Am Saum der Welten (eBook)
188 Seiten
tredition (Verlag)
978-3-384-08323-4 (ISBN)
Schilfwanderung
DANIEL SCHLEGEL
Sie hätten ihr Lager im Schatten des Schilfs aufgeschlagen, hatte meine Schwester erzählt. In ihren seltsamen Kleidern und mit verhärmten Gesichtern mehr wie Reisende denn wie Sammler wirkend. Exotisch, meinte sie. Woher sie kamen? Das wusste sie nicht. Vielleicht aus dem Schilf selbst?
Am nächsten Morgen gingen wir hinüber; direkt nach den Lehrstunden, ohne unseren Eltern Bescheid zu geben. Das Schilf war uns verboten. Maurice versuchte, es uns auszureden; keine Wolke stehe am Himmel. Dennoch kam er mit.
Die Straßen der Stadt waren gepflastert, außerhalb der Mauern erstickten sie unter grünem Sand. Wir folgten der langen Linie aus gläsernen Laternen, dem Roten Grat, der ein Netz zwischen den Ortschaften spannte. Das Land glich einem kristallisierten Meer, wellig, von Dünen durchzogen. Über den Dörfern thronten Fesselballons. An ihren Seiten hingen Papierlaternen, die unentwegt brannten. Ein Schirm aus Licht, der über uns glühte: die Sichtblende.
Das Schilf sahen wir bereits aus weiter Ferne. Maurice bekam es mit der Angst zu tun: Der wolkenlose Himmel sorge ihn, er wolle heim. Meine Schwester redete ihm zu, also blieb er.
Am Wegesrand hockte ein Vogelschwarm – einige Vögel umtänzelten mehrere apathische Artgenossen, die ihren Kopf gen Himmel gerichtet hatten. In ihrem schwarzen Gefieder hatte sich ein öliger Schimmer eingenistet; in den großen dunklen Augen flackerten Funken, ein Lichtermeer spiegelnd, das niemand sah. Maurice bemerkte die Vögel nicht und ich verschwieg es.
Eine Gruppe Händler kam uns entgegen. Zwei Elefanten trugen Früchte und Wasserfässer für den Markt, ihnen voran ging ein Mann, der mit flinken Besenschlägen eine Schneise in den grünen Sand hieb. Man beachtete uns kaum, grüßte lediglich und schlug das Zeichen der Halbsonne, die Augen dabei stets gesenkt.
Eine Frau schien unser Vorhaben zu erahnen – wir sähen aus wie Abenteurer, meinte sie; ihr besorgtes Lächeln offenbarte eine breite Zahnlücke. Wir sollten die Straße nicht verlassen, abseits des Weges leuchte es. Wir bedankten uns für die Warnung und verließen wenig später den Pfad.
Querfeldein über die Ebene, über die sanften Hügel. Hinter uns hing die Sonne am Firmament und verkündete den angebrochenen Nachmittag. Der Himmel dünnte aus, zerfaserte; entblößt von dem blauen Schleier schauten kosmische Augen auf uns herab – am helllichten Tag.
Hier, nahe des Schilfs, passte vieles nicht mehr.
Zwischen den Sternen zeichneten sich Silhouetten ab. Wie ein dunkles Flimmern inmitten Tausender Lichter, ein kosmischer Schatten in eiskalter Leere. Wie das Flackern in den Augen der Vögel. Einbildungen, sagte ich mir, und die Einbildungen wanden sich.
Ich solle nicht nach oben schauen, warnte Maurice. Er sprach nicht im Spaß – so wie es auch unsere Eltern niemals taten. Ihre sorgenvollen Schläge hatten uns die Gefahr begreiflich gemacht. Wir zogen Handschuhe über und schlugen die Kapuzen hoch, damit das Leuchten nicht unsere Haut versengte. Meine Schwester reichte uns Sternengläser. Der Bügel drückte auf meinem Nasenrücken, das Gestell war zu groß, vermutlich gehörte es Mutter. Ich wagte einen Blick hinauf: stumpfe graue Lichtpunkte auf schwarzem Grund – jegliches Leuchten, jegliche Einbildung gefiltert.
Schließlich standen wir davor. Niemand sagte etwas. Wir starrten nur.
Das Schilf.
Eine Wand aus Irrsinn. Die Oberfläche bestand aus spiegelndem Metall; doch die Reflexion folgte keiner Logik – mal konkav, mal konvex, anschließend verzerrt, dann wieder glasklar. Sie schuf Formen, die das Schilf in ungleichmäßige Segmente zergliederten, als blickte man auf dicht gedrängtes Schilfrohr. Zwanzig, dreißig Meter reichte die Wand hinauf; in der Höhe verdickten sich die Rohre zu knospenartigen Kronen. Weder vermochte man hindurchzublicken noch wagte man hineinzuschreiten. Der Fuß des Schilfs war vom Schlick gesäumt: ein weißer Schatten, der sich der Sonne entgegenstreckte. Gleich einem Teppich bedeckte er lediglich den Boden. Kein tatsächlicher Schatten lag auf ihm, jegliche Dunkelheit ward verschluckt. Es raschelte und rauschte – woher die Geräusche rührten, war ungewiss. Ob hinter der Wand ein Ozean lag, wusste niemand. Manchmal sahen wir uns in der Spiegelung, wie wir auf dem Kamm der Düne standen und hinabschauten; ebenso die Sonne: Sie war ein schwarzes Ungetüm, das sich wie ein böser, gefräßiger Kraken am Firmament festklammerte und mit seinen Fangarmen neugierig die Erde betastete.
In sicherem Abstand schritten wir das Schilf ab. Nie setzten wir einen Fuß in den Schlick, Mutproben überließen wir den Narren. Damals hatten Wagemutige versucht, mit einem Fesselballon auf die andere Seite zu fliegen. Wiedergekehrt waren sie nicht. Andere Glücksritter hatten sich direkt ins Schilf begeben, nur um sich in dem spiegelnden Labyrinth zu verirren und nie wieder aufzutauchen. Reisende von fernher vermochten ebenfalls vom Schilf zu berichten – doch weder von einem Beginn noch von einem Ende hatten wir je gehört.
Irgendwann fragte ich. Die Neuankömmlinge seien in der Nähe. Wir folgten meiner Schwester. Über Dünen von zerstoßenem Smaragd und Quarz hinweg, stets abseits des Schlicks. Wie wir wanderte auch die Sonne parallel zum Schilf. Ob sie sich ebenfalls fürchtete?
Immer wieder begegneten wir Träumern – Menschen, die sich ungeschützt dem Leuchten ausgesetzt hatten, die willentlich zum Schilf gekommen waren. Wer sie waren, wie sie hießen, schien vergessen. In der Gemeinschaft sprach man ohne Namen über sie; und selbst in den Einwohnerbüchern ihrer Heimatorte fand man nur erbost geschwärzte Einträge. Im Schlick lag ein älteres Paar; auf dem Rücken, die Augen himmelwärts, hielten sie einander die Hände: friedlich. Ein weiteres Pärchen, zwei junge Männer, die einander in die Arme genommen hatten, erfüllt von eigenartiger Romantik. Daneben etliche einzelne Seelen, die starr verweilten: in ihren Gesichtern Trauer, Hoffnung, Verdruss, Angst, ein Lächeln. Allesamt blieben sie reglos. Ob tot oder mit offenen Augen schlafend war nicht zu erkennen; keiner der Körper verweste. Manche harrten hier seit Monaten, manche gar seit Jahren. Schier abgetrennt vom Lauf der Zeit. Was diese Menschen hierhergetrieben hatte, blieb rätselhaft: Angst oder Gewissheit? Hofften sie, das Ende zu finden oder die Ewigkeit?
Dann sahen wir sie.
Ihre grellgelben Uniformen, die den bleichen Grund betupften. Sie kampierten inmitten des Schlicks, nicht abseits. Unabsichtlich hineingeraten oder willentlich betreten? Ziellos wanderten sie umher, warteten, zogen Kreise. Sie wirkten träge und ausgelaugt. Manche lagen da, die Augen ins Leuchten gerichtet. Ohne Sternengläser. Unwillkürlich folgte ich ihren Blicken.
Wir beobachteten sie aus der Ferne und fühlten uns wie Forscher, die einen Insektenschwarm studieren. Sie alle saßen in der Falle, waren dem Tode geweiht. Sie zu retten lag nicht in unserer Macht. Wir sinnierten, woher sie stammten. Die Uniformen waren uns unbekannt, die Gesichter ebenso. Vielleicht Reisende, befand meine Schwester. Vielleicht ein Kult, befand Maurice. Vielleicht mochten irgendwann Sammler eintreffen und sie bergen. Doch bis dahin würde es zu spät sein. Leere Hüllen, denen Leben und Tod entflohen waren; entseelte Augen, in denen sich das Leuchten widerspiegelte – mehr blieb von Träumern nicht zurück. Antworten blieben sie schuldig.
Wenig später gingen wir heim. Die Nacht dämmerte. Ein halber Helltag war vergangen, uns mutete es kaum wie eine Handvoll Augenblicke an.
Hier, nahe des Schilfs, passte vieles nicht mehr.
Maurice murrte. Wir vermummten uns fester und entzündeten Laternen, um das kosmische Leuchten zu überblenden. Über den Orten erstrahlten die Kuppeln, erbaut aus Fesselballons und Lampions. Der Rote Grat warf sein Licht wie ein Rettungsseil aus. Wir griffen danach.
Meine Sternengläser verrutschten; über den Rand des Gestells schimmerte das Leuchten, gewährte freie Sicht auf die Ebene und das Firmament. Keine korrigierenden Prügel bewahrten mich davor: vielfarbiges Licht, schillernd, in ruhiger, endloser Bewegung. Gleich ätherischen Wellen schwappte und wogte das Leuchten über das Land, überzog es mit hässlicher Schönheit. Auf einem fernen Hügel wanderte ein Tross Vermummter.
Meine Schwester merkte auf. Abseits des Roten Grats saß eine Gestalt. Sie sei vom Pfad abgekommen, riet Maurice.
Wir beäugten sie. Eine junge Frau.
Maurice schauderte. Eine Wahnsinnige.
Meine Schwester nickte. Eine Verlorene.
Auch ohne über den Rand der Brille zu lugen, hatte ich es sehen können: Das Leuchten hatte ihre Unterarme versengt. Unter der Haut pulsierte das All. In Farben, die sich wie Egel wanden, gegenseitig aufsogen und neu gebaren. Der Zwiespalt zwischen Frieden und Furcht zeichnete die Miene. Sterne glitzerten...
Erscheint lt. Verlag | 8.3.2024 |
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Verlagsort | Ahrensburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
Schlagworte | Fantasy • Geistergeschichten • Grusel • Horror • KI • LGBTIQ • Mars • Melancholisch • Phantastik • Progressive Phantastik • Queer • Queere Literatur • Raumfahrt • Raumschiffe • Roboter • Robotik • Science-fiction • Strange • Tod • Trauer • Traurig • Weird • Weird Fiction • Weltall • Zombies • Zukunftsvisionen |
ISBN-10 | 3-384-08323-7 / 3384083237 |
ISBN-13 | 978-3-384-08323-4 / 9783384083234 |
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Größe: 2,4 MB
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