Nicht aus der Schweiz? Besuchen Sie lehmanns.de

Die Vikarin (eBook)

Margarete Hoffer - Widerstand im Dritten Reich
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
352 Seiten
Gerth Medien (Verlag)
978-3-96122-640-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Vikarin -  Brigitte Liebelt
Systemvoraussetzungen
13,99 inkl. MwSt
(CHF 13,65)
Der eBook-Verkauf erfolgt durch die Lehmanns Media GmbH (Berlin) zum Preis in Euro inkl. MwSt.
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Elly aus Schwenningen reist 1938 nach Wien, um ihre Tante zu unterstützen, und lernt dort die Jüdin Lea Grünfeld kennen, mit der sie sich befreundet. Über sie kommt Elly in Kontakt mit der Theologin Margarete Hoffer, die ihr einen ganz neuen Zugang zur Bibel eröffnet. Als die Nazis an die Macht kommen, unterstützt Elly Margarete dabei, Juden zur Flucht zu verhelfen. Zurück in Schwenningen wird Elly in den Kirchenkampf verwickelt und verliebt sich in den Uhrmacher Jochen. 1941 kommt es zu einem überraschenden Wiedersehen mit Margarete Hoffer, die als 'Vikarin auf Kriegsdauer' nach Schwenningen versetzt wird. Gemeinsam mit Jochen versuchen die beiden Frauen, Juden über die Schweizer Grenze zu schmuggeln und gewähren den Verfolgten als Teil der sogenannten 'Württembergischen Pfarrhauskette' Unterschlupf im Pfarrhaus. Brigitte Liebelt erzählt in diesem biografischen Roman von Margarete Hoffers mutigem Glauben und Wirken und vermittelt ein lebendiges Bild jener herausfordernden Zeit.

Und doch bleibt er nicht ferne,

ist jedem von uns nah.

Ob er gleich Mond und Sterne

und Sonnen werden sah,

mag er dich doch nicht missen

in der Geschöpfe Schar,

will stündlich von dir wissen

und zählt dir Tag und Jahr.

(Jochen Klepper, 1903–1942)

Die Schwedische Israelmission

Bereits anderthalb Wochen später konnte sich Elly kaum noch vorstellen, wie einsam sie sich in Wien gefühlt hatte. Sie hatte das Gefühl, Lea Grünfeld bereits eine Ewigkeit zu kennen, und ihre Mutter schien sich vor allem darüber zu freuen, dass Ellys Besuche dafür sorgten, dass ihre Tochter in ihrem Zimmer blieb. Herrn Grünfeld hatte sie noch nicht kennengelernt.

Stenografieübungen für die Tochter eines Kunden waren eine ausgezeichnete Entschuldigung, um fast jeden Nachmittag der Wohnung ihrer Tante zu entkommen. Natürlich erst, nachdem sie ihre Aufgaben im Haushalt mit ganz neuem Schwung erledigt hatte. Elly war fasziniert vom Temperament und Übermut ihrer neuen Freundin. Lea hatte viel mehr als sie von ihrem Heimatland, aber auch von anderen europäischen Ländern gesehen. Sie kannte Theaterstücke, ging in Konzerte, sie dachte über vieles nach, was Elly, wie sie sich eingestand, eine neue Welt eröffnete. L ea schien sich auch nicht an Ellys Dialekt zu stören. Weil sie kein Wienerisch konnte, hatte sie bisher immer versucht, so hochdeutsch wie möglich zu klingen, und manchmal ein amüsiertes bis befremdetes Lächeln geerntet. An diesem Nachmittag – es wurde schon allmählich dunkel und Elly wollte sich gerade verabschieden – fragte Lea plötzlich: »Bist du eigentlich evangelisch, Elly?« Elly war verdutzt. »Ja, aber ich dachte, ihr seid Juden?« Lea lachte. »Davon hatte ich bis vor Kurzem nicht so viel gemerkt. Ich habe in der Schule eine richtig tolle Religionslehrerin. Sie macht donnerstags um 17 Uhr immer den Jugendkreis in der Schwedischen Israelmission in der Seegasse hier im Viertel. Wir diskutieren über alles Mögliche. Hast du Lust, mitzukommen?«

So kam es, dass Elly sich am nächsten Tag pünktlich vor dem Eingang des mehrstöckigen grauen Gebäudes gegenüber dem alten jüdischen Friedhof einfand. »Schwedische Mission« war darüber eingemeißelt. Sie war aufgeregt. Von diesem Besuch wusste auch Onkel Robert nichts, sie hatte ihm sicherheitshalber auch nichts angedeutet, weil sie bisher nicht den Eindruck gehabt hatte, dass sein katholischer Glaube ihm viel bedeutete, und Tante Julie war bei der Heirat ihm zuliebe konvertiert. Ein- oder zweimal hatte sie die beiden zu besonderen Anlässen in den Stephansdom begleitet. Zu Hause hatte sie kurz vor ihrer Abreise ganz frisch im Kreis der Kindergottesdiensthelferinnen gestartet. Es hatte ihr Spaß gemacht; man kam mal von zu Hause weg und die anderen Mädchen und Jungs in der Gruppe waren nett.

Inzwischen war auch Lea etwas atemlos eingetroffen. »Bin mal wieder zu spät dran, entschuldige! Komm, Frau Hoffer fängt gern pünktlich an.« Sie rannten die Treppen hinauf und setzten sich schnell auf zwei freie Stühle in einem großen schlichten Raum. Eine junge Frau in Rock und Strickjacke über der Hemdbluse kam auf sie zu, die dunklen Haare hochgesteckt. Ganz klar, die Lehreri n. Elly konnte sich sofort gut vorstellen, was Lea gesagt hatte: Frau Hoffer sei streng, sie verlange Aufmerksamkeit und Mitdenken, aber »sie weiß unglaublich viel«. Elly hoffte nur, der strengen Lehrerin würde nicht auffallen, wie wenig sie selbst wusste – und das, obwohl ihr Vater im Kirchengemeinderat war und sie daheim von Kindesbeinen an jeden Sonntag in der Kirche mit dabei gewesen war. Sie schaute sich unauffällig um. Sahen die jetzt alle irgendwie jüdisch aus? Würden sie auch alle so präzise registrieren, dass sie Deutsche war, wie Leas Mutter bei ihrem ersten Besuch? Wenn sie den Mund aufmachte, auf jeden Fall … Elly nahm sich vor, sich zurückzuhalten, was vermutlich nicht so schwierig war, wenn Lea hier auch so viel redete wie bei ihr zu Hause. Verstohlen sah sie sich im Raum um. Braune, blonde, dunkle Köpfe, Jungs und Mädchen, einige vermutlich in ihrem Alter, manche älter. Alle blätterten bereits in den verteilten Bibeln, suchten die angegebene Stelle und schienen ganz bei der Sache zu sein. Zu Beginn sprach Frau Hoffer ein kurzes Gebet, dann sangen sie gemeinsam ein Lied.

Es ging an diesem Tag um den letzten Abschnitt des 8. Kapitels des Römerbriefes. Elly war fasziniert von der Kraft der Sprache in diesen Versen. Beschämt gestand sie sich ein, dass sich ihr Bibelwissen bisher weitgehend auf die Geschichten aus dem Kindergottesdienst beschränkt hatte. Sie hatte sie gemocht, sie waren spannend und zugleich vertraut. Aber noch nie hatte etwas sie so berührt wie diese Worte: »Wer will uns scheiden von der Liebe Christi? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Schwert? Wie geschrieben steht: ›um deinetwillen werden wir getötet den ganzen Tag; wir sind geachtet wie Schlachtschafe.‹ Aber in dem allen überwinden wir weit durch den, der uns geliebt hat. Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die Christus Jesus ist, unserm Herrn« (Römer 8,35–39).

Hörte sie das wirklich zum ersten Mal? Vermutlich nicht, aber Elly fühlte sich ganz tief in ihrem Inneren angerührt. Das war kein allgemeines »Brüder, überm Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen«. In den Worten lag eine Lebendigkeit und eine Kraft, die etwas in ihr zum Klingen brachte. Sie ahnte, dass dies die Antwort sein könnte auf die Fragen, die seit dem ersten Besuch bei Grünfelds in ihr nagten: Wenn das stimmt, dass Gottes Liebe so stark ist, was ist dann, wenn alles aus den Fugen gerät, wenn Dinge sich anbahnen, die unverständlich, beängstigend und einfach nur ungerecht sind? Ist der kleine Mensch nicht einfach letztendlich doch der Willkür und Macht der Großen ausgeliefert? Und wo zeigt sich darin dann Gottes Liebe? Die Antwort auf diese Fragen schien von großer Bedeutung zu sein. Denn wenn das wahr war, was in diesem Bibelabschnitt im 8. Kapitel des Römerbriefes stand, dann entschied sich daran die Frage, ob Gott der Herr war für Zeit und Ewigkeit.

Dann musste sie, Elly Haller, dem aber auch weiter nachgehen. Dann war das hier ein Anfang. Dann konnte Gott in ihrem eigenen Leben auch nicht mehr nur so eine Nebenrolle spielen, für den Kirchgang am Sonntagvormittag. Wenn das wirklich stimmte, dann war das ein lebendiger, mächtiger, ewiger Gott, dem man sich auch dann getrost anvertrauen konnte, wenn Dinge sich so entwickelten, dass sie einem Angst machten.

Elly war so in Gedanken versunken, dass sie erst jetzt richtig zur Kenntnis nahm, dass im Kreis bereits ein Gespräch über den Text im Gang war. »Es kann sein«, sagte Frau Hoffer gerade »dass viele unter uns einer Zeit entgegengehen, in der sie sich nicht mehr vorstellen können, dass Gott Liebe ist.« Jetzt war sie keine strenge Lehrerin mehr. Elly spürte, dass hier ein Mensch war, der selbst ernstlich besorgt war, aber nicht um sich selbst. Das Leid der an deren schien ihr sehr bewusst zu sein. Sie vermittelte nicht irgendwelche Informationen, sondern sie wollte den jungen Menschen im Raum etwas weitergeben, das sie als unverlierbaren Schatz mit sich nehmen konnten – egal, was sie Schweres erleben würden. Elly sah es in ihren Augen, in ihrer Haltung. Es berührte sie. Auf einmal durchströmte sie eine tiefe Dankbarkeit gegenüber Lea, die sie mit hierhergenommen hatte. Sie sah die Freundin von der Seite an, und Lea erwiderte ihr Lächeln so strahlend und unbekümmert wie immer.

Dann war die Stunde vorbei, Bibeln und Liederbücher wurden eingesammelt, Stühle scharrten über den Boden. Ein allgemeines Stimmengewirr erhob sich. Die jungen Leute hier waren anscheinend sehr vertraut miteinander. Schon wurde auch wieder gelacht. Elly sah sich um. Plötzlich stand Frau Hoffer vor ihr. »Du bist neu, oder? Die Freundin von Lea Grünfeld aus Deutschland? Sie hatte erwähnt, dass sie jemand mitbringen will.« Elly wusste nicht wohin mit ihren Händen. Sie konnte dieser Frau nicht ins Gesicht sehen. Sie stammelte ihren Namen und dass sie ihrer Tante im Haushalt half. »Gut, dass du den Weg hierher gefunden hast, Elly. Wir brauchen junge Menschen wie dich, hier in Wien und auch wenn du wieder zu Hause bist.« Frau Hoffers Stimme war voller Wärme. Sie schien über Ellys plötzliche Verlegenheit nicht überrascht zu sein, nickte ihr noch einmal zu und wandte sich der kleinen Gruppe junger Leute neben ihr zu.

Ein paar Minuten später eilten Elly und Lea die Straße entlang. »Sie ist beeindruckend, nicht?«, brach Lea das Schweigen. »Sie ist unglaublich klug. Und mutig. Sie hat ein kleines Buch geschrieben mit drei anderen Theologen, ›Evangelisches Christentum‹, für Juden, die konvertieren wollen. Das tun viele, nicht nur aus Glaubensgründen, sondern weil sie denken, dass sie dann nicht mehr als Juden angesehen und benachteiligt werden. Den Nationalsozi alisten hier hat manches darin gar nicht gefallen. Aber sie sagt, was sie denkt. Meine Mutter ist so begeistert von ihr.« »Gehen deine Eltern denn auch zur Israelmission?«, wollte Elly wissen. »Ja, sonntags sind hier Gottesdienste. Du musst Pfarrer Hedenquist kennenlernen und seine Frau Elsa. Sie sind Schweden, aber schon ein paar Jahre hier in Wien. Und Pfarrer Forell. Er kommt eigentlich aus Breslau, hat dort aber zu viel gegen die Nazis...

Erscheint lt. Verlag 7.6.2024
Verlagsort Asslar
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bekennende Kirche • Elly Haller • Judenverfolgung • Nationalsozialismus • Pfarrhauskette • Schwedische Israelmission • Widerstand • Wien • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-96122-640-7 / 3961226407
ISBN-13 978-3-96122-640-5 / 9783961226405
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 929 KB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
CHF 20,50