Tiger im Käfig (eBook)
244 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7583-4142-7 (ISBN)
Der kleine Junge hat ein geheimnisvolles Ritual: Vor dem Einschlafen klopft er zwanghaft immer wieder zehnmal an das Bettgestell und schaltet sein Nachttischlämpchen ein und aus. Seine Mutter und ihr neuer Partner ahnen nichts von den inneren Kämpfen ihres Sohnes.
Im Alltag ist er neugierig und aufgeweckt, ein sehr guter Schüler, der früh seine Leidenschaft für das Schachspielen entdeckt. Sein zwei Jahre älterer Bruder ist sein bester Freund und engster Vertrauter. Zusammen sind sie ein unzertrennliches Duo, voller Entdeckerdrang und Kreativität.
Doch das Unglück scheint dem Jungen in die Wiege gelegt. Eine bevorstehende Katastrophe wird sein kindliches Leben bald überschatten - und es wird nicht die letzte in seinem Leben sein...
Tauchen Sie ein in diese bewegende wahre Geschichte eines Kindes, das trotz aller Widrigkeiten seine innere Stärke bewahrt.
Gabriele Schneider (M.A.) ist Pädagogin, Sozialpsychologin und Psychologische Beraterin. Im Rahmen ihrer schriftstellerischen Tätigkeit befasst sie sich überwiegend mit sozialpsychologischen und intergenerationalen Themenbereichen. Sie ist wohnhaft in Frankfurt am Main.
15 Die Angst besiegen und Sieger werden
Er ist nun ein großer Bruder, aber die Angst ist immer noch da. Zum wiederholten Male liest er Die Brüder Löwenherz. Die Mama hat ihm das Buch von Astrid Lindgren zu seinem zehnten Geburtstag geschenkt. Man muss mutig sein, um die eigene Angst zu überwinden. Man darf vor allem keine Angst vor dem Abgrund haben. Der Abgrund erscheint nur tief und dunkel, ist es aber in Wirklichkeit nicht. Man muss sich trauen zu springen. Dann erscheint das Licht. Dann ist die Angst besiegt.
Ja, so steht es in dem Buch. Hat Weinen auch etwas mit Angst zu tun? Er muss immer so viel weinen. Niemand darf es sehen, dass er so viel weinen muss. Nicht einmal die Mama. Denn wenn Weinen und Angst zusammenhängen, dann darf es erst recht niemand sehen, wenn er weint. Niemand darf wissen, dass er Angst hat. Niemand. Sonst gilt er als Angsthase. Er ist doch jetzt ein großer Junge, ein großer Bruder. Und was würde erst der neue Papa sagen, wenn er ein Angsthase wäre. »Du bist ja eine Memme. Du bist ja ein Angsthase!«, würde er sagen. Nein, das würde er nicht ertragen. Da würde er sich in den dunklen Abgrund stürzen, um zu sterben.
Dass es die Starken sind, die ihre Tränen verbergen, das kann der Junge nicht wissen.
Es wird noch einige weitere Monate dauern, bis er sich entschließt, diese Angst, die so tief in seiner Brust rumort, ihn nicht zur Ruhe kommen lässt, ihn zu erdrücken scheint, ihm die Luft zum Atmen rauben will und die Kraft zum Leben, dass die Mama ihn so manches Mal ernst anschaut und sich sorgt, weil er so blass und viel zu still geworden ist, es wird noch lange dauern, bis er aus eigener Kraft versuchen wird, diese Angst vielleicht doch zu besiegen. So wie Die Brüder Löwenherz.
Beim Schachspielen ist er schon längst zum Sieger aufgestiegen. Er besitzt das Talent, das Können, die Disziplin und die Leidenschaft, die es benötigt, um tatsächlich einmal Schachweltmeister werden zu können. Dies ist sein großer Wunsch. Sein Traum. Sein Wille. »Im Schachspiel darf man sich keinen Fehler erlauben«, sagt er, »sonst ist man verloren. Ja, sonst ist man verloren.«
Die Schlagzeilen und Berichte über das junge Schachtalent erscheinen zunächst in der Schachzeitung des Schachbundes Rheinland-Pfalz und im Amtsblatt der Verbandsgemeinde, bald aber auch in der größten Tageszeitung Die Rheinpfalz.
1986
November 1986.
Erfolgreicher Schachnachwuchs. Die von den Schachfreunden XXX durchgeführten Bezirksjugendmeisterschaften verliefen für den gastgebenden Verein überaus erfolgreich. So gelang es dem jüngsten Mitglied des Vereins, XXX XXX, Bezirksjugendmeister der D-Jugend zu werden. Außerdem gewann er einen der vom Bürgermeister ausgesetzten Buchpreise für spektakuläre Partien.
Januar 1987.
Schachfreunde XXX. Für den zehnjährigen XXX XXX (D-Jugend), der schon drei Jahre in der XXXer Schulschachgruppe trainiert, endete das Turnier überaus erfolgreich. Nach nervösem Start steigerte er sich von Runde zu Runde. Alle Partien konnte er für sich entscheiden.
Mai 1987.
Schon mit elf Jahren »König« auf dem Brett. Bei den letzten Bezirksjugendmeisterschaften konnten sich drei Spieler des Schachclub XXX für die Pfalzmeisterschaften qualifizieren. Dabei brachte es ausgerechnet das jüngste Clubmitglied am weitesten. Der erst elfjährige XXX XXX stieß nach seinem Vize-Pfalzmeistertitel bis zu den Rheinland-Pfalz-Meisterschaften vor.
November 1989.
Schachfreunde XXX. Die Bilanz der XXXer Schachjugend kann sich sehen lassen. XXX XXX wurde vom Referenten für Ausbildungsfragen vom Pfälzischen Schachbund aufgefordert, sich für den Pfälzischen Leistungskader zu melden – eine ehrenvolle Aufforderung, die nur Jugendlichen zuteilwird, deren Talent außer Frage steht.
Wenn die Spiele, egal ob Schachspiel oder Fußballspiel, in heimischer Umgebung stattfinden und er bekannte Gesichter um sich herum wahrnimmt, dann fühlt er sich großartig. Doch Auswärtsspiele, nein, die liebt er nicht. Er kommt sich dann fremd und verloren vor. Die Konzentration auf das Brett oder den Ball mildern diese negativen Gefühle. Die vertrauten Gegenstände geben Halt und Schutz, so wie auch seine Kuscheltiere stets eine wichtige Schutzfunktion besaßen. Nun hat er sie auf den Speicher ausquartiert. Seiner Mannschaft, sowohl im Schach als auch im Fußball, ist er ein gutes, ja sehr gutes Spiel schuldig. Dies weiß er. Und die Mama und der neue Papa sind so stolz auf ihn, wenn er wieder einen Sieg errungen hat. Doch nach der letzten Bezirksjugendmeisterschaft im Schachspiel fühlt er sich erschöpft und ausgezehrt. Er ist müde und blass. Die betriebsame, ja hektische Atmosphäre rund um die Meisterschaften und die in seinen Augen übermäßig zur Schau gestellte Arroganz und Überheblichkeit einiger Mitfavoriten lehnt er ab und zieht sich immer öfter von ihnen zurück. Macht man sich nun über ihn lustig? Über ihn, den komischen Außenseiter?
Die Mama schaut ihn sorgenvoll an. »Was ist mit dir? Du siehst richtig krank aus? Du musst dich erholen. Ist etwas passiert, was dir Sorgen macht?« Sie nimmt ihn in den Arm. Er weint nicht. Er sagt nichts. Auch wenn, seitdem die kleine Schwester sein Leben freudig ausfüllt, das Ich nun wie selbstverständlich in seinen Alltagswortschatz eingegangen ist, kann er nicht über seine Sorgen, schon gar nicht über seine Ängste sprechen. Und obwohl die kleine Schwester so viel Sonnenschein in sein Leben bringt, sind viele Tage grau und düster, viele Nächte angstvoll und schwarz.
Der neue Papa entscheidet, dass er mit dem Schachspielen aufhören soll. Es überfordere den Buben, meint er. Auf jeden Fall solle er nicht mehr an den Meisterschaften teilnehmen, schon gar nicht mehr im Leistungskader mitspielen. Das wöchentliche Training im heimischen Schachclub könne wohl weiterhin nicht schaden. Der Traum vom Schachweltmeister ist also ausgeträumt. Dass die Spieltage im weit entfernten Schachtrainingszentrum nun wegfallen, er nun nicht mehr von diesen »Angebern« dort geärgert wird, das lässt ihn aufatmen. Die Mama weiß nicht, ob diese Entscheidung die richtige ist. Sie weiß gar nicht mehr, was richtig ist oder falsch bei ihrem nun großen Sohn. Alles ist anders, nicht mehr stimmig, nicht mehr verstehbar. Ihr lieber Bub, was ist los mit ihm? Ist es vielleicht die beginnende Pubertät, die ihn so verändert? Oder sind es die vielen Auseinandersetzungen und Streitereien mit ihrem Mann? Verlassen kann sie ihren Mann ja nun, da sie ein gemeinsames Baby haben, nicht. Es ist doch richtig gewesen, das Baby zu bekommen, oder? Der Sohn brauchte doch ein Geschwisterchen, da er ohne Bruder so alleine war. Auch das kleine Mädchen braucht doch jetzt seinen Papa. Hatte sie nicht auch insgeheim gehofft, dass die Streitereien mit ihrem Mann und seine Gewalttätigkeiten mit der Geburt des Kindchens vielleicht aufhören würden? Aber eine gewalttätige Persönlichkeit verändert sich nicht einfach so, nur weil ein Baby ins Haus gekommen ist.
Schon wieder ist im Leben des Jungen etwas geschehen, worauf er keinen Einfluss hat, was er nicht will, was einfach geschehen ist. Abgemeldet von den Bezirksmeisterschaften, von den Landesmeisterschaften, vom Leistungskader. Kampflos geschlagen. Nicht gekämpft bis zum Sieg. Eine Blamage. Wehrlos. Jetzt ist sein noch sehr instabiles Ich ernsthaft gefährdet. Dass man sich mit kindlichen Auffälligkeiten bewusst auseinandersetzen muss und sie nicht einfach abwehren und ignorieren darf, haben die Mama und der neue Papa nicht bedacht.
Doch im Sohn steckt noch Kampfgeist. Wer ist das, der ihn so in die Knie zwingt? Ihm solche Angst einflößt, Jahr um Jahr? Ihn so bedroht? Ihm das Schachspielen verdirbt? Wer ist dieses Monster, dieser Unhold, diese Horrorgestalt, die jeden Abend in seinem Zimmer sein Unwesen treibt? Er ist bereit, sich auf die Suche zu machen. »Ich werde dich finden. Ich werde dir den Garaus machen. Ich werde dich töten. Na, warte nur!«
Der Keller des Hauses umfasst mehrere Räume – kalt, dunkel, unbewohnt, unheimlich. Der Keller bedeutet für ihn schon immer ein Ort des Unbehagens. Ja, er fürchtet sich jedesmal, wenn die Mama oder der neue Papa ihn hinunterschicken zum Kartoffelholen, zum Bier- oder Sprudelholen. Auch sein Skateboard steht im Keller und der Schlitten. Und da hängt auch der Schulranzen seines Bruders an einem Haken. Die Schrunden, die Druckspuren, die quer über die gesamte Ranzenfläche dauerhaft eingegraben sind, verweisen auf ein schreckliches Ereignis. Doch den Jungen treibt ein anderer Gedanke um. Heute nimmt er all seinen Mut zusammen. Er hat noch viel davon, auch wenn er um fremde Kinder einen Bogen macht, auch wenn er nicht mehr Schachweltmeister werden kann, auch wenn der neue Papa ihn manchmal auslacht und ihn »Schocki« nennt. Er holt das größte Küchenmesser aus der Besteckschublade im...
Erscheint lt. Verlag | 12.2.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
ISBN-10 | 3-7583-4142-6 / 3758341426 |
ISBN-13 | 978-3-7583-4142-7 / 9783758341427 |
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