Die Yacht (eBook)
164 Seiten
Friedenauer Presse (Verlag)
978-3-7518-8013-8 (ISBN)
Anna Katharina Fröhlich, 1971 geboren, wuchs in Frankfurt a. M. und München auf. Sie veröffentlichte bisher die Romane Wilde Orangen, Kream Korner, Der schöne Gast und Rückkehr nach Samthar. Zuletzt erschien ihr Roman Die Yacht in der Friedenauer Presse. Sie lebt als Gärtnerin und Vorstandsmitglied des italienischen Verlags Adelphi zwischen Mornaga am Gardasee und Mailand.
Anna Katharina Fröhlich, 1971 geboren, wuchs in Frankfurt a. M. und München auf. Sie veröffentlichte bisher die Romane Wilde Orangen, Kream Korner, Der schöne Gast und Rückkehr nach Samthar. Zuletzt erschien ihr Roman Die Yacht in der Friedenauer Presse. Sie lebt als Gärtnerin und Vorstandsmitglied des italienischen Verlags Adelphi zwischen Mornaga am Gardasee und Mailand.
Pension Oriental
Martha liebte die Stadt N. mit ihren Palästen und ihren hinter Mauern verborgenen Gärten. Sie liebte sie an den frühen Morgen, wenn der Tau noch auf den vergoldeten Turbanen der zwei Mohrenköpfe lag, die als Fassadenschmuck über der Tür des Kurzwarenladens Calcina angebracht waren, wo etwas später die Sonne eine Welt aus Filamenten, Häkelgabeln, Maßbändern, Nadelkissen, Bordüren und Knöpfen wärmte, die in abgegriffenen Schachteln und Kartons auf den Tag zu warten schienen, an dem sie, mitsamt ihrer Besitzerin, verschwinden müssten.
Wer hier eintrat, dem öffnete sich eine Schatzkammer, dem leuchteten die an der Schmalseite der aufeinander gestapelten Schachteln haftenden, als Muster dienenden Knöpfe als Saphire und Rubine entgegen, der betrachtete sie mit demselben Ernst wie Ermina, für die sie, mochten sie aus Perlmutt oder Plastik sein, den gleichen Wert besaßen. Kein einziger Knopf ging ihr verloren, keinen einzigen gab sie kostenlos weg, mochte er auch nicht größer als eine Fliege sein.
Dieses Geschäft, das an ein mit Kurzwaren gefülltes Zwischendeck eines alten Handelsschiffs erinnerte, war ganz vom Geist seiner Besitzerin erfüllt. Das stille Hohelied der Sparsamkeit klang dem Kunden zwischen den feuchten Wänden entgegen. Ermina saß inmitten ihrer Schachteln und Kästen wie Robinson Crusoe auf seinem Felseneiland, mit knapper Not ihre Habe vor dem Zugriff der Immobilienmakler rettend, die schon lange eine Smoothie Bar oder ein Starbucks aus den Trümmern dieses Ladens entstehen sahen. Immer, wenn Martha das Geschäft betrat, hatte sie das Gefühl, in eine Welt einzudringen, die für Erminas Kunden von fast geistiger Bedeutung war, eine Welt, in der die Bordüren, Bänder und Knöpfe mehr darstellten als lediglich Waren: Sie bildeten Samenkörner für die Phantasie, Keime und Sporen, aus denen Tischdecken und Topflappen, Blusen und Bettjacken erwuchsen.
Vor allem liebte Martha diese Stadt an den Samstagmorgen, wenn die Akademie der Schönen Künste, wo sie für die Sommermonate Juni, Juli und August einen Malkurs belegt hatte, geschlossen und im ehemaligen Prostituiertenviertel SantˊAntonio Markttag war. Unter den sonnengebleichten Zeltplanen, ertönte dann ein zucchine fresche! fave fresche! oder verkündete eine Gladiatorenstimme pollo fritto! pollo fritto! Ein hagerer Mann mit spitz zulaufender Nase und Vipernausdruck in den kleinen Augen pries mit krächzender, leicht gekränkter Stimme Kirschen an. Forza! schrie er in das Kreuzfeuer der heiseren und harten Händlerrufe, forza! Ciliege dolci, ciliege grandi! Wie an einer Börse erklangen aus allen Ecken und Enden Zahlen. Manche Stimmen waren Stimmen von Raben und Krähen. Die Händler wussten, dass sie das Gehör der Kunden überwältigen mussten, wenn sie ihre Ware vor zwölf Uhr loswerden wollten. Ihre Ausrufe verhallten als magische Donner, welche die Schritte der Einkäufer vor ihren Ständen festbannten, vor allem die Schritte der reichen Italienerinnen mit ihren Todds und ihren Gucci-Taschen, die zwischen großgewachsenen Äthiopierinnen, ihre Waren ausschreienden Sufi-Nachfahren, zwischen schwarzen Frauen in langen Boubous, prophetenhaft auftretenden Sikhs, Kebab zubereitenden Marokkanern und Regenschirm verkaufenden Chinesen vierhundert Gramm Culatello oder ein Stück Parmesankäse kauften. Eingelegte Sardinen, Lakritzstangen, Käsereiben, Handsicheln, Töpfe und Berge von Slips lockten die Blicke. In die Rufe der Händler mischten sich Taubengurren und Hundegebell. Eine Unterwäscheverkäuferin in mit Goldschmetterlingen geschmückten Sandalen fächerte sich mit einer Zeitung etwas Luft zu. Unter dem Fuß eines alten Mannes zerbarst ein Fischkopf. Der gelbe Rocksaum einer Sintifrau schleifte durch die am Boden liegenden Artischockenblätter und zertretenen Erdbeeren. Hier witterte eine Frau wie sie eine Freiheit, die ihr beim Onlineshoppen verwehrt war. Überhaupt machte sich an Markttagen durch Schreie, heftige Gesten, unwirsche Blicke und lautes Gelächter eine uralte Wildheit im Menschen Luft. Martha sah einmal eine monumentale Russin in zerrissenen Jeans, die mit der Stimme eines Stammeshäuptlings auf einen schmalen Mann einbrüllte, der kraftlos zwischen ihren Händen hing.
Samstagmorgens war das Viertel von SantˊAntonio ein Suk, ein Bazar, eine moderne Karawanserei, ein europäisierter Teil des Orients, wenn die Stadt N. aus allen Weltteilen Menschen anzog. Vom Gang der Geschichte hierher karamboliert, entfalteten sie zwischen den alten Stadtmauern ein Leben, das es in Sant´Antonio bereits gegeben hatte, als das Viertel noch nicht nach einem Heiligen, sondern vielleicht nach Merkur benannt gewesen war.
Wenn an den Markttagen die Tauben unter die Schirme der Stände flatterten, die Spatzen sich auf den Brunnenrändern niederließen und ihre Schnäbel ins kühle Wasser tauchten, der Gestank von Fisch in Kaffeebrisen wehte, die Messerschärfer, Strumpfverkäufer oder Handtaschenvertreiber ihre Waren und Dienste anboten, lebten an den Holztischen der Bar Tre Stelle die letzten zwei Jahrzehnte des vergangenen Jahrhunderts fort. Ins Tre Stelle kehrten die ehemaligen Handwerker der Stadt ein, die Maler, Schreiner und Buchbinder, doch auch die Versager, die niemals zu Ruhm gelangten Sänger und Dichter. Als ergrautes Glück von gestern, verkörperten die bärtigen und schnurbärtigen Kunden mit ihrer ganzen Erscheinung ein Italien, das sich außerhalb ihrer Stammbar nur noch in den Filmen von Adriano Celentano fand. Gemeinsam mit den Besitzern der Tre Stelle, ein etwas triefäugiges Ehepaar, waren sie allesamt Anhänger eines Radiosenders, der nur Schlager sendete, die so alt waren wie sie und den kargen Raum mit den Sehnsüchten ihrer Jugend erfüllten.
Während der Wochentage besuchte Martha jeden Morgen den Kurs in der Akademie, nachmittags durchlief sie kreuz und quer die Altstadt, spazierte über die Piazza Duomo in die Via Sant`Eufemia, bog in die Via Gesú ein oder setzte sich ins Café auf dem Corso.
Immer mit einem Block und einem Bleistift unterwegs, zeichnete sie auf ihren Spaziergängen Spolien, Kirchenfenster oder Turmspitzen ab, hielt immer wieder Eindrücke auf dem Papier fest. Vor allem war sie auf der Suche nach Gesichtern. Wie eine Raubkatze schlich sich Martha an die Gestalten heran, die ihre Aufmerksamkeit erregten. Einmal folgte sie einer Blinden mit langem, schwarzem Haar, die mit einem Schäferhund in eine Trattoria trat, sich an einen Tisch setzte, den Kellner heranrief, um die Speisekarte bat und zu ihm sagte: »Leih mir deine Augen.« Ein anderes Mal ging sie einem Mann nach, der so große und runde Augen hatte, als wollte ihr Besitzer das Dunkel durchleuchten, von dem er sich vielleicht umgeben fühlte. Die meisten Menschen aber, die an ihr vorbeitrieben, vor allem die gleichgültig wirkenden jungen Männer in ihren engen Hosen, den etwas zu schmalen Jacketts von Doppelgänger, den gepflegten Bärten und strahlend sauberen Sneakers, setzten keine Gefühle in ihr frei. Martha war nach etwas anderem auf der Suche.
Bruce Chatwin begab sich auf Reisen, um Menschen aufzusuchen, die in seinen Augen einen besonderen Platz einnahmen, Nadeshda Mandelstam etwa oder Konstantin Melnikow, Menschen, von denen Proust behauptet hätte, sie bildeten das Salz der Erde, Menschen, die in Platons Staat als Gefahr gelten, als Bedrohung der Ordnung, Menschen, die Platon «Künstler« nannte, und die er fürchtete, da er wusste, dass die Kräfte der Einbildung einem verwandelnden oder zerstörerischen Feuer gleichen.
Was Martha betraf, so suchte sie nach Wesen, die Ähnlichkeit mit ihrem Großvater hatten, dessen Bild sie nach seinem Tod wie einen Heiligenschrein in sich trug, der vor Vulgarität und Bosheit geschützt werden musste. Sie hegte dieses Bild wie einen Schatz, aus dem sie hervorgegangen war, weil sie aus den Landschaften, Büchern und Bildern gemacht war, die er geliebt und ihr gezeigt hatte. Es war seine Liebe zu Italien, die sie dazu getrieben hatte, in N. einen Malkurs zu belegen.
Der alte Mr Oberon, der seine Enkelin als einzige Erbin eingesetzt hatte, war ein hagerer, großgewachsener Mann gewesen. Aus dem Grün seiner Augen, die eine ihm im Herzen liegende Ruhe und Kraft widerspiegelten, stachen melasseschwarze Pupillen. Etwas Weitgereistes, irgendwie Hafenhaftes ging von ihm aus. Nach einer Laufbahn als Arzt in London, hatte er sich im Alter in der Nähe von Oxford in ein kleines Landhaus zurückgezogen. Hier hatte Martha viele Ferientage ihrer Kindheit verbracht. In den niedrigen Räumen, die für das kleine Mädchen allein schon durch das von Efeu gefilterte Licht einen phantastischen Reiz besaßen, herrschte eine besondere, etwas dünne Luft, die, wie ein tief im Norden gelegenes Schmetterlingshaus seine tropischen Exemplare, den Großvater bis ins hohe Alter konserviert hatte.
Selbst ein gewandter Zeichner, hielt Mr Oberon seine Enkelin seit ihrem siebten Lebensjahr zum Zeichnen an. Über Jahre hinweg, nahm er sich, immer wenn...
Erscheint lt. Verlag | 18.4.2024 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Familienroman • Italien • Liebe • Mittelmeer • Oberschicht • Sex • Zärtlichkeit |
ISBN-10 | 3-7518-8013-5 / 3751880135 |
ISBN-13 | 978-3-7518-8013-8 / 9783751880138 |
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