Mama, Mama, der Papa!: Drei Generationen im Schatten der Geschichte (eBook)
527 Seiten
epubli (Verlag)
978-3-7598-2101-0 (ISBN)
Friedhelm Redlich (Jg. 1964) hat lange in der chemischen Industrie gearbeitet und sich mit über vierzig Jahren der Biografiearbeit verschrieben. Er will seinen Vorfahren und vergessenen Anverwandten eine Stimme geben, denn gerade ihre Eigenheiten prägen uns Nachgeborene auch persönlich, auch wenn wir sie nicht einmal gekannt haben.
Friedhelm Redlich (Jg. 1964) hat lange in der chemischen Industrie gearbeitet und sich mit über vierzig Jahren der Biografiearbeit verschrieben. Er will seinen Vorfahren und vergessenen Anverwandten eine Stimme geben, denn gerade ihre Eigenheiten prägen uns Nachgeborene auch persönlich, auch wenn wir sie nicht einmal gekannt haben.
September 1923 – Münster, Westfalen
Als Walter an diesem Morgen aufwachte, waren seine Sorgen über Nacht nicht weniger geworden. Wie konnte er seine Situation nur verbessern? In wenigen Wochen wollte er heiraten, und noch immer türmten sich die ungelösten Probleme vor ihm auf.
Seine Mutter verweigerte noch immer die Zustimmung zur Ehe mit Agnes: »Diese Frau ist unter deinem Stand, Walter. Nicht nur, dass sie katholisch ist. Ihre ganze Familie riecht förmlich noch nach Kuhstall und Feldarbeit.«
Letztes Jahr hatte seine Schwester Ilse, obwohl sie jünger war, den Polizeileutnant Wilhelm Wenner geheiratet. Das wurde ihm jetzt ständig vorgehalten: »Nimm dir daran ein Beispiel! Deine Schwester achtet auf ihre Position und verschenkt ihr Herz nicht an irgendwen.«
HOCHZEIT ILSE UND WILHELM WENNER AM 3. JANUAR 1922: DAS BRAUTPAAR IN DER MITTE. NEBEN ILSE IHRE MUTTER ALMA, DANN AGNES MIT WALTER. NEBEN WILHELM SEINE MUTTER UND FAMILIE. UMRAHMT SIND SIE VON WEITEREN VERWANDTEN.
Die Hochzeit war schön gewesen. Er verstand sich gut mit Wilhelm. Obwohl Polizist, war er privat ganz umgänglich. Aus beiden Familien waren zahlreiche Verwandte zur Hochzeit nach Münster gekommen. Wilhelms Familie war aus der Nähe von Soest.
Ilse hatte auch Agnes eingeladen, gegen den Widerstand ihrer Mutter. Auf dem obligatorischen Gruppenbild saßen die beiden sogar nebeneinander. Alma verzog keine Miene und sprach während der gesamten Feier nicht mit Agnes. Walters Tante Frieda, eine Diakonissin aus Bielefeld, hatte lange mit ihr an der Kaffeetafel geredet und wollte im Streit vermitteln, um des lieben Friedens in der Familie willen. Aber Alma blieb ein harter Brocken, wie schon ihr ganzes Leben.
Inzwischen war auch das erste hochanständige Kind da. Ein gesunder Junge. Horst hieß er, und seine Oma Alma war ganz begeistert von ihrem Enkel.
Bei der Provinzial war Walter zum stellvertretenden Bürovorsteher aufgestiegen, stark protegiert von seinem Onkel Friedrich Wilhelm. Dadurch war seine berufliche Stellung gesichert. Aber der Onkel war letztes Jahr verstorben. Wie sollte es also weitergehen?
Dessen Sohn Friedrich hatte offensichtlich keine Freude mehr an der Arbeit im Büro. Im Vertrauen hatte er Walter schon in seine Zukunftspläne eingeweiht: »Ich verschwinde hier! Sobald ich es schaffe, bin ich auf einem Schiff nach Amerika. In Deutschland wird das nichts mehr. Ich gehe nach New York und werde Jazzmusiker.«
Walter hatte herzlich gelacht, als er das erste Mal von diesem Vorhaben gehört hatte, aber Friedrich blieb hartnäckig und plante seinen Weggang von der Versicherung und aus Deutschland; natürlich ohne seine Familie einzuweihen. Auch Walter musste heilige Eide schwören, es niemandem, nicht mal Agnes, zu erzählen: »Ich werde eines Tages einfach weg sein. Besser, du weißt dann von nichts.«
Aus Münster weggehen? Das wagte Walter sich nicht im Traum, auch wenn er mit der Gesamtsituation unzufrieden war.
Da er immer noch politisch interessiert war, hatte er sich nach der Auflösung der Freikorps und ihrer Nachfolger ein neues Betätigungsfeld gesucht. Die Regierung beobachtete genau, was die Feinde der Republik trieben. Man musste vorsichtig sein und durfte nicht auffallen. Die neuen Radikalen wie die NSDAP wurden regelmäßig verboten, das war ihm zu heikel und auch zu gewalttätig.
Da gefielen ihm die neuen Wandergruppen schon besser. Mit Gleichgesinnten traf man sich regelmäßig zu Wandertouren in die Umgebung, dann gab es politische Vorträge in den Sälen der Ausflugslokale des Münsterlandes. Nach außen war alles unpolitisch und rein gesellig ausgerichtet. Nach innen wurde Klartext geredet und man schmiedete Pläne für eine Abschaffung der Demokratie und die Wiederherstellung der Monarchie. In ihrem Hass auf die Demokraten waren sich die Wanderfreunde einig. Ihre Fahne war Schwarz-Weiß-Rot und nicht in den Farben der verhassten Republik Schwarz-Rot-Gold.
Im Büro hatte er sich mit den Arbeitsbedingungen arrangiert und erledigte die Aufgaben, die von ihm erwartet wurden. So hatte er sich den Weg für eine bessere Position bereitet. Allerdings war das Geld, das er dort inzwischen verdiente, so gut wie nichts mehr wert.
Seit Januar hatten Frankreich und Belgien begonnen, Teile von Deutschland wegen des Rückstandes bei den Reparationszahlungen zu besetzen. Erst nur das Ruhrgebiet, dann den Rhein hinauf bis Offenburg, und sogar die BASF in Ludwigshafen wurde besetzt. Die deutsche Regierung stellte deshalb alle Zahlungen an Frankreich ein und rief zum passiven Widerstand auf.
Nationalisten und Kommunisten kämpften im Ruhrgebiet verdeckt gegen die Besatzer aus Frankreich. Es gab Tote und Verletzte auf beiden Seiten. Albert Schlageter, den Walter noch aus Raesfeld kannte, wurden nach einem Sprengstoffanschlag auf die Eisenbahn als Terrorist verhaftet und nach Verurteilung hingerichtet. Aus dem Hakenkreuz an seinem Stahlhelm war eine Mitgliedschaft in der NSDAP geworden. Diese feierten ihn jetzt als Helden und Märtyrer für ihre Sache.
»Glaub’ mir, Walter, der Schlageter war kein Held. Ich kenne die Akten«, sagte sein Schwager Wilhelm Wenner dazu.
»Du brauchst mir nichts zu erzählen. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wozu der fähig ist«, erwiderte Walter.
Seit der Ruhrbesetzung stieg die Inflation in Deutschland in einem bislang unbekannten Ausmaß an. Kostete ein US-Dollar im Januar 1923 noch beachtliche 7.500 Mark, war der Wechselkurs nach sieben Monaten auf 200 Millionen Mark angestiegen. In Deutschland kosteten Lebensmittel unvorstellbare Summen. Ein Laib Brot kostete 10 Millionen Mark, ein Kilo Rindfleisch 80 Millionen Mark. Das Geld wurde so schnell entwertet, dass man es sofort in Waren eintauschte, wenn man seinen Lohn bekam. Die Armut wuchs ins Unermessliche. Wer keine Sachwerte wie Häuser oder Fabriken besaß, konnte nichts dagegen tun. Die neue Regierung unter Gustav Stresemann von der DVP versuchte, eine Einigung mit Frankreich zu erreichen. Damit sollte die Währung wieder stabilisiert werden, wenn auch zum Preis der Wiederaufnahme der Reparationszahlungen.
Einige Monate waren vergangen, und es war viel passiert, doch nicht alles davon machte Walter glücklich. Eines Morgens quälte er sich aus dem Bett und schlurfte ins Bad. Als er in den Spiegel schaute, dachte er: Wann wirst du endlich ein Mann, Walter? Noch immer lässt du dir von allen auf der Nase rumtanzen.
Dann wusch und rasierte er sich, zog sich für die Arbeit an und verschwand ohne Frühstück aus dem Haus. Er liebte es, am frühen Morgen zu Fuß durch die Stadt zu gehen. Die Luft war frisch und kalt. Es war ruhig. Gelegentlich fuhr ein Fahrrad an ihm vorbei. Meistens ging er ein Stück über die Promenade und kam dabei am Zwinger, einem Teil der ehemaligen Stadtbefestigung, vorbei. In dem Turm wohnte und arbeitete jetzt ein Künstler, der vor vier Jahren eine Künstlergemeinschaft namens Schanze gegründet hatte. Endlich war in dem Rondell wieder Leben eingekehrt.
Die Lindenbäume rauschten im sanften Wind. Auf der Allee blieb es länger dämmerig, und im Hochsommer war es immer erfrischend, im Schatten der Bäume zu spazieren. Als er am Mauritztor ankam, fiel ihm wieder der Spaziergang mit seinem Onkel Julius ein, damals, bevor er sich freiwillig zu den Dreizehnern gemeldet hatte. Dass das erst sechs Jahre her war! Julius war schon drei Jahre tot. Walter vermisste ihn. Seine Ratschläge und seine Unterstützung waren sehr wichtig für ihn gewesen.
Als er im Büro ankam, ging er zuerst zu seinem Cousin Friedrich, um die neuesten Informationen auszutauschen: »Du musst mir irgendwas Spannendes erzählen, sonst drehe ich noch durch heute.«
»Wenn du schweigen kannst wie ein Grab, erzähle ich es dir«, antwortete Friedrich mit einem breiten Grinsen.
»Stell’ dich nicht so an! Das weißt du ganz genau. Spann’ mich nicht auf die Folter«, murrte Walter.
»Hör zu! Ich habe es klargemacht und gehe nach Amerika. Hapag nimmt den Linienverkehr nach New York wieder auf, und ich habe einen Vertrag auf der Deutschland als Musiker. Sobald die Jungfernfahrt feststeht, verschwinde ich von hier nach Hamburg, und dann schiffe ich mich nach Amerika ein.«
»Du bist verrückt! Du machst das wirklich? Was willst du denn da?«
»Ich werde wirklich Jazzmusiker. Du weißt, wie wichtig mir die Musik ist. Hier im Büro verkümmere ich wie eine Pflanze ohne Wasser und Sonne. Dort stehen mir alle Türen offen«, gab sich Friedrich optimistisch.
»Das kannst du nicht machen. Bald bin ich ganz allein hier; alle alten Freunde sind weg.«
»Du kommst schon klar, bald heiratest du und hast eh keine Zeit mehr für uns«, lachte Friedrich.
»Ach, wenn ich Agnes nicht hätte, dann würde ich vielleicht sogar mitkommen. Von der Welt etwas sehen und den ganzen Mist hier hinter mir zurücklassen.« Walter sah Friedrich frustriert an. »Warum hast du den Mut und ich nicht? Ich bin 24 und denke manchmal, mein Leben ist schon vorbei. Alles ist vorgegeben. Ob man Lust daran hat oder nicht.«
Friedrich schaute erstaunt: »So kenn’ ich dich gar nicht. Ich meine, so was habe ich noch nie von dir gehört. Ich dachte immer, du bist einverstanden mit dem, was du so machst.«
Walter schaute den langen, tristen Flur mit den Türen zu den Büros hinunter. Dann sagte er, ohne Friedrich anzublicken: »Es muss doch noch mehr geben, als immer nur das zu tun, was von mir erwartet wird. Wann kommt die Zeit, wenn ich wirklich frei entscheiden kann und mich nicht mehr fügen...
Erscheint lt. Verlag | 29.5.2024 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Biografiearbeitbiografischer Roman • FreikorpsFremdenlegion • Jungdeutscher Orden • Kindheitserinnerungen • Kriegserinnerungenmünster • schwulenhass • Vietnam |
ISBN-10 | 3-7598-2101-4 / 3759821014 |
ISBN-13 | 978-3-7598-2101-0 / 9783759821010 |
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Größe: 9,1 MB
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