MERKUR 6/2024, Jg.78 (eBook)
104 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12306-7 (ISBN)
Christian Demand, Jg. 1960, hat Philosophie und Politikwissenschaft studiert und die Deutsche Journalistenschule absolviert. Er war als Musiker und Komponist tätig, später als Hörfunkjournalist beim Bayerischen Rundfunk. Nach Promotion und Habilitation in Philosophie unterrichtete er als Gastprofessor für philosophische Ästhetik an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2006 wurde er auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg berufen, wo er bis 2012 lehrt. Buchveröffentlichungen: Die Beschämung der Philister: Wie die Kunst sich der Kritik entledigte (2003), Wie kommt die Ordnung in die Kunst? (2010). Christian Demand ist Herausgeber des MERKUR.
Christian Demand, Jg. 1960, hat Philosophie und Politikwissenschaft studiert und die Deutsche Journalistenschule absolviert. Er war als Musiker und Komponist tätig, später als Hörfunkjournalist beim Bayerischen Rundfunk. Nach Promotion und Habilitation in Philosophie unterrichtete er als Gastprofessor für philosophische Ästhetik an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2006 wurde er auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg berufen, wo er bis 2012 lehrt. Buchveröffentlichungen: Die Beschämung der Philister: Wie die Kunst sich der Kritik entledigte (2003), Wie kommt die Ordnung in die Kunst? (2010). Christian Demand ist Herausgeber des MERKUR.
DOI 10.21706/mr-78-6-17
Norbert Reck
Die Zweiteilung der Menschheit
Zu den Ursachen homophober Gewalt
Die homophobe Gewalt in Deutschland nimmt zu. Die Kriminalstatistik für das Jahr 2022 weist – zusammen mit Angriffen gegen Inter- und Transpersonen – erneut einen Höchststand von 1400 Gewalttaten aus, mit einer wohl deutlich höheren Dunkelziffer. Angesichts dessen konnte Luise Amtsberg, die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, eine gewisse Ratlosigkeit nicht verbergen: Auch »sechs Jahre nach der Einführung der Ehe für alle« sei in dieser Hinsicht »noch längst nicht alles gut«.1
Woran liegt das? Warum ist die Zahl der Gewalttaten nach der Streichung des § 175 im Jahr 1994 und der Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare 2017 nicht zurückgegangen, sondern gestiegen? Ist es das veränderte gesellschaftliche Klima? Braucht es einfach noch mehr Aufklärungsarbeit oder ein Diskriminierungsverbot im Grundgesetz, wie es der Aktionsplan des Queer-Beauftragten der Bundesregierung vorsieht?
Möglicherweise hilft weder das eine noch das andere. Übersehen wird dabei nämlich, dass ein beträchtlicher Teil des gegenwärtigen Minderheitendiskurses die Ursachen der Diskriminierung nicht behebt, sondern ungewollt weiter fortschreibt.
Man kann es sehen am derzeit gängigen Sprachgebrauch. Vielerorts ist zwar weiterhin von »Homosexuellen« die Rede, aber seit geraumer Zeit bemühen sich Medien und öffentliche Institutionen, Eigenbezeichnungen wie »Schwule« und »Lesben« zu verwenden, und jüngst haben sogar erweiterte Wortschlangen wie »Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans-, Inter- und queere Menschen« oder das Kürzel »LSBTIQ*« Eingang in regierungsoffizielle Stellungnahmen gefunden. Im Hintergrund steht vermutlich das Ziel, die Dichotomie Heterosexualitä /Homosexualität zu überwinden und keine anderen Minderheiten zu übergehen.
Allerdings entgehen auch die neuen Ausdrücke dem binären Denken nicht. Alle unterliegen sie dem Schema Mehrheit /Minderheit und damit unausgesprochen der Gegenüberstellung von »Normalen« und »Anderen«. Die Anderen sollen zwar nicht diskriminiert werden, doch ihr Anderssein steht nicht infrage. Das dürfte nicht nur die Auffassung der politischen Parteien, sondern auch der Mehrheit der Bevölkerung sein. Eine entsprechende Formel könnte lauten: »Sie sind anders, aber das ist okay.«
Gegen diese Vorstellung des Andersseins haben kritische Sexualwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler allerdings – schon lange vor der Prägung der neuen Bezeichnungen – immer wieder Einspruch erhoben. Bereits 1968 hielt die britische Soziologin (und Aktivistin der Gay Liberation Front) Mary McIntosh in einem wegweisenden Aufsatz fest, dass es nie gelungen sei, für Studien eine lupenreine Stichprobe von »Homosexuellen« aufzutreiben, wenn nicht nur deren Selbstbezeichnung, sondern auch ihr reales Verhalten einbezogen werden sollte. Als ebenso unmöglich habe sich regelmäßig herausgestellt, der Stichprobe eine »saubere« Kontrollgruppe von »Heterosexuellen« gegenüberzustellen. Nach allen bisherigen Versuchen, das Verhalten der »Homosexuellen« zu erforschen, so McIntosh, bleibe das, was als »homosexuell« und »heterosexuell« gelte, im Bereich willkürlicher Einteilungen. Wirklich eindeutig »anderes« Verhalten sei einfach nicht dingfest zu machen.2
Ähnliches stellte Sigmund Freud bereits vor mehr als einem Jahrhundert fest. Nach Jahren psychoanalytischer Arbeit sah er sich mehr denn je außerstande, zwischen Homosexuellen und Heterosexuellen charakteristische Unterschiede auszumachen. Zehn Jahre nach seiner ersten wichtigen Publikation zum Thema, der ersten der Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, fügte er in die Neuauflage von 1915 die berühmte Passage ein: »Die psychoanalytische Forschung widersetzt sich mit aller Entschiedenheit dem Versuche, die Homosexuellen als eine besonders geartete Gruppe von den anderen Menschen abzutrennen. Indem sie auch andere als die manifest kundgegebenen Sexualerregungen studiert, erfährt sie, daß alle Menschen der gleichgeschlechtlichen Objektwahl fähig sind und dieselbe auch im Unbewußten vollzogen haben.«
Folgt man McIntosh und Freud (und etlichen anderen), dann ist es unmöglich, zwischen Homosexuellen und Heterosexuellen eindeutig zu unterscheiden. Handelt es sich bei der Kategorie der Homosexualität also eher um eine arbiträre Zuschreibung als um eine klare Feststellung? Bestätigt wird dieser Befund zunächst von jenen Kulturen und Epochen, denen die Einteilung der Menschen nach dem Geschlecht ihrer bevorzugten Sexualpartner unbekannt ist (also fast allen). Die Klassifizierung der Menschen als Homo- und Heterosexuelle erweist sich als relativ junge, westliche Erscheinung, wie ein knapper historischer Überblick zeigt.3
Antike Geschlechterordnungen und biblische Verbote
Im antiken Assyrien, in Mesopotamien, Ägypten, Griechenland und Rom erregte Sex zwischen Männern – sehr abgekürzt und pauschal gesprochen – kein Aufsehen. Niemand kam auf den Gedanken, dass es eine besondere Art von Menschen sein müsse, die daran Gefallen hätte. Im Gegenteil: Man ging davon aus, dass alle Männer genitalen Verkehr mit Frauen wie auch mit Männern hatten oder haben konnten. Was die Frauen der (in der Regel verheirateten) Männer davon hielten, interessierte nicht. Wichtig war nur, wer penetrierte und wer penetriert wurde, denn die Penetration galt als Ausdruck von Überlegenheit beziehungsweise als Mittel zur Erniedrigung der Penetrierten. Zwischen Männern und Frauen fand man das unproblematisch, da man Frauen »von Natur aus« für Untergebene hielt. Zwischen gleichrangigen Männern dagegen war die Penetration anstößig und in manchen Ländern geächtet, weil es das gesellschaftliche Machtgefüge infrage stellte, wenn freie Männer mit anderen freien Männern Analverkehr hatten. Möglich und selbstverständlich hingegen war die Penetration von Sklaven, Kriegsgefangenen und heranwachsenden Jungen.
Anders sah es im Alten Israel aus. In den biblischen Passagen, die bis heute in unserem kulturellen Gedächtnis präsent sind, werden andere Normen geltend gemacht. Anders auch, als gemeinhin angenommen wird. So richtete sich beispielsweise das berüchtigte Gebot »Du sollst nicht mit einem Mann liegen, wie man mit einer Frau liegt; das wäre ein Gräuel« (Levitikus 18,22), das bis heute von verschiedenen christlichen Kirchen gegen die Praxis der Homosexualität ins Feld geführt wird, zu seiner Entstehungszeit nicht an »die Homosexuellen« (worunter man sich nichts hätte vorstellen können), sondern an die verheirateten Männer in Israel: Das angesprochene »Du« im Gebot war der Patriarch einer Großfamilie, der freie israelitische Mann, der einem Haushalt mit Frau(en), Kindern, Knechten, Sklaven und Vieh vorstand. Und dieser sollte »nicht mit einem Männlichen liegen« (»nicht mit einem Mann« ist eine verbreitete Fehlübersetzung), das heißt: nicht mit einem anderen männlichen Mitglied seines Haushalts. Denn an dieser Stelle ging es ausschließlich um den eigenen Familienverband. Geschützt werden sollte mit diesem Gebot die sexuelle Integrität der männlichen Kinder in der Familie, der Sklaven und Knechte.
Der Gedanke, dass Männer mit gleichgeschlechtlichen sexuellen Wünschen eine eigene Gruppe Andersartiger konstituierten, war dem hebräischen Denken ebenso fremd wie dem gesamten alten Orient. Im Unterschied zu den Nachbarkulturen legte jedoch das biblische Recht Wert darauf, dass Kinder, Sklaven und abhängig Beschäftigte dem Familienvater nicht sexuell ausgeliefert sein sollten. Eine Sexualnorm mit humanisierendem Charakter also. Die klassischen jüdischen Bibelausleger verstanden das mit wenigen Ausnahmen genau in diesem Sinn. Und die biblische Legende von der Stadt Sodom, in der die Männer der Stadtmiliz zwei übernachtende männliche Fremde vergewaltigen wollten (Genesis 19,1–29), lasen sie nicht als Erzählung von einer »homosexuellen Stadtbevölkerung«, die begierig auf »Frischfleisch« sei, sondern als Beispiel für soldatische Gewalt, Fremdenfeindlichkeit und für die Weigerung, die eigenen Reichtümer mit Menschen von außerhalb zu teilen. Dass die Milizionäre, die sich anschickten, über die Fremden herzufallen, »anders veranlagt« seien, kam niemandem in den Sinn.
Kein jüdisches, sondern ein christliches Problem
Die Spur der Homophobie führt somit nicht ins Judentum (das manche gerne für das...
Erscheint lt. Verlag | 27.5.2024 |
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Reihe/Serie | MERKUR |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Essays / Feuilleton |
Schlagworte | Debatte • Essay • Geschichte • Gesellschaft • Kunst • Literatur • Philosophie • Politik |
ISBN-10 | 3-608-12306-7 / 3608123067 |
ISBN-13 | 978-3-608-12306-7 / 9783608123067 |
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