Heilige und Dichter (eBook)
272 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61445-9 (ISBN)
Walter Nigg, geboren 1903 in Luzern, war Professor für Kirchengeschichte in Zürich und wirkte als protestantischer Pfarrer im zürcherischen Dänikon, wo er 1988 starb. Neben Heiligen, Ordensgründern, Propheten und Mystikern handeln seine Bücher auch von Künstlern und Dichtern und nicht zuletzt von Ketzern, die er als »verunglückte Heilige« verstand.
Es ist schade, jedoch nicht zu bestreiten: die gehaltvolle Welt der Kirchenväter ist der Christenheit unbekannt geworden. Nicht nur sind die Väter für die Laien fremde Gestalten, auch die meisten Theologen wissen wenig über sie. Laien und Theologen lesen gegenwärtig psychologische, soziologische und politologische Schriften um die Wette, keinesfalls aber patristische Werke. Wer kennt heute noch den leidenschaftlichen Tertullian, diesen altkirchlichen Kierkegaard, dessen Formulierung «Gottes Sohn ist gekreuzigt – das ist nicht beschämend, weil es eine Schmach ist; und Gottes Sohn ist gestorben – das ist glaubwürdig, weil es eine Torheit ist; und er ist begraben und auferstanden – das ist gewiß, weil es unmöglich ist» das zeitlose, denkerisch nicht zu bezwingende Paradox des Evangeliums ausspricht? Ebenso ist der durch Jahrhunderte hindurch verleumdete Bekenner Origenes erst in unserer Zeit von Henri de Lubac und Hans Urs von Balthasar rehabilitiert worden, so daß wir wieder zu ahnen beginnen, wieviel wir von seinem Schriftenverständnis zu lernen haben. Tertullian, Origenes und noch viele andere Väter führen ein vergessenes, nur dem Fachgelehrten noch bekanntes Dasein. Die Kirchenväter scheinen für die Christenheit nicht mehr zu existieren und sind in unerforschliche Tiefen versunken. Dabei stehen sie doch dem Urchristentum rein zeitlich schon viel näher als die Scholastiker und die Reformatoren. Dank den Vätern wurde Newman zu dem überaus vornehmen Theologen von führender Bedeutung. Es ist eine der großen, derzeit noch völlig ungelösten Aufgaben, die Kirchenväter neu zu erschließen und sie den heutigen Christen wieder nahezubringen; dieses schwere, sogar ungeheuer schwere Problem zu bewältigen duldet keinen Aufschub. Josef Wittig ließ mir vor seinem Tode sagen: «Die Kirchenväter lebendig zu schildern wäre noch wichtiger, als die Heiligen darzustellen.» Ich meine aber, man sollte das eine tun und das andere nicht lassen. Jedenfalls gehört die Aktualisierung der Kirchenväter zu den dringlichsten Problemen.
Eine einzige Gestalt der Kirchenväter ist dem gebildeten Christen nicht ganz aus den Augen entschwunden: Augustinus. Er verdankt dies neben seiner außerordentlichen Denkkraft und dem rhetorischen Glanz seiner Sprache besonders seinen «Konfessionen», die immer wieder aufgelegt werden. Von den Übersetzungen ist jene von Hermann Hefele in künstlerischer Beziehung wohl dem Originaltext am nächsten. Die «Konfessionen» sind bis zur gegenwärtigen Stunde der geeignetste Einstieg zu einer ernsthaften Lektüre. Dieser Anleitung wollen auch die nachfolgenden Zeilen dienen. Dabei enthalten die «Konfessionen» längst nicht den ganzen Augustin, doch vermitteln sie dem heutigen Leser am ehesten den Zugang zu diesem schöpferischen Christen und grandiosen Denker.
Zwar wurden auch die «Bekenntnisse» in der Neuzeit unterhöhlt. Nietzsche fand sie falsch, augenverdrehend, ekelhaft verlogen und behauptete, dem darin enthaltenen verpöbelten Platonismus fehle der stolze Geist. Außerdem sei das «rührselige sich vor Gott zur Schau stellen» verabscheuungswürdig, und man sähe in diesem kriecherischen Buch dem Christentum in den Bauch. Sein Urteil schwatzte André Suarès nach, indem er in seinem Aufsatz «Misère des Heiligen Augustin» höhnte: «Wie ein Dorfpfarrer hält er sein Bett und die zwei oder drei banalen Szenen, die er in den Bettlaken mit einer Frau aufführt, für die Achse der Welt.» Die geschmacklosen Urteile verraten einen Snobismus, der nichts Großes anerkennt und nicht einmal den Künstler in Augustin wahrnimmt, der von hohem Rang war.
In Wirklichkeit sind die «Bekenntnisse» ein ungemein ergreifendes Werk. Der Erbe einer ganzen Kultur schrieb es, und um seiner Großartigkeit willen überdauerte es auch die Jahrhunderte. Unzähligen Menschen wurde es eine Anleitung zur Meditation über das innere Leben. Die «Bekenntnisse», in meisterhafter Sprache abgefaßt, tönen stellenweise wie Musik, leise klagend und doch süß im Klang. Ein Lehrer der Rhetorik verfaßte das Kunstwerk, das trotzdem nie im bloß Schönrednerischen hängenbleibt. Auf keiner Seite ergeht sich Augustin in leerem Gerede; seine Worte dringen stets zum inneren Bereich vor. Er vermochte Unsagbares sagbar zu machen und erreichte damit eine der seltensten Selbsterschließungen. Sprache und Inhalt bilden in den «Bekenntnissen» eine unauflösliche Einheit und bezaubern durch ihre bedeutungsschwere Form. Augustins «Bekenntnisse» sind eine erschütternde Beichte, in der er nie dem schalen «Kult des Ich» verfällt. Bei aller Ehrlichkeit ist er frei von jener Schamlosigkeit, die sich mit den eigenen Verfehlungen noch brüstet. Augustin schrieb die Bekenntnisse im Ton eines «erkennenden Betens und eines betenden Erkennens». Er ist der Mensch, der vor Gott durchsichtig werden will und daher vor dem Angesicht des Allmächtigen über sein Leben reflektiert. Zuweilen erhebt sich seine Stimme dabei zu wahren Lobpreisungen. Nicht oft wurde in der Geschichte der Autobiographie diese Höhe erreicht; alle kritischen Bedenken gegen die Zuverlässigkeit der Berichterstattung lösen sich in ein Nichts auf. Der innere Glanz wird offenkundig, wenn man die «Bekenntnisse» mit der Lebensbeschreibung des langjährigen Schülers Possidius über Augustin vergleicht, der den zweiten Teil von dessen Leben aufzeichnete. Glücklicherweise ist Possidius’ Werklein vorhanden; namentlich vom älteren Augustin erzählt es höchst Wissenswertes. Possidius’ Prosa ist geradezu schwunglos und eingetrocknet gegenüber Augustins Autobiographie, die vom Atem der Ewigkeit durchweht ist, den auch der heutige Mensch noch spürt, wenn er sich unvoreingenommen dem Werke stellt.
Augustin war von kleiner Gestalt und machte mit seinem kahlgeschorenen Haupte und den glattrasierten Wangen keinen überwältigenden Eindruck. Der Mann mit dem scharfgeschnittenen Gesicht war von zarter Konstitution und war in seiner Kleidung von betonter Einfachheit. Alle Bilder von Augustin stammen aus späteren Epochen. Von seinem inneren Leben dagegen hat man eine anschauliche Vorstellung, obschon er vor sich selbst bekannte: «Du aber warst innerlicher als mein Innerstes und höher als mein Höchstes.»
An Augustin fällt zuerst die ewige Geistesunruhe des menschlichen Herzens auf. Es ist nicht so sehr der empirische Ablauf seines Lebens mit den verschiedenen Stationen bedeutsam, als vielmehr die in den «Bekenntnissen» geschilderte Ruhelosigkeit seiner Seele. Sie hat weder mit der Unrast noch mit der Betriebsamkeit der modernen Zeit etwas zu tun, da sich Augustin keineswegs in einer hektischen Nervosität verausgabte. Bei ihm wurde die Unruhe schöpferisch, war sie doch metaphysisch und nicht bloß psychologisch ausgerichtet, ein Verhalten, das ihn beinahe zu einer altkirchlichen Faustgestalt machte. Seine Unruhe stachelte ihn zu einem unablässigen Suchen an, das nicht mit treuloser Unbeständigkeit verwechselt werden darf. Augustin war der suchende Mensch schlechthin, der größte aller Suchenden. Die in ihm lebende Unruhe ließ ihn nicht bei einer erreichten Stufe stehenbleiben, sondern trieb ihn unablässig weiter. Er selbst sagte: «So also wollen wir suchen; als solche, die finden werden, und so wollen wir finden; als solche, die suchen werden.» Unermüdlich fragte er, gab sich mit keiner Antwort vorschnell zufrieden, und jede Antwort drängte ihn zu neuen Fragen. Er war der von einer höheren Macht gejagte Mensch, der, wie ein von Hunden gehetztes Wild, immer weiter und weiter stürmte und sich keine Ruhe gönnte. Nie hätte er zum Augenblick sagen können: «Verweile doch, du bist so schön!» Bis zu seinem vierzigsten Altersjahr fühlte er sich nicht am Ziel. Er selbst schilderte überaus anschaulich seinen Zustand: «Immer näher kam ich und immer näher kam ich, und beinahe packt ich’s schon und hielt’s! Doch noch war ich nicht dort und packte es noch nicht und hielt’s noch nicht und zauderte noch immer, den Tod zu sterben und zum Leben neu zu leben.» Diese metaphysische Unruhe, der nichts, aber auch gar nichts Irdisches Genüge tun konnte, veranlaßte ihn, höher und noch höher hinaufzusteigen, bis er schließlich über sich selbst hinaus gelangte.
Der Höhepunkt dieses Suchertums endigte mit der in der Nähe von Mailand erfolgten Bekehrung. Sie wird in den «Bekenntnissen» ebenso dramatisch wie kunstvoll erzählt, so daß sie sich zu einem der großen Beispiele verdichtete. Zwar ist das Wort «Bekehrung» abgenutzt und voll unangenehmen Beigeschmackes. Besser wäre es, vom entscheidenden Durchbruch zum neuen Leben zu reden. Das augustinische Damaskus warf ihn buchstäblich zu Boden, und im selben Augenblick empfing er eine unerwartete Erleuchtung von oben, die ihn völlig umgestaltete und seinem Leben eine andere Richtung gab. Augustin war nach diesem Ereignis nicht mehr der gleiche Mensch. Wenn er auch noch einige Zeit brauchte, um das Geschehen innerlich zu verarbeiten, war er doch eine neue Kreatur geworden: die unfruchtbare Zeit des Umherirrens war zu Ende, sein Suchertum nahm eine gestraffte Form an, und er wußte fortan um das himmlische Jerusalem. Damals jubelte Augustin: «Frieden der Ruhe, Sabbatfrieden, Frieden ohne Abend.» Er schrieb wundervolle Worte über den abendlosen Tag, Gedanken, wie sie nur ein Mensch zu schreiben vermag, der die innere Ruhe gefunden hat.
Mit einer meisterhaften Psychologie schilderte sich Augustin in den «Bekenntnissen». Damals empfand man die lebensnahe Art der Beschreibung des Aufruhrs der eigenen Seele als eine unerhörte Neuerung....
Erscheint lt. Verlag | 24.4.2024 |
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Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | Augustinus • Biografie • Biographie • Lyrik • Religion • Religionsgeschichte • Thomas von Aquin |
ISBN-10 | 3-257-61445-4 / 3257614454 |
ISBN-13 | 978-3-257-61445-9 / 9783257614459 |
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