Der Mary Shelley Club (eBook)
448 Seiten
Festa Verlag
978-3-98676-103-5 (ISBN)
Goldy Moldavsky wurde in Lima, Peru, geboren und wuchs in Brooklyn auf, wo sie auch heute noch lebt. Sie schrieb die Bestseller KILL THE BOY BAND, NO GOOD DEED und THE MARY SHELLEY CLUB. Ihre Bücher wurden in mehreren Sprachen übersetzt. Ihre Liebe zu Filmen aus den 80ern, Boybands aus den 90ern und Horrorfilmen beeinflusst ihre Arbeit in hohem Maße.
1
Ein Jahr später
Ich öffnete die Tür, und da stand Saundra, mit dem strahlendsten Lächeln und Outfit.
»Zieh dich an, Rachel, wir gehen auf ’ne Party.«
Ich kannte das Mädchen erst seit drei Wochen, und schon tauchte sie unangemeldet vor meiner Wohnungstür auf, als würde sie das schon seit Jahren tun.
»Sorry, kann nicht.« Ich trug meine Jogginghose und wollte mich gleich mit meinem liebsten Wohlfühlfilm aller Zeiten entspannen. Die Nacht der lebenden Toten. Außerdem hasste ich Partys. »Meine Mom erlaubt nicht, dass ich an einem Schulabend ausgehe.«
Doch wie eine geisterhafte Erscheinung in einem Badezimmerspiegel tauchte plötzlich meine Mutter neben mir auf. »Sonntag ist technisch gesehen kein Schulabend, oder, Jamonada?«
Jamonada war ein Kosename, den mir meine Großmutter gegeben hatte, weil ich so ein pummeliges Baby gewesen war. Ich hatte schon alles versucht, um ihn wieder loszuwerden, aber offenbar fiel er nicht unter das Umtauschrecht. Und meine Mutter liebte ihn. Es war Spanisch für »Schinken«. Aber nicht etwa im Sinne von: »Das Mädchen ist so süß und gereift – sie ist so ein Schinken!«, sondern es meinte buchstäblich einen Schinken. Und jetzt hatte ihn auch noch Saundra gehört. Schlimmer ging’s kaum.
»Hallo, Mrs. Chavez!«, grüßte Saundra sie.
»Aber morgen ist Schule«, grummelte ich. »Also ist ja wohl heute definitiv ein Schulabend.«
»Aber heute hattest du keine Schule«, konterte Mom. »Ich würde sagen, hier sind die Geschworenen noch zu keinem eindeutigen Urteil gekommen.«
Mit einem energischen Nicken gab Saundra ihr recht, während ich meine Mutter entgeistert anstarrte, als hätte sie mich nicht 16 Jahre lang erzogen. Zunächst war mir tatsächlich schleierhaft, was sie damit bezweckte. Dann aber wurde mir auf einen Schlag klar: Selbst meine eigene Mutter machte sich Sorgen, weil ich so ein erbärmliches Einsiedlerdasein führte.
»Aber du willst doch, dass ich morgen ausgeruht und erholt in die Schule gehe, oder etwa nicht, Mom?« Ich knirschte mit den Zähnen, wie man es tat, wenn man wollte, dass jemand einen Wink verstand.
Meine Mutter dagegen schenkte mir dieses strahlende Lächeln, wie man es tat, wenn man einen Wink vorsätzlich ignorierte. »Du hattest das ganze Wochenende Zeit, dich auszuruhen und zu erholen, Schatz.«
Eine klassische Pattsituation. Ich wollte die Nacht mit den lebenden Toten verbringen, und meine Mutter wollte, dass ich Zeit mit den wirklich Lebenden verbrachte. Es war Zeit für die schweren Geschütze.
»Saundra, sag meiner Mutter, wo die Party stattfindet.« Das war ein Risiko. Soweit ich wusste, wollte Saundra mich zum Gracie Mansion schleppen, um mit dem Bürgermeister persönlich abzuhängen, was bei den Kreisen, in denen sie verkehrte, gar nicht unwahrscheinlich war. Aber die Chancen standen gut, dass die Umstände dieser Party bei meiner Mutter durchfallen würden.
Saundra zögerte, also drängte ich weiter: »Na los, sag’s ihr.«
»Ein verlassenes Haus in Williamsburg«, gab Saundra schließlich zu.
Ich drehte mich zu meiner Mutter um, der Triumph ließ mich strahlen wie eine frisch polierte Trophäe. »Ein verlassenes Haus in Williamsburg. Hast du das gehört, Mom?«
Jetzt begann ein Kampf des Willens. Mom und ich starrten uns gegenseitig an, um zu sehen, wer zuerst einknicken würde.
»Viel Spaß!«, meinte Mom nur.
Meine eigene Mutter fiel mir in den Rücken. Als wir nach New York City zogen, hatte sie nur zwei Regeln für mich aufgestellt. Erstens: Meine Noten dürfen nicht schlechter werden. Und zweitens: Freunde finden. Die Tatsache, dass Saundra hier aufgetaucht war, sollte eigentlich als Beweis genügen, dass ich Freunde gefunden hatte. Okay, eine Freundin. Wie auch immer, ich hatte jedenfalls die schier unmögliche Hürde genommen, als Neuling an einer mir fremden Schule eine Freundin zu finden. Doch für Mom hieß eine Party mehr mögliche Freundschaften, und das bedeutete, dass ich nach Williamsburg verschleppt werden durfte. Also zog ich mich um (ich weigerte mich trotz Saundras Protesten, mein Batik-Nachtshirt auszuziehen, peppte es aber mit einer abgeschnittenen Dickies und einer Jacke auf), ehe wir aufbrachen. »Wir könnten zu Fuß gehen«, schlug ich vor. Immerhin befanden wir uns in Greenpoint, nur einen Stadtteil weiter, und das Wetter war schön.
Saundra schnaubte. »Und ermordet werden?«
»Die Gegend hier ist ziemlich sicher.«
Saundra tat mich und den gesamten Stadtbezirk Brooklyn mit einem Lachen ab und holte ihr Handy heraus. »Ja. Klar.«
In weniger als drei Minuten kam der Lyft-Wagen an. Wir machten es uns auf dem Rücksitz bequem, während Saundra ein Dutzend Selfies schoss, ihre sozialen Kontakte aktualisierte und mich darüber aufklärte, wer alles auf der Party sein würde. Im Grunde war genau das auch unsere Mittagsroutine, bei der sie mir den ganzen Klatsch und Tratsch über Leute erzählte, die ich auf den Fluren noch immer kaum zuordnen konnte.
Saundra hatte mich in dem Moment als Freundin auserkoren, als ich an der Manchester Prep in die Geschichtsklasse von Mr. Inzlo spazierte. Ich hatte mich gerade auf einen freien Platz gesetzt, da beugte sich Saundra auch schon zu mir rüber und fragte, ob sie sich einen Stift leihen könne – ein billiger Vorwand, wie mir sofort klar wurde, als ich einen Stift in der offenen Vordertasche ihres lavendelfarbenen Herschel-Rucksacks sah.
Zuerst hatte ich mich gewundert, warum Saundra meine Freundin sein wollte, aber mir ging schnell auf, dass sie den Kontakt zu mir suchte, weil sie mit der Tatsache nicht klarkam, dass es jemanden in ihrer Klasse gab, über den sie rein gar nichts wusste. Denn wie ich bald feststellen durfte, war Saundra Clairmonts hervorstechendstes Merkmal der unbändige Drang, absolut alles über absolut jeden zu wissen.
Also fütterte ich sie an diesem Tag mit ein paar Häppchen über mich. Vor Manchester hatte ich eine öffentliche Schule auf Long Island besucht, wo ich mit meiner Mutter lebte, bis wir beschlossen, nach New York City zu ziehen.
Im Gegensatz zu den meisten anderen Schülern hier war ich nicht reich, hatte kein großes Erbe in Aussicht oder ein Stipendium. Ich wurde nur aufgenommen, weil meine Mutter hier Lehrerin für Amerikanische Geschichte in der neunten und zehnten Klasse war. Also, ja – meine Mutter hatte ein Händchen dafür, mich an Orte zu verfrachten, an denen ich keine Lust hatte zu sein.
Aber jetzt, während Saundra und ich nach Williamsburg fuhren, hatte ich nicht einfach nur keine Lust auf diese Party, sondern mir grauste vor ihr. Der Gedanke, all diese Leute zu treffen, von denen kein Einziger mit mir reden würde, schnürte mir die Kehle zu. Am schlimmsten war das Wissen, dass ich so tun musste, als ob. So tun, als wäre ich ein Teil ihrer Welt, als wäre ich wie sie.
Doch gerade als ich Saundra sagen wollte, dass ich mich nicht so gut fühlte, hielt der Wagen an und sie sprang nach draußen. Ich schlich ihr hinterher, und gemeinsam näherten wir uns dem verlassenen Haus. Es sah aus, als wäre es einem Horrorfilm der späten 80er-Jahre entsprungen. Sämtliche Fenster waren mit verwittertem, graffitiverschmiertem Holz vernagelt, und an der Tür klebten diverse Schilder mit winziger Schrift, die uns sicherlich ermahnten, auf Abstand zu bleiben. Das Haus kauerte eingezwängt zwischen einer aufgegebenen Lagerhalle und einem leeren Grundstück, an dessen Maschendrahtzaun ein ZU VERKAUFEN-Schild hing.
Da erblickte ich einen hellen Fleck. Ein komplett in Schwarz gekleidetes Mädchen saß auf der Treppe, ihr geisterhaftes Gesicht schwebte über einem Buch. Ihre bleichen Finger verdeckten den Titel, aber darüber erkannte ich die scharfen Ecken von Stephen Kings Namen auf dem Einband. Ich mochte Stephen-King-Filme. Vielleicht konnte sich darüber ja ein Gespräch mit diesem Mädchen entspinnen. Vielleicht war das am Ende ja doch meine Art von Party.
»Hey, Felicity!«, begrüßte Saundra sie. Felicity blickte von ihrem Buch auf und starrte uns unter ihrem Mikropony an, ohne irgendetwas zu erwidern.
»Na dann, ciao.« Saundra hakte sich bei mir ein und zog mich die Treppe hinauf. »Für die Bücher auf der Party sorgt Felicity Chu.«
Das Wohnzimmer füllten mehr als zwei Dutzend Leute, die lachten, herumalberten und mit umherspritzenden Getränken in der Hand gestikulierten. Um das Innere des Hauses stand es nicht viel besser als um seine Fassade. Die Tapeten waren schimmlig oder blätterten von den Wänden, die Böden bedeckte schmieriges Linoleum und das einzige Licht kam von grellen Baustellenlampen. Den Asbeststaub in der Luft konnte man förmlich schmecken. Aber an alledem schien sich niemand zu stören.
Keine Ahnung, was genau ich auf Partys reicher Kids erwartet hatte, aber das hier war es nicht. Es kam mir irgendwie ironisch vor, dass sie ihre komfortablen Paläste verlassen hatten, um sich in einem Haus zu vergnügen, das auseinanderfiel.
»Ich hole mir ’nen Drink«, brüllte mir Saundra über die Musik hinweg zu.
»Ich komme mit.« Doch als ich mich nach ihr umdrehte, war sie schon verschwunden, einfach verschluckt von der Menge. Das Einzige, was noch schlimmer ist, als auf eine Party zu gehen, auf der man nicht sein will? Allein auf dieser Party zu sein. Ich hatte nicht vor, als einsame Boje in einem Meer aus Fremden dahinzutreiben. Mir blieb also nur eins übrig: mich im Badezimmer verstecken.
Als ich die Treppe...
Erscheint lt. Verlag | 9.2.2024 |
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Übersetzer | Katrin Hoppe |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
ISBN-10 | 3-98676-103-9 / 3986761039 |
ISBN-13 | 978-3-98676-103-5 / 9783986761035 |
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