihn und halfen ihm, sich aufzusetzen. Der Mann klopfte ihm auf die Schulter und lächelte ihn breit an. Fielding schaute sich um. Er saß unweit des Flussufers, in der Nähe eines Waldes. Neben ihm stand eine Frau, die ihn unter dem Rand ihres Schlapphuts hinweg beobachtete. Zu ihren Füßen standen drei Körbe randvoll mit Hagebutten. Die Frau war barfuß, trug eine Fellweste, die von einer einzelnen Schnalle zusammengehalten wurde, und eine speckige Lederhose, die oberhalb ihrer hellen Knie endete. Ihre Finger waren rot vom Hagebuttenpflücken und um ihren Hals baumelte ein halbes Dutzend Tierschädel und Amulette. Sie sah gefährlich aus. Der Mann, dem die kräftigen Hände gehörten, hatte einen zerfurchten Nacken wie so viele ältere Heruwid ihn von der strengen Sonne Twiflotens bekamen. Sein kantiges, aber freundliches Gesicht lag halb verborgen in einem graumelierten, buschigen Bart. Aus seiner Weste ragten breite Schultern und beeindruckende Arme. Er sah aus, als könnte er Bäume ausreißen. „Danke, dass ihr mich aus dem Wasser gefischt habt.“ „Wir lassen keinen ersaufen, Junge.“ Der Mann machte ein ernstes Gesicht. „Argiren dik de rosan?“ Für einen Moment stutze Fielding über das verbotene Widri, aber hier waren sie ja unter sich. „Iha muosste firmidan.“ „Gut, dass du es geschafft hast.“ Der Mann drückte seine Hand. „Ich bin Patyr.“ „Elkin.“ Die Frau lupfte ihren Hut. „Der da ist mein Papa.“ „Ich heiße Fielding.“ „Was für ein Name!“ Patyr lachte. „Hast du das gehört, Elkin?“ „Ein Name für einen richtigen Fielder!“ Elkin holte ein Wachspapier aus ihrer Tasche und schlug es auf. Darin lag ein zusammengerollter Pfannkuchen mit Honig und Thymian, den sie Fielding anbot. Er ließ sich nicht bitten und schlug zu. „Der Mond vergelt’s dir“, sagte er kauend. Sie setzte sich ihm gegenüber. „Erzähl uns ein bisschen von dir.“ „Ich bin eigentlich gar kein Fielder. Ich wurde auf Greengate geboren. Mein Papa folgt dem Alten Weg.“ „Guter Mann, dein alter Herr. Wie heißt er?“ „Erlemann, aber alle nennen ihn Knox. Eigentlich ist er mein Großvater.“ „Hat er dich Widri gelehrt?“ Fielding nickte und biss herzhaft in den Pfannkuchen. „Warum haben dich die Rosen verfolgt? Hast du Bernstein gesammelt?“ „Bernstein ist nichts für mich. Ich habe mich nach Goldhome reingeschlichen, also in die Burg, immer mit dem Pisspott vor dem Bauch, immer weiter rein, bis ich in einem hübschen Gemach stand. Da war ein Fläschchen, das habe ich mitgenommen.“ „Niemals!“, rief Patyr. Fielding kramte das Fläschchen hervor. Es hatte die Hatz und den Sturz in den Mur unbeschadet überstanden. Er warf es Elkin zu. Sie schaute sich das silbergefasste Gefäß aus blauem Glas an. „Hübsch, hübsch. Was ist das?“ „Ich glaube, man nennt es Duftöl.“ Sie löste den Verschluss, der an einer zierlichen Kette hing, und schnupperte. „Puh! Das stinkt schlimmer als ein Hundefurz! Hier, Papa.“ Zuerst vorsichtig, dann mit wachsender Begeisterung roch Patyr an dem Fläschchen. „Wunderbar, einfach wunderbar!“ Fielding stopfte sich den letzten Bissen Pfannkuchen in den Mund. „Du kannst es behalten, Patyr. Zum Dank.“ „Aber dann wäre deine ganze Mühe umsonst gewesen. Das kann ich nicht annehmen.“ „Ich wollte es Gemna schenken, aber eigentlich gefällt sie mir gar nicht. Ne, die ist nichts für mich.“ Fielding stand auf und rückte Hemd und Hose zurecht. „Es war schön euch zu treffen, aber ich muss nun weiter.“ „Meinen Dank. Maha de manin“, sagte Patyr. „Maha de manin te bihouten.“ Erfüllt von einem Hochgefühl, wie er es nie zuvor verspürt hatte, machte sich Fielding wieder auf Wanderschaft. Seine triefnassen Stiefel zog er aus und ging barfuß weiter. Auf dem Kronenweg kam er gut voran und im Überschwang seiner Freude grüßte er jeden Wanderer, der ihm begegnete. Dann kam die Murbrücke in Sicht, an der er die anderen treffen sollte. Irving, Meisterin Zederin und Ford standen unter dem Brückenbogen. Die Blicke, die seine Meisterin und der Späher ihm zuwarfen, sprachen für sich. Nur Irving lächelte. Ein schönes Lächeln war das. Ford war so sauer, dass er schnaubte, statt ihn zu begrüßen. „Mein lieber Lehrling, schön, dich wiederzuhaben. Wo warst du so lange? Und warum bist du so dreckig?“ „Ich habe meine Besorgungen erledigt, das ging schnell Meisterin“, log Fielding und legte ein unschuldiges Lächeln auf. „Bitte verzeiht, dass Ihr trotzdem so lange auf mich warten musstet. Ein Mann und seine Tochter baten mich um Hilfe. Ihr Karren steckte fest und der ältere Herr war recht schwächlich, darum habe ich ihnen geholfen.“ „Nun dann will ich dich nicht schelten.“ „Gut, dass du hier bist“, sagte Irving. „Wir dachten schon, die Rosen hätten dich gekriegt.“ „Los jetzt!“, schnauzte Ford und zog sich die Kapuze über den Kopf. „In meinem Bart wächst schon Moos!“ Sie schulterten ihr Gepäck und gingen los, die Alten vorneweg, Fielding und Irving hintendrein. Irving stieß ihn in die Seite. „Was hast du bloß gemacht? Du bist voller Kratzer.“ „Weißt du Irv, manchmal muss man jede Gelegenheit nutzen, auch die waghalsigen.“ „Wie meinst du das?“ „So.“ Fielding legte seinem Freund die Hände an die Wangen und küsste ihn auf den Mund. „Hach, da sind wir also! Schön, wieder zu Hause zu sein“, sagte Meisterin Zederin mit einem Seufzer. „Wir haben uns wacker geschlagen, nicht wahr?“ Ford reckte gähnend die alten Glieder und murmelte „scheiß feuchter Boden heute Nacht“, Irving salutierte. Nach einem letzten Handschlag trotteten die beiden Späher davon in Richtung Kaserne. Fielding schaute seinem Liebsten hinterher und vermisste ihn jetzt schon. Die letzte Nacht, verbracht am waldbestandenen Zusammenfluss von Mur und Awid, war aufregend und voller Heimlichkeit und gebrochener Verbote gewesen, an die er beständig denken musste. Er wollte mehr davon. Viel mehr. Bevor er im Durchgang zum Kasernenhof verschwand, drehte sich Irving noch einmal zu ihm um. Fieldings Herz machte zuerst einen Satz und blieb dann beinahe stehen, als er auch noch ihr Handzeichen machte: zwei gekreuzte Finger, wie zwei Männer, die beieinanderlagen. Meisterin Zederin folgte seinem Blick. „Irving muss noch ruhiger werden, sonst ist er wirklich ein talentierter Junge.“ Erschrocken schaute Fielding ihr ins Gesicht, doch das war keine Anspielung gewesen. Sie war ahnungslos. „Ich werde ihn meinem Neffen für weitere Einsätze empfehlen. So, dann will ich mal.“ Statt in die Stadt zu gehen, schlug sie den Weg Richtung Burg ein. „Wollen wir nicht in die Schneiderei, schauen, ob alles in Ordnung ist, und so?“ Sie drehte sich noch einmal zu ihm um. „Geh schon mal vor. Ich habe etwas zu erledigen.“ Fielding stutzte. Was konnte wichtiger sein, als sogleich in der Schneiderei nach dem Rechten zu sehen? Die Meisterin versuchte, es zu verbergen, aber ihr war anzusehen, dass sie etwas im Schilde führte. Hinreichend gegängelt von ihren Äußerungen der letzten Tage, und neugierig wegen ihrer ständigen Geheimniskrämerei, beschloss er, sie nicht so einfach davonkommen zu lassen. Um nun den Schein zu wahren, nickte er artig und zog ein Gesicht, von dem er wusste, dass es arglos wirkte. „Ich komme nach“, sagte sie. „Sicher.“ Er drehte sich um und gab vor, Richung Stadt zu gehen, nur um nach ein paar Schritten kehrtzumachen und dann heimlich hinter ihr herzuschleichen. Der Wachmann am Tor zum Burghof kannte ihn noch aus seiner Zeit in der Garde und ließ ihn unbehelligt passieren. Fielding wollte nicht unangenehm auffallen, indem er sich in den Ecken hielt, darum ging er quer über den Burghof, als gehöre er hierhin, achtete aber darauf, dass er stets außerhalb von Zederins direkter Sichtlinie blieb, sollte sie sich doch einmal umdrehen. Falls sie ihn doch bemerkte, würde er einfach sagen, er habe noch eine Frage. Immer eine Ausrede parat zu haben, das hatte sie ihm als eine der ersten Lektionen eingschärft. So folgte er der Meisterin in einem gewissen Abstand, vorbei an den mehrstöckigen, von Krähen umkreisten Gebäuden der Burg, die im grauen Dunst eines feinen Sprühregens lagen. Zu seiner Enttäuschung beobachtete er, wie sie mit dem Wachmann an der Pforte des großen Turms sprach, wohl um eingelassen zu werden. Dann aber drehte sie bei und lief in eine vollkommen andere Richtung. Die Meisterin ging durch einen Torbogen aus Rosen, deren spätherbstlichen Blütenköpfe nass und labbrig herabhingen. Dahinter lag ein Garten mit weiteren Rosenbüschen, viele von ihnen akkurat zu Kugeln, Würfeln und Kegeln zurechtgestutzt. Ein Kaninchen war auch darunter, mit Rosenblüten dort, wo beim lebenden Vorbild die Augen saßen, allerdings waren auch sie verwelkt und so sah das Geschöpf doch ziemlich traurig aus. Rosenhecken, manche von ihnen mannshoch, standen um die Skulpturen und verliehen diesem Ort etwas Verwunschenes. Hier sah es kaum anders aus als im Rosengarten von Goldhome. Fielding versuchte, die Meisterin nicht im Gewirr des Rosenlabyrinths zu verlieren. „Hier hast du dich versteckt“, hörte er die Meisterin sagen. Fielding blieb hinter einer der hohen Hecken stehen und lauschte. „Wie war deine Reise?“ Die Stimme des Mannes, der ihr antwortete, war gut zu verstehen, obwohl er recht leise sprach. „Alles bestens. Die Rosenheinis sind dämlich wie eh und je. Glaub mir, die werden es nie lernen.“ Der Mann ließ ein raues Lachen hören, das abrupt abbrach. „Wie sieht es an der Mühle aus?“ „Die Gerüchte stimmen. Die Mühle hat gelitten, aber sie steht noch. Das Haus ebenfalls.“ Der Mann fluchte leise. Während Zederin von ihrem großartigen Gespür und ihren Tricks berichtete, schob Fielding seinen Kopf nach vorn, um sehen zu können, mit wem sie sprach. Auf einer Bank saß ein schwarz gekleideter Mann, dessen Gesicht unter einer Kapuze verborgen lag. Er hielt die Hände über dem Schoß gefaltet. Sie waren braun, also musste er ein Crawford-Bruder sein. „Hast du … ihn gefunden?“, fragte er. „Und ob! Du kannst dich auf deine alte Tante verlassen.“ Die Meisterin holte einen in Tuch eingeschlagenen Gegenstand aus einem Umhängebeutel. Eindeutig war das der Knüppel. Sie reichte dem Mann das Bündel, aber der nahm es nicht an und atmete hörbar aus. „Scheiße.“ „Was denn? Ist doch nur ein Knüppel.“ Er ließ ein raues Lachen hören und als er abwehrend die Hände hob, erkannte Fielding seine krummen Finger. Die Erkenntnis, dass niemand geringerer als Earl Cassander auf der Bank saß, war einerseits erschreckend, andererseits aber fühlte es sich ungeheuer aufregend an. „Du hast wirklich nicht die geringste verdammte Ahnung, oder, Zeddy?“ „Weißt du was? Ich lege den einfach hier auf die Bank und du machst damit, was du willst. Ich habe deinen Auftrag ausgeführt und auch wenn ich mir gewünscht hätte, dass du dich wenigstens ein bisschen freust, von einem Danke will ich gar nicht reden, bin ich mit mir zufrieden. Ich habe alles richtig gemacht.“ „Tut mir leid, du hast ja recht. Ich danke dir. Du hast hierfür einiges auf dich genommen. Liegt an mir, dass ich mich nicht richtig freuen kann.“ Eine Weile sagten die beiden nichts. „Ich gehe dann mal.“ „Ja, sicher. Erhol dich von deiner Reise. Du hast es dir verdient.“ „Bevor ich es vergesse: Fielding hat sich wacker geschlagen. Ist ein schlaues Kerlchen. Mit dem kann man was anfangen.“ „Schade, dass du ihn mir weggeschnappt hast.“ „Du kannst nicht alles haben im Leben, Cass.“ Mit diesen Worten ließ die Meisterin ihren Neffen allein. Fielding zog den Kopf hinter den Busch, aber Meisterin Zederin ging gar nicht in seine Richtung, sondern tiefer in den Rosengarten. Er sah sie noch einmal in einem Säulengang, dann verschwand sie in dem Gebäude, das an den Rosengarten angrenzte. Als er wieder zu Earl Cassander spähte, schwebten dessen krumme Finger über dem Bündel, berührten es aber nicht, so als wäre es heiß oder eine giftige Schlange. Nach einer kleinen Weile zog er die Hand weg und kippte seufzend den Kopf in den Nacken, sodass sein Gesicht unter der Kapuze zum Vorschein kam. Der Blick hellgrüner Augen streifte Fielding und er erschrak bis ins Mark. Aus einem Reflex heraus rannte er los, quer über den Burghof, im Nacken die Angst, dass der Earl jederzeit die Wachen rufen könnte, um ihn zu schnappen. Nichts dergleichen geschah und Fielding trabte aus und spazierte dann unbehelligt durch das Tor. Hatte er sich die Tränen in Earl Cassanders Gesicht nur eingebildet, oder wirklich gesehen?

Erscheinungsdatum
Reihe/Serie Die Crawford-Chroniken ; 2
Verlagsort Kreuzlingen
Sprache deutsch
Maße 152 x 229 mm
Gewicht 852 g
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Fantasy
Schlagworte Familie • Fremde Welten • Helden
ISBN-10 3-03977-043-8 / 3039770438
ISBN-13 978-3-03977-043-4 / 9783039770434
Zustand Neuware
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