Mord in der Wiener Werkstätte (eBook)
256 Seiten
Emons Verlag
978-3-98707-159-1 (ISBN)
Beate Maly wurde 1970 in Wien geboren, wo sie bis heute lebt. Ihre drei Kinder zieht es immer wieder in die weite Welt. Zum Schreiben kam sie vor rund 20 Jahren. Sie widmet sich dem historischen Roman und dem historischen Kriminalroman. 2019 und 2023 war sie für den Leo-Perutz-Preis nominiert, 2021 gewann sie den Silbernen Homer. www.beatemaly.com
Beate Maly wurde 1970 in Wien geboren, wo sie bis heute lebt. Ihre drei Kinder zieht es immer wieder in die weite Welt. Zum Schreiben kam sie vor rund 20 Jahren. Sie widmet sich dem historischen Roman und dem historischen Kriminalroman. 2019 und 2023 war sie für den Leo-Perutz-Preis nominiert, 2021 gewann sie den Silbernen Homer. www.beatemaly.com
2
Naschmarkt
Die Marktstände waren frisch poliert und glänzten in der Sonne. Vor einem Jahr waren die fix gemauerten Gebäude mit den hübschen grünen Dächern in drei ordentlichen Reihen über dem unterirdisch fließenden Wienfluss aufgebaut worden. Der Markt war der modernste der Stadt. Hier gab es alles, was das kulinarische Herz begehrte. Köstlichkeiten aus fünfzehn Kronländern wurden angeboten: eingelegte Paprikaschoten und Gurken vom Balkan, Knoblauchzehen aus Transsilvanien, Rosenöl aus Sofia, Salami aus der Puszta und frische, knusprige Topfengolatschen aus Böhmen, Zitronen und Orangen aus Triest, würziger Käse aus Bozen und luftgetrockneter Hirschspeck aus Vorarlberg. Wein aus dem Süden und Schnaps aus dem Osten des Reichs.
Liliane Feigls Magen knurrte beim Anblick der glänzenden Äpfel, der duftenden Pfirsiche und des goldbraunen Brots. Wann hatte sie das letzte Mal eine ordentliche Mahlzeit zu sich genommen? Es musste Tage her sein. Wieder einmal war die Haushaltskassa leer. Lilis Vater hatte einen Teil des Geldes, das ihnen zur Verfügung stand, versoffen, den Rest am Kartentisch verspielt. Zum Glück war Lili fingerfertig. Als einziges Kind eines Kleinganoven, das ohne Mutter aufgewachsen war, waren Geschicklichkeit und Gerissenheit für sie überlebensnotwendig gewesen. Mit vorgespieltem Interesse musterte sie einen Apfel, nahm ihn in die Hand und betrachtete ihn von allen Seiten, während sie mit der anderen einen weniger leuchtenden in der Tasche ihrer nicht mehr ganz sauberen Schürze verschwinden ließ. Wichtig war, sich nichts anmerken zu lassen. Auch wenn die Marktfrau sie wegscheuchte, galt es, ruhig zu bleiben und mit gelassenen Schritten zum nächsten Stand zu gehen, um dort mit dem gleichen Trick ein Stück Wurst zu stibitzen. Je dichter das Treiben am Markt wurde, umso einfacher war es, satt zu werden. Lili zwängte sich an Dienstmädchen in dunklen Uniformen und mit weißen Hauben vorbei, näherte sich flink Hausfrauen mit langen Mänteln und ausladenden Hüten, um aus offenen Einkaufskörben ein paar Weintrauben und ein Stück Käse mitgehen zu lassen.
Vor einem Stand mit feiner Schokolade und Bonbons hielt sie an. Eigentlich hatte sie bereits genug in ihrer Tasche. Aber so ein Stück Schokolade oder ein Fruchtbonbon waren einfach zu verlockend. Sie hatte erst zweimal in ihrem Leben richtige Süßigkeiten gegessen. Einmal als Kind. Da hatte eine Standlerin ihr eine Handvoll leuchtend roter Kirschbonbons geschenkt. Sie waren das Köstlichste gewesen, was Lili jemals gelutscht hatte. Und das zweite Mal als junge Frau, da hatte sie einen Schokoladenriegel gestohlen. Auch er war ausgesprochen gut gewesen. Immer noch träumte sie von dem mollig süßen Geschmack, der sich langsam in ihrem Mund ausgebreitet und ein Gefühl höchster Glückseligkeit in ihr ausgelöst hatte.
Die Köstlichkeiten in den hohen Körben waren ganz besonders. Sie waren in so hübsches Papier gewickelt, dass Lili sich fragte, warum man sie nicht im Museum ausstellte. Es gab kleine Pralinen in Kästchen, die so kostbar aussahen, dass man Schmuck darin hätte aufbewahren können, wenn man welchen besessen hätte. Lilis einziger Schatz war ein alter Hornkamm ihrer Mutter. Wie war es möglich, dass es Menschen gab, die etwas so Wunderschönes als schnöde Verpackung verwendeten? Sie fasste nach einem Bonbon in rosarotem Papier, auf das phantasievolle Blumen und Weinranken gedruckt waren. Sofort ertönte eine keifende Stimme.
»Finger weg!«
Die Marktfrau war ein paar Jahre älter als Lili, Anfang dreißig. Lili wusste nicht, wie alt sie selbst wirklich war. Ihr Vater konnte sich nicht mehr genau erinnern. Der Alkohol hatte sein Gehirn aufgeweicht. Getauft worden war Lili nie. Geld für eine Geburtsurkunde hatte Franz Feigl nie gehabt. Das gefälschte Dokument, das er für sie angefertigt hatte, war vor Jahren abhandengekommen. Lili hatte beschlossen, sich selbst einen Geburtstag zu geben. Sie mochte den Frühling, also hatte sie sich für den 24. April entschieden. Ein schönes Datum, wie sie meinte. Und die Urkunde hatte sie allein ausgestellt. Lili hatte das Talent ihres Vaters geerbt. Er war ein Meister darin, aber seit ein paar Jahren hatte Lili ihn übertroffen. Ihre Stempelmarken sahen den echten zum Verwechseln ähnlich.
Widerwillig legte sie das rosarote Bonbon weg, nur um sich ein hellgelbes zu grapschen. Es hatte ein ähnliches Muster. Mit mehr Blumen und weniger Weinreben. Es gefiel Lili noch besser. Sie selbst würde das Muster mit Vergissmeinnicht ergänzen, die waren klein und unscheinbar und leuchteten trotzdem in sattem Himmelblau.
»He, hast du nicht gehört? Du sollst es zurücklegen.«
»Schon gut.« Lili gab das Bonbon auf den vollen Korb.
Die Marktfrau besaß mindestens hundert davon. Es würde ihr überhaupt nicht auffallen, wenn eines fehlte. Mittlerweile wollte Lili gar nicht die Süßigkeit, sondern die wunderschöne Verpackung. Sie würde ihr als Vorlage und Inspiration dienen. Bestimmt konnte sie ebenso schöne Muster zeichnen.
Sie blickte an sich hinunter. Wenn ihr Kleid nicht so schäbig aussehen würde und ihre Frisur ein bisschen ordentlicher wäre, hätte die Marktfrau niemals erkannt, dass sie die Süßigkeiten nicht bezahlen konnte. Lili war weder auf den Mund gefallen, noch war sie dumm, auch wenn sie bloß vier Jahre die Schule besucht hatte. Sie war des Lesens und Schreibens kundig und konnte rechnen. Was brauchte man mehr zum Leben? Sie blieb hartnäckig stehen und betrachtete die anderen Bonbons. Alle waren in kostbares Papier gewickelt. Die Marktfrau behielt sie mit giftigen Blicken im Auge. Sie hatte kein Verständnis für Lilis Wünsche. Da half es auch nicht, dass Lili sie gewinnend anlächelte. Die Frau blieb griesgrämig.
Lili verfluchte ihr löchriges Kleid, das viel zu locker an ihrem mageren Körper herunterhing. Ihr Gesicht war schmal, und ihre Lippen waren voll. Lili wusste, dass sie wunderschöne veilchenblaue Augen hatte, die je nach Wetterlage den Farbton änderten. Und ihr goldblondes Haar glänzte, wenn es mal gewaschen war, was heute aber nicht der Fall war, da das Brunnenwasser im Hof eiskalt war und sie wegen einer Haarwäsche nicht drei volle Kübel in den vierten Stock hatte schleppen wollen.
Während sie über ihr Äußeres nachdachte, trat eine Kundin mit einem Dienstmädchen und einer Gesellschafterin an den Stand. Der Kleidung nach zu urteilen, handelte es sich um eine sehr wohlhabende Dame aus gehobeneren Kreisen. Ihre breite Taille war mit einem Korsett eng geschnürt. Ihr Gesäß durch eine ausladende Turnüre verdeckt. Lili fragte sich stets, wie vornehme Damen mit so einem Gestell aus Fischbein am Hinterteil sitzen konnten. Ob sie ständig standen? Die Hände der Kundin steckten in Handschuhen, auf ihrem Kopf saß ein Hut, der mit mehreren bunten Federn geschmückt war.
Die Marktfrau erkannte in der Dame eine potenzielle Kundin, die möglicherweise viel Geld bei ihr ausgeben würde. Voll gespielter Liebenswürdigkeit widmete sie sich ihr.
»Grüß Gott, gnä’ Frau. Darf ich Ihnen eine Kostprobe unserer handgedrehten Bonbons anbieten? Die Köstlichkeiten sind in Papier aus der Wiener Werkstätte verpackt.« Sie hielt ihrer Kundin ein silbernes Tablett entgegen, auf dem mehrere Süßigkeiten zur Auswahl lagen.
Das darf nicht wahr sein, dachte Lili verärgert. Die feine Dame und ihre Gesellschafterin bekamen die Bonbons geschenkt. Sogar das Dienstmädchen durfte zugreifen. Und sie wurde weggescheucht wie ein lästiges Insekt. Sie nutzte die Unaufmerksamkeit der Verkäuferin und griff blitzschnell nach einem hellblau eingepackten Bonbon. Kaum dass sie es in ihrer Schürze verschwinden lassen wollte, legten sich kräftige Finger um ihr Handgelenk. Ein Polizist stand neben ihr. Wie hatte sie nur so achtlos sein können? Der Wunsch, so ein schönes Bonbon zu besitzen, hatte sie unvorsichtig werden lassen.
»Diebsgesindel!«, sagte er finster.
Der Helm mit dem glänzenden Spitz war ihm zu groß. Er rutschte ihm in die verschwitzte rote Stirn. Lili wand sich wie ein Wurm, leider ließ er sie trotzdem nicht los. Im Gegenteil, seine fleischigen Finger bohrten sich tief in ihren Unterarm.
»Ich wollte das Bonbon bezahlen«, verteidigte sie sich.
»Ach ja? Dann bitte sehr. Ich warte.« Die Enden seines Bartes waren zu Schnecken gedreht, die zitterten, während er sprach.
Lili fasste mit der freien Hand in ihre Rocktasche. Sie spürte den Apfel, ein Stück Brot, das Ende einer Wurst. Natürlich war keine Münze da. Sie hatte gehofft, dass er jetzt ihren Arm loslassen würde und sie weglaufen könnte oder die feine Dame sich ihrer erbarmen würde und die Rechnung für sie beglich. Aber weder das eine noch das andere trat ein. Der Polizist hielt sie gnadenlos fest.
Sie legte das Bonbon wieder in den Korb. »Ich hab doch keine Münze dabei«, sagte sie entschuldigend. »Ich gebe es zurück. Das Bonbon ist wieder im Korb. Kann ich jetzt gehen?«
Er fasste nach ihrer Schürze und zog die Köstlichkeiten heraus. »Ich beobachte dich schon den ganzen Nachmittag«, sagte er. »Du kommst jetzt mit auf die Wache. Fürs Erste ist es mit dem Stehlen vorbei.«
»Eine Diebin!«, quietschte die feine Dame entsetzt.
Sie klang, als wäre Lili eine hässliche, fette Ratte. Nur das Dienstmädchen, das bestimmt kein einfaches Leben führte, betrachtete Lili mit einem Hauch von Mitleid. Der Gesellschafterin schien sie egal zu sein. Ihr Mund war voller Schokolade. Gierig griff sie nach dem nächsten Stück. Die wunderschöne Verpackung zerknüllte sie nachlässig und warf das Papier achtlos auf den Boden. Lili wollte das kleine Kunstwerk aufheben und fein säuberlich glatt streichen. Aber sie konnte sich keinen Zentimeter bewegen.
Die...
Erscheint lt. Verlag | 21.3.2024 |
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Reihe/Serie | Historischer Kriminalroman |
Historischer Kriminalroman | Liliane Feiglas und Max von Krause |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Historische Kriminalromane | |
Schlagworte | 20. Jahrhundert • Frauenbewegung • historischer Krimi • Historischer Kriminalroman • Krimi Wien • Kunstfälschung • Kunsthandwerk • Kunst Krimi • Mord • Österreich Krimi • packend • Regionalkrimi • Spannung • Wien • Wiener Werkstätte |
ISBN-10 | 3-98707-159-1 / 3987071591 |
ISBN-13 | 978-3-98707-159-1 / 9783987071591 |
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Größe: 3,3 MB
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