Wir waren Sappho (eBook)
304 Seiten
Schöffling & Co. (Verlag)
978-3-7317-6265-2 (ISBN)
In ihrem für den Booker-Preis nominierten Roman beleuchtet Selby Wynn Schwartz ein zu Unrecht vergessenes Kapitel feministischer Geschichte: Von der italienischen Frauenrechtlerin Lina Poletti über Colette und Sarah Bernard bis zur großen Virginia Woolf verknüpft sie Schicksale historischer Personlichkeiten zwischen Italien, Griechenland, London und Salons in Paris.
Ihre übersprudelnd kreative fiktionalisierte Biografie folgt den Erlebnissen einer Gruppe genialer Feministinnen, Queers, Künstlerinnen und Schriftstellerinnen der Jahrhundertwende, die sich allesamt nicht ins Frauenbild ihrer Zeit fügen wollen, auf ihrem Weg zu Freiheit und Selbstbestimmung.
Wie ein Leuchtturm steht die antike Dichterin Sappho über alledem, ihre Lyrik dient den Protagonist*innen als Vorbild und Inspiration.
Schwartz' vielstimmiger, episodenhafter Roman macht mit seiner poetischen Sprache lesbische und feministische Geschichte auf einzigartige Weise greifbar. Er würdigt Pionier*innen der Vergangenheit und ist zugleich hochaktuell und gibt Hoffnung für die Zukunft.
Selby Wynn Schwartz promovierte an der University of California, Berkeley, in Vergleichender Literaturwissenschaft. Derzeit unterrichtet sie Schreiben an der Stanford University. Die preisgekrönte Schriftstellerin stand mit ihrem Debütroman Wir waren Sappho auf der Longlist für den Booker-Preis 2022.
Luca Mael Milsch studierte Literaturwissenschaften in Hannover und Berlin, schreibt und übersetzt Lyrik und Prosa, zuletzt Andrew Sean Greer und Mason Deaver, und moderiert Lesungen. Das Romandebüt Sieben Sekunden Luft erscheint im März 2024 im Haymon Verlag.
»Auf atemlose, sinnliche Art und Weise schön... Ein ganz und gar neuartiges und notwendiges Buch.« The Guardian
Drei
Anna Kuliscioff, geb. ca. 1854
Bevor Anna Kuliscioff ihr Leben dem Kampf um die Rechte italienischer Frauen widmete, wurde sie im Süden der Ukraine geboren. Sobald sie alt genug war, um eine grundlegende Vorstellung von Menschlichkeit zu bekommen, fing sie an, diese Prinzipien den Menschen um sich herum zu erklären, wofür sie in mehreren Ländern Europas verbannt, festgenommen und inhaftiert wurde.
1877 ersang sie sich in einem öffentlichen Park in Kiew ihr Abendessen und floh dann mit gefälschten Ausweisdokumenten aus dem Land. Kaum war sie, auf der Suche nach einer illegalen Druckerpresse, in der Schweiz angekommen, tauchte die Polizei auf und stellte gezielt Fragen zu ihrer revolutionären Überzeugung, dass Frauen nicht als Eigentum betrachtet werden sollten.
Sie wurde aus Frankreich ausgewiesen, in Mailand gefasst und in Florenz verhaftet, obwohl es, bis auf ihre eindeutige Unbelehrbarkeit, keine Beweise für ihre Schuld gab. 1881 bekam sie eine Tochter, gezeugt mit einem italienischen Anarchisten. Anna Kuliscioff hütete sich davor, den Mann zu heiraten. Sie hatte andere Pläne.
Anna Kuliscioff, 1886
Anna Kuliscioff war so oft das Ziel von Empörung und Verwünschungen gewesen, dass sie 1884 kaum noch eine Beleidigung registrierte. Sie schrieb sich in der Universität von Neapel ein, um Medizin zu studieren, ungeachtet der Tatsache, dass dies vor ihr noch nie eine Frau getan hatte. Sie interessierte sich für Epidemiologie und die Frage, wieso um alles in der Welt zugelassen wurde, dass so viele Italienerinnen an Kindbettfieber starben. Als sie bei ihrer Abschlussfeier 1886 als Beispiel für die pathologische Perversion von Weiblichkeit angeprangert wurde, hielt Anna Kuliscioff kurz inne, um die korrekte medizinische Definition von ›Pathogenese‹ zu zitieren. Dann nahm sie ihr Zeugnis entgegen.
Die patria potestas
Aus Gründen purer Menschlichkeit stellte sich Anna Kuliscioff gegen den Papst, den russischen Zaren und die meisten italienischen Sozialisten. Es war grotesk, womit diese Männer sich beschäftigten, anstatt sich mit vermeidbaren Infektionen im Kindbett zu befassen. Schlimmer noch, wahrlich bösartig, war das beinahe beiläufige Schinden von Körpern, nahezu ausschließlich denen von Frauen, in den Hinterzimmern der Haushalte, was laut einem bürgerlichen Gesetz namens patria potestas legal war.
Patria bedeutet sowohl ›Vater‹ als auch ›Vaterland‹, und potestas war der feste Knoten ihrer herrschaftlichen Macht, über Frauen, Kinder und im Haus befindliche Güter zu verfügen. Die patria potestas war seit Anbeginn des Römischen Reichs von Vater zu Vater übertragen worden. Durch den Codice Pisanelli wurde sie 1865 an die autorizzazione maritale gebunden, die den Ehemann ermächtigte, seine Frau auf ewig wie ein Kind zu behandeln: Ganz gleich, wie Geist und Körper wuchsen, sie würde in ihrem Vaterland nie als eigenständige Person gelten. Sobald es ihr möglich war, wurde Anna Kuliscioff Ärztin, spezialisiert auf Gynäkologie und Anarchismus.
Dottoressa Anna Kuliscioff, Il Monopolio dell’Uomo, 1890
Irgendwie schaffte es Dottoressa Kuliscioff 1890, zu einer Vorlesung an die Philologische Gesellschaft der Universität Mailand eingeladen zu werden, wo noch nie zuvor eine Frau einen Vortrag gehalten hatte. Für ihren Beitrag wählte sie den Titel Das Monopol der Männer. An einem sonnigen Tag im April nutzte Anna Kuliscioff die Gelegenheit, den Anwesenden zu erklären, warum die Ehe im Grunde genommen eine Erniedrigung der Frauen darstelle. Die Philologen müssten doch wissen, dass patria potestas nichts anderes als der lateinische Ausdruck sei für Väter, die ihre Töchter billig an genau jene Männer veräußerten, die sie vergewaltigt hatten.
Dottoressa Anna Kuliscioff, Critica sociale, 1899
Dottoressa Anna Kuliscioff, von einem Militärtribunal zu mehreren Monaten Haft verurteilt, wurde am ersten Tag des Jahres 1899 aus dem Gefängnis entlassen. Zu Hause erwarteten sie ihre staubigen Bücher, das durch die Fenster fallende Winterlicht und der weißtürmende Anblick des Duomo von Mailand, der seine Herrschaft über die Piazza verkündete. Für die Dauer eines Kaffees ließ sich Anna Kuliscioff auf dem grünen Diwan nieder. Ein neues Jahr war angebrochen; bald würde ein neues Jahrhundert beginnen; und auch wenn die Hälfte der radikalen Sozialisten, die für die Critica Sociale schrieben, noch immer inhaftiert waren, überlegte Anna Kuliscioff, konnte die nächste Veröffentlichung nicht aufgeschoben werden.
Im Rausch von Tinte und Staub schrieb Anna Kuliscioff an alle, die bei der nächsten Ausgabe helfen könnten: Genossinnen, Revolutionäre, Sozialistinnen, Feministen, Schriftstellerinnen, Verleger. Zu Anna Kuliscioffs Kameradinnen zählte auch die sozialistische Revolutionärin, deren feministische Zeitschrift mittlerweile von einer jungen Autorin namens Rina Faccio herausgegeben wurde.
Rina, 1901
Am Abend konnte Rina ungestört lesen oder ins Theater gehen. Im Norden verbreitete sich allmählich der Gebrauch des Wortes femminista, das wie das französische femme klingt, was sowohl ›Ehefrau‹ als auch ›Frau‹ bedeutet. Da wir die Frauen den Ehefrauen vorzogen, hielten wir gebannt Ausschau nach Anzeichen dafür, was die Zukunft bringen würde. Das Theater in Mailand zum Beispiel war derart überfüllt, dass Rina kaum einen Platz darin fand. Sie spielten Ibsens Nora oder Ein Puppenheim, die Geschichte einer Frau namens Nora, die es schafft, endlich keine Ehefrau mehr zu sein. Im letzten Akt verlässt Nora ihr Haus, ihren Ehemann und ihre Kinder. Das Einrasten der hinter ihr zufallenden Tür – ein Geräusch wie das Zuschlagen eines Jahrhunderts.
Eleonora Duse, Nora, 1891
In Italien hatte Nora oder Ein Puppenheim durch die Schauspielerin Eleonora Duse Bekanntheit erlangt. Sie war bereits eine Berühmtheit, als sie 1891 mit zweiunddreißig Jahren melancholisch und entschlossen in ein Theater in Mailand spazierte. Auf der kalten Bühne legte sie Hut und Pelz ab und ließ sich gesenkten Hauptes eine Kette mit schweren Schlüsseln um den Hals hängen, deren Zinken bis zu ihren Oberschenkeln hinabhingen, sodass jeder Schritt, den sie tat, das Geräusch von Schlüsseln und Ketten, Ketten und Schlüsseln machte. Am Premierenabend kosteten die Eintrittskarten das Doppelte des üblichen Preises, trotzdem ächzte das Theater bis hinauf zu den Rängen ob der Vielzahl an Menschen. Als der Vorhang aufging, wurde Eleonora Duse zu Nora.
Rina, Sibilla, 1902
1902 ließ Rina den Mann, das Kind und ihren Namen hinter sich. Sie floh nach Rom und mietete ein kleines Zimmer mit einem Schreibtisch an. Während sie Privatunterricht gab und ehrenamtlich auf einer Krankenstation für mittellose Kinder arbeitete, verliebte sie sich in einen angesehenen Schriftsteller. Als der Schriftsteller sie nach ihrem Namen fragte, sagte Rina, sie heiße Sibilla, nach der Sibylle von Delphi. Ein neuer Name war wie ein leeres Notizbuch; Rina konnte sich darin einschreiben. Mit den frischen Bogen neuer Seiten würde sie schreibend zu Sibilla werden, rätselhaft flüsternd.
Laut dem Codice Pisanelli war ihr Handeln unentschuldbar: Niemandem war es erlaubt, eine Ehe zu verlassen, am allerwenigsten einer Ehefrau und Mutter. Ein Anwalt würde sich nicht einmal aus reiner Barmherzigkeit ihres Falls annehmen. Das Problem von Frau Pierangeli Faccio sei unlösbar, sagte er, sie werde ihr Kind niemals wiedersehen. Ihre alten Namen sollte sie wie Ketten hinter sich herschleifen. Als sie die Kanzlei verließ, entfuhr Sibillas Kehle ein Geräusch wie von Dämpfen, die aus Erdrissen entweichen. Dann widmete sie sich wieder ihrem Schreiben.
Sibilla Aleramo, geb. 1906
Jahre später sollte Sibilla Aleramo behaupten, sie sei 1906 geboren worden, als das erste Exemplar von Una donna in Turin gedruckt wurde. Sie hielt das Buch in Händen. Nicht wie ein Baby. Nicht wie ein Fläschchen Laudanum. Sondern wie einen festen Gegenstand, der ein ganzes Leben fasste. Auf dem Buchrücken prangte ihr neuer Name. Niemand wusste, ob es sich dabei um einen Roman oder eine Autobiografie handelte, aber die Seiten sicherten Sibillas Auskommen, als sie mit dreißig Jahren unerschrocken auf die Welt kam. Es war die Geschichte, die sie sich über sich selbst erzählte, wie eine Sibylle, die ihre eigenen Worte verschlingt.
Sibilla Aleramo, Una donna: Geschichte einer Frau, 1906
Das Manuskript von Una donna wurde anfänglich von einer Reihe Verleger in Mailand abgewiesen, weil es ihnen zu langweilig schien. Es sei ja bloß die Geschichte einer Frau, sagten sie. Es war eine Geschichte, die sie schon kannten, es gab bloß diese eine Geschichte. Sie hatte keinen Spannungsbogen.
Una donna war die Geschichte einer Frau, deren Mutter wie ein Papierschnipsel in einem weißen Kleid aus dem Fenster fällt, deren Körper wie eine Hyazinthe zertreten wird, deren Vater sie wie eine Ware diesem Mann aushändigt, deren Sohn inmitten von Wäsche und blauen Flecken geboren wird. Es war die Geschichte einer Frau, die nicht Nora heißt und der es gelingt, endlich keine Ehefrau mehr zu sein.
Una donna erschien stattdessen in einer kleinen typografischen Agentur in Turin, wo es nahezu unverzüglich von einer großen Leserschaft aufgekauft wurde. Die Verleger in Mailand waren ausgesprochen...
Erscheint lt. Verlag | 23.5.2024 |
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Übersetzer | Luca Mael Milsch |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
ISBN-10 | 3-7317-6265-X / 373176265X |
ISBN-13 | 978-3-7317-6265-2 / 9783731762652 |
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