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Überlebt -  B. Inka Kerbstadt

Überlebt (eBook)

Unbeirrte Suche nach dem Woher und Wohin Oder Die Ausnahme, die Hoffnung gibt
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
656 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7597-7139-1 (ISBN)
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Die kleine B. Inka erinnert sich: Heute passiert etwas Besonderes. Sie bekommt Eltern. Ein schweres Leben beginnt, ein Leben in Isolation und mit roher Gewalt. Verzweifelt versucht die Heranwachsende sich zu orientieren. Alles an ihr und um sie herum scheint anders. Im Studium auf sich allein gestellt, lernt sie ihren Mann kennen, heiratet früh und findet doch keinen Halt. Auch Jobs, im erzieherischen Bereich, wechseln. Die politische Wende 1989 macht es nicht leichter. Der Leistungssport scheint der einzige Anker zu sein, bis auch der versinkt nach erneutem Umzug. Ihr jüngstes Kind wird zum Engel und wendet das Blatt dem Leben entgegen. Ihre Ärztin hilft der vierfachen Mutter auf die Beine, laufen muss sie allein, einfach weiterlaufen.

B. Inka Kerbstadt, geboren 1956, sucht nach ihren Wurzeln. Als viertes von acht Geschwistern wächst sie doch in Einzelhaft auf, mit Adoptiveltern, später mit Stiefmutter und -geschwistern. B. I. K. studiert Pädagogik. Sie führt beharrlich den Kampf um Anerkennung. Ihr treuester Partner ist seit Kindheitstagen an ihr körperlicher Schmerz. 1996 steht B. I. K. an ihrem tiefsten Abgrund, der Welt entrückt, bereit, den letzten Schritt zu gehen. - Ein Fünkchen Hoffnung glimmt 2013 auf. Erstmals glauben die Ärzte der Verzweifelnden. Die verlorenen Jahre füllen sich mit Unfassbarem. Heilung setzt sich in Gang. Mit ihrem Erstlingswerk möchte B.I.K. der wachsenden Schar verwundeter Seelen einen Spiegel vorhalten, ihnen zeigen, dass sie nicht allein sind. Therapie lohnt sich, ganz gleich, wie weit jeder bereit und in der Lage ist, diesen Pfad neben der Hauptstraße zu betreten und mutig auszuschreiten, in kleinen, jedoch wirksamen Schritten.

Teil 2:
Verwirrung und Unsicherheit –
einzige Konstanten

Dein Vater hat eine neue Frau

So wird im Dorf gemunkelt. Manche sagen es mir sehr direkt: „Dein Vater hat eine neue Frau, oder?“ Was erzählen die Leute denn?! Er hat viel zu arbeiten. Ich glaube ihnen nicht, weil das nicht in mein kindliches Verständnis von Pietät passt.

Ich gehe zur Schule wie immer. Vati fährt zur Arbeit wie gewohnt. Ich führe den Haushalt und pflege die Gärten, versorge unser Vieh wie auch all die Jahre davor. Es ist viel leichter für mich geworden ohne Mutters Kontrolle und Petzen, ohne die Hilfsarbeiten in der Großküche. Fast möchte ich behaupten, es geht mir richtig gut! Mich beschleicht das wunderbare Gefühl von großer Freiheit, das erste Mal in meinem Leben. Doch die erste Mathearbeit nach den Winterferien setze ich in den Sand. Ich fange mir die erste und einzige Fünf meines Dorfschullebens ein.

Herr Lückfeld nimmt mich vor der Haustür der Schule kurz in die Arme. Herr Lückfeldt bietet mir „Rat und Hilfe“ an, wann immer ich sie brauche. Das tut mir so unendlich gut, weil es sich ehrlich anfühlt.

Vatis Reaktion auf diese Note war: „Wenn dir die Arbeit zu viel wird, müssen wir das Vieh eben abschaffen.“ Und das tut er tatsächlich. Auch den Garten, in dem wir nur Futter für die Tiere angebaut haben, gibt er ab. Bleiben nur noch der Blumen- und Gemüsegarten in der Schrebergartenanlage vor dem Neubau sowie der Haushalt. Sogar die große Wäsche (Bettzeug, große Handtücher, quasi die Kochwäsche) darf ich einmal im Monat im kleinen braunen Lederkoffer zur Textilreinigung schaffen. Die Annahme ist im ehemaligen Raum des Konsums, den es nicht mehr gibt, seit die kleine Kaufhalle eröffnet wurde. Ebenso muss hier die leere Propangasflasche für unseren Herd regelmäßig gegen eine gefüllte getauscht werden. Das darf ich auf keinen Fall vergessen. Aber notfalls haben wir ja den Beistellherd sowie noch reichlich Kohlen in unserem Keller.

Außerdem legt Vati ein Wirtschaftsheft an. Er erklärt mir das Prinzip der Buchhaltung, legt mir 400 Mark auf den Tisch. Dies sei mein Wirtschaftsgeld, das ich auf den Pfennig genau abzurechnen habe. Das bekomme ich inzwischen gut hin.

Ich denke an die zweite und dritte Klasse zurück. Ich musste das Milchgeld kassieren, aber es blieb jedes Mal Geld übrig, gefehlt hat nie welches. Egal, wie wenige Pfennige es waren, nach Hause konnte ich sie nicht mitnehmen, also versteckte ich sie heimlich unter einem Stein, im Gebüsch auf unserem Schulhof. Ob wohl je irgendwer meine Sammlung entdeckt hat?

Ich lebe sorgenfrei. Die Arbeit ist überschaubar, die Schule kein Problem. Ich helfe oft Renate, nicht nur beim Lernen, auch bei ihrer Arbeit. Ich habe viel Freizeit, denn oft sagt Vati früh, dass er nicht vor acht kommt, weil er noch zu tun hätte. Mir ist das sehr recht. Ich will nur vor ihm im Bett sein und schlafen. Er hat mich tatsächlich seit damals nie wieder auf diese Weise berührt.

Das 7. Schuljahr geht dem Ende entgegen. Die Sommerferien beginnen, Vati überrascht mich mit der Nachricht, dass ich erstmalig in ein Ferienlager fahren darf, nach Neuhof bei Wredenhagen. Richtig Ferien machen, so mit Wandern und Baden und wer weiß, was noch alles auf mich wartet. Ich hüpfe vor Freude in die Luft! Ich lerne Vatis Kollegin Frau Hahn kennen, sie hatte die Idee. Da habe ich ja Glück gehabt. Schade, dass Vati nicht selber darauf kam.

Frau Hahn ist echt witzig, nachsichtig, einfach da. Tina, die auch nach der achten Klasse auf die EOS gehen wird, und ihr Bruder Rüdiger haben eine tolle Mutter. Ob sie das auch wissen? In Neuhof jedenfalls genieße ich jeden Augenblick, den allabendlichen Huggi-Buggi nach sieben ebenso wie Federballspielen oder baden gehen samt Taufe beim Neptunfest als Flotte Wasserratte.

Wieder in Medow, erzählt Vati mir von einer neuen Frau, Lore. Vati spricht weiter nur von seiner Lore. Sie hat zwei Kinder, Jan und Kira. Warum nur wissen die Leute im Dorf immer mehr als ich? Und ich stehe als die Dumme da?!

Umbruch. Verlust. Desorientierung.

Das ruhige, gute Leben neigt sich vorerst ungeahnt dem Ende zu, sachte, aber beständig, unaufhaltsam. Mit Vati habe ich weder Streit, noch sonst irgendwelchen Ärger. Er möchte, dass ich Lore und deren Kinder kennenlerne. Neugierig bin ich schon. Der Gedanke an Geschwister motiviert mich sehr, diese Frau zu besuchen, denn von meinen Brüdern habe ich nichts. Und wie eine gute Mutter zu sein hat, wie ich sie erkennen kann, entzieht sich meiner Vorstellungskraft. Frau Hahn kommt dem vermutlich recht nah.

Letztlich hege ich trotzdem große Hoffnung, dass ich eine normale Familie haben werde, freue mich auf Brüderchen und Schwesterchen. Ich träume davon, einmal sieben Kinder zu haben, einen Mann, mit dem ich alt werde. Eine ganz normale Familie. Wenn wir als Eltern versagen, haben die Kinder sich untereinander, müssen nicht wie ich einsam in Einzelhaft aufwachsen. Zwei Geschwister sind dafür zu wenig. –

Ebenso hält mir diese Lore hoffentlich meinen Vater vom Leibe.

Allein dafür nehme ich die zweite Frau meines Vaters gern in Kauf. Geht es ihm gut, geht es mir ebenso.

Unsere Erstbegegnung läuft recht steif ab. Vati scheint von einem Extrem ins andere zu fallen. Diese Frau könnte meine große Schwester sein, ist nur 14 Jahre älter als ich. Na, wer weiß, wofür es gut ist. Entsprechend klein sind ihre Kinder, meine potentiellen Geschwister. Jan ist ein Baby, Kira acht, sie besucht die zweite Klasse.

Wir fahren nun fast jedes Wochenende nach Anklam in die Südstadt (direkt gegenüber dem Friedhof, wo die Trauerfeier für Mutti stattfand). Wenn die beiden Erwachsenen streiten, fühle ich Beklemmungen, wird mir übel. Wird das wieder so wie bei Vater und Franziska, seiner ersten Frau? Lore hat Franziska mir gegenüber als „schlechte Mutter“ betitelt, wie diese ebenso über meine leibliche Mutter urteilte. Das berechtigt keine der beiden, sich als „gute Mutter“ über die jeweils anderen zu erheben! Franziska wollte ich noch, wohl oder übel, für mich gewinnen, bei Lore ist Kampf um den Sieg angesagt! Für meine Gebär-Mutter habe ich nur Verachtung übrig; wegen ihr musste ich Adoptivwie Stiefmutter ertragen! Sie hat mir sowohl meine Kindheit als auch Jugend gestohlen! Sie ist es nicht wert, auch nur einen Gedanken an ihre Existenz zu verschwenden.

Entspannt geht es von Anbeginn bei Lores Eltern und Großeltern sowie ihrem 12 Jahre jüngeren Bruder Heider zu. Wir besuchen sie bald in Greifswald. Oma Herta erzählt mir unvermittelt, dass sie in der Ehe vor der mit Opa Ernst mehrere Fehlgeburten hatte; Opa sei nur Heiders Vater. Sie nehmen mich so warmherzig auf, als würde ich schon immer zur Familie dazugehören. Das genieße ich sehr. Es ist Erntezeit im Garten. Wir, Oma Herta, Uroma Frieda und ich, sitzen unter den Beerensträuchern und pflücken sie gemeinsam leer. Ein Déjà-vu streift meine Gedanken. Nein, jetzt ist es gänzlich anders! Wir singen dabei ein Volkslied nach dem anderen. Ich kenne viele. Auch wenn ich nie singen durfte, tat ich es mit Renate oder wenn ich allein war doch. Abends sitzen wir lange im Garten. Und Opa Ernst erklärt mir, welcher Vogel gerade singt. Eine Nachtigall habe ich bisher noch nie gehört, nicht bewusst jedenfalls. Ich bin glücklich!

Die Schule beginnt wieder, und somit verläuft der Alltag in Medow wie im vergangenen Schulhalbjahr. Vater fährt in die Stadt arbeiten und abends Lore sowie deren Kinder besuchen. Ich bin mit Schule und Haushalt gut beschäftigt, genieße meine Freiräume. Ich kürze meine Röcke, denn ich will wie die anderen Mädels modern gekleidet sein. So lange ich denken kann, hat Franziska Kleider immer viel zu lang gekauft, damit ich sie – meist sonntags, welch Schwachsinn! – mindestens drei Jahre tragen kann. Bestellt hat sie die per Katalog im Versandhaus Leipzig oder Karl-Marx-Stadt (heute wieder Chemnitz). Damit ist jetzt Schluss, und niemanden stört das. Mein Vater bekommt nicht mit, dass ich sein Haushaltsbuch ab und an minimal manipuliere. Niemand freut sich noch über meinen bescheidenen Verzicht. Wenn ich also Appetit auf Eis habe, hole ich mir eine Kugel. Dafür war die Wurst heute eben 25 Pf. teurer.

Ich habe im Frühjahr Jugendweihe. Darauf bereiten wir uns schon seit dem 7. Schuljahr vor. Das heißt, wir lernen, was es bedeutet, ein Mitglied der FDJ, der Freien Deutschen Jugend, zu sein. Nur FDJler dürfen an der Jugendweihe teilnehmen. Andreas ist auch hier nicht dabei, er wird etwas später in der Kirche konfirmiert, was immer das bedeuten mag.

Am 24. September werde ich vom Thälmann-Pionier zum FDJler, tausche stolz die Pionierbluse gegen mein Blauhemd ein. Ich binde den Thälmannpionieren ihr rotes Halstuch um und empfinde dies als feierlichen Moment wie damals, als ich es selbst von den Großen erhielt. Nun darf ich an der Jugendweihe teilnehmen und werde in die Reihen der Erwachsenen aufgenommen.

Wie die Thälmann-Pioniere die Freundschaft zur...

Erscheint lt. Verlag 15.4.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
ISBN-10 3-7597-7139-4 / 3759771394
ISBN-13 978-3-7597-7139-1 / 9783759771391
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