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Verrücktes Blut (eBook)

Spiegel-Bestseller
oder: Wie ich wurde, der ich bin

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024
312 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3193-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Verrücktes Blut -  Joe Bausch
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Schonungslos ehrlich und tief bewegend: die persönliche Geschichte des beliebten TV-Stars und Bestsellerautors Joe Bausch Mit aller Härte, die der Vater für nötig hält und die ihm selbst widerfahren ist, erzieht er den Sohn zum Hoferben. Doch der will kein Bauer werden und nichts wie weg aus dem Westerwald, raus aus der Welt der Enge und Verlogenheit. In seinem neuesten Buch spricht Joe Bausch erstmals über die Zeit, in der er tiefste Demütigung, Gewalt und Übergriffigkeit erleben musste. Ein Bauernhof im kargen Westerwald, Anfang der Fünfzigerjahre. Die Schrecken und Entbehrungen des Krieges stecken den Menschen noch in den Knochen. Ohnehin herrscht in dieser Gegend seit jeher ein raues Klima. Für freundliche Aufmerksamkeit haben die Eltern keine Zeit, für zärtliche Zuwendung keinen Sinn. Josef Hermann, der sich später Joe nennen wird, ist ein aufgewecktes Kind. Ein Kind, das nicht stillsitzen kann, noch vor der Einschulung lesen lernt mit den Zeitungen, die auf dem Plumpsklo ausliegen, und von klein auf im Familienbetrieb mithelfen muss. Aufs Gymnasium darf er nur, weil er weiterhin schuftet bis zum Umfallen. Schläge sind an der Tagesordnung - und der dreizehn Jahre ältere Pflegesohn, den seine Eltern aufgenommen haben, führt nichts Gutes im Schilde. Joe Bausch spricht erstmals über die Traumata seiner Kindheit und Jugend und darüber, wie sie seinen Lebensweg geprägt haben.

Joe Bausch, Jahrgang 1953, arbeitete über dreißig Jahre lang als Leitender Regierungsmedizinaldirektor in der Justizvollzugsanstalt Werl und ist bekannt als Rechtsmediziner Dr. Joseph Roth im Kölner Tatort.

Kind vom Land


Da, wo ich herkomme, war es üblich, ein Neugeborenes erst dann zu fotografieren, wenn man sicher sein konnte, dass es überlebte. Ich mag sechs Monate alt gewesen sein, als ein Fotograf bestellt wurde. Bauern fotografierten nicht.

Der erste Fotoapparat kam als Geschenk zu meiner Kommunion auf unseren Hof. Liane, eine Tochter der Sudetendeutschen, die zu Kriegszeiten auf dem elterlichen Hof meiner Mutter einquartiert gewesen waren, hat ihn mir geschenkt. Aus den jungen Frauen waren Freundinnen fürs Leben geworden.

Im Herbst 1953 also zog mein Vater seinen guten Anzug an und trug Krawatte, meine Mutter ihr bestes Kleid und Perlenkette. So stellten sie sich vor dem Küchenfenster, an dem Kondenswasser herabrann, für den Fotografen auf.

Ich war offensichtlich fasziniert von dem Geschehen.

Meine ersten bildhaften Erinnerungen gehen auf das Alter von vier bis fünf Jahren zurück. Sie sind mit sehr unterschiedlichen Gefühlen verbunden.

Ich sehe mich in der Küche im Waschstein stehen. Mal ist es meine Mutter, mal die Tante, die Mühe hat, mich von Kopf bis Fuß abzuseifen. Ich glitsche ihnen durch die Hände wie ein zappelnder Fisch, bis es was hinter die Ohren gibt.

Die Küche ist immer der wärmste Raum im Haus. Hier kommen alle zusammen. Hier wird gekocht, gebacken, gegessen. Hier können jederzeit auch Gäste mit am Tisch sitzen.

Am schönsten ist es, wenn meine Oma Anna zu uns kommt. Sie ist die Mutter meiner Mutter und ein ganz anderer Mensch als die meines Vaters. Oma Anna ist freundlich, warmherzig und zugewandt. Wenn sie Kuchen backt, darf ich den Löffel ablecken. Sie bringt meine Mutter zum Singen, wenn die beiden gemeinsam Marmelade einkochen und das ganze Haus danach duftet, oder wenn sie das Essen für zehn Männer zubereiten, die meinem Vater beim Getreidedreschen helfen. Das Singen macht die Küche zu einem glücklichen Ort. »Wir müssen es uns schön machen«, sagt Oma Anna, »das Leben ist hart genug.«

Samstag ist in der Küche Badetag. Alle waschen sich am Waschstein mit dem warmen Wasser, das von einem großen Topf auf unserem weißen Emaille-Herd kommt. Dem Herd mit seiner blank polierten Chromstange darf ich nicht zu nahe kommen. Er ist groß wie ein Schiff, mit glühender Kohle in seinem Inneren.

Erstes Bild im Herbst 1953

Sommer. Ich sitze ich mit meinem kleinen Bruder Anton, der zweieinhalb Jahre nach mir geboren wurde, in einer Zinkwanne draußen im sonnigen Hof. Ich kann den Misthaufen in der Nähe riechen. Bäuchlings mache ich Schwimmbewegungen. Meine Fußnägel schrammen über den Wannenboden. Ein Geräusch wie Kreide an der Tafel.

Mit dem Schwimmen sollte ich mich im Übrigen später noch schwertun. An heißen Sommertagen badeten wir Dorfkinder oft im Lasterbach, der an unserem Garten vorbeifloss. Manchmal trieben dort tote Hühner. Die Leute warfen das verendete Federvieh schlichtweg in den vorüberfließenden Bach, wenn es für den Kochtopf nicht taugte. Ich kann versichern, dass es ein ausgesprochen widerwärtiges Gefühl ist, mit nackten Füßen auf ein zum schlammigen Grund gesunkenes Huhn zu treten. Es hat mir das Schwimmen auf lange Zeit vermiest. Bis heute gelingt mir das ausschließlich in klaren Gewässern, in denen ich bis auf den Grund sehen kann.

Ähnliches Grauen bereitete mir als Kind der Keller. Wurde ich geschickt, um ein Glas Eingemachtes aus einem der vergitterten Vorratsschränke zu holen, Kartoffeln oder Äpfel, die dort unten auf Holzstiegen eingelagert waren, versuchte ich mich zu drücken, die Zeit auszudehnen, bis ich dem nachkam, was man mir aufgetragen hatte.

Mit den Eltern

Im Keller gab es Ratten. Noch bevor ich den ersten Schritt die Steintreppe hinunter machte, sträubten sich mir die Haare im Nacken, wenn ich das hohe Fiepen der Tiere hörte, ihr hastiges Huschen. Die verstaubte Glühbirne an der Kellerdecke verbreitete wenig Licht, dafür umso mehr tiefschwarze Schatten, in denen ich ein angriffslustiges Rattenheer vermutete. Die Stille aus der Dunkelheit machte mir ebenso viel Angst wie ein fremdes Geräusch. »Nimm ein Messer zwischen die Zähne und geh«, sagte mein Vater.

Es war an der Tagesordnung, Kindern auf Bauernhöfen schon in frühem Alter Arbeiten zu übertragen, und mein Vater ließ nicht zu, dass ich mich vor irgendetwas drückte. Für die Wegbefestigung an den Feldwegen sammelte ich Steine von den Äckern. Den Hof fegte ich mit einem großen Besen, der mich überragte, und wenn ich über die Blasen an meinen Händen jammerte, sagte meine Mutter: »Nach Blasen kommt Hornhaut.« Nach Blasen kommt genau genommen erst einmal Blut, aber das spielte keine Rolle.

»Du musst lernen«, sagte mein Vater.

Einem Kalb die Finger ins Maul stecken, damit es aus dem Eimer trinken lernt, gehörte zu den schöneren Aufgaben, die er mir übertrug. Ich liebte diese unbeholfenen, weichen Neulinge, denen das mütterliche Euter verwehrt blieb. Damals war es üblich, den Saugreflex mit dem Finger im Kälbermaul auszulösen, damit das Kleine die künstliche, nährstoffreiche Kälbermilch aus dem Eimer trank. Für meine Eltern bedeutete die zeitraubende Prozedur Bücken und Schmerz im Kreuz.

Ich lernte als Fünfjähriger, das Kalb zu halten und ihm die mit Kälbermilch benetzten Finger meiner freien Hand ins noch zahnlose Maul zu stecken. Ich musste die Wärme seiner tastenden Zunge aushalten, ohne zurückzuzucken, und damit fortfahren, bis das Tier aus dem Eimer zu trinken begann.

Es erfordert einiges an Geschick, bis diese Übung gelingt. Als einmal eines der Kälbchen den Kopf hochwarf und mit Wucht mein Kinn traf, büßte ich – Ironie des Schicksals – die obere Front meiner Milchzähne ein.

Joe als Fünfjähriger mit Mutter auf dem Trecker

Ich war immer noch fünf, als mein Vater beschloss, dass ich alt genug war, im Stall die Muttersau mit ihrem frischen Wurf zu beaufsichtigen, denn immer bestand die Gefahr, dass sie, wenn sie sich hinlegte, eines ihrer neugeborenen Ferkel erdrückte. »Tot liegen« nannte man das, was unbedingt zu verhindern nunmehr meine Aufgabe war.

Ich sitze im Stroh, die Ferkel suchen nach den Zitzen ihrer schläfrig säugenden Mutter. Wenn die Sau aufsteht, um zu fressen, muss ich schnell sein, wenn sie sich wieder hinlegt und ein Ferkel unter ihren schweren Leib zu geraten droht. Dann gebe ich ihr einen Tritt und ziehe das Ferkel weg. Bin ich nicht aufmerksam, habe ich ein Jungtier auf dem Gewissen, aus dem ein gesundes Schwein hätte werden können.

Ich gehe zurück auf meinen Posten. Leise knistert das Stroh bei jeder Bewegung. Die Wärmelampe taucht uns in ihr weiches, gedämpftes Licht. Die Sau schnarcht, die Ferkel werden ruhiger an den Zitzen. Ich fühle mich geborgen bei den Tieren, gehöre zu ihnen. Mir fallen die Augen zu.

Werde wieder wach, weil ich meinen Vater brüllen höre. Sehe sein wutverzerrtes Gesicht, als er ein lebloses Ferkel unter der Sau hervorzieht. Mein Vater schleudert den Winzling gegen die Stallwand.

»Elender Freckerling!«, schreit er.

Das Wort ist mir geläufig. Es kommt von Verrecken. So werden die Schwachen genannt, die nicht gedeihen. Doch mein Vater meint nicht das totgelegene Ferkel, er meint mich. Ich bin zu nichts zu gebrauchen. Ein Versager. Wahlweise nennt er mich deshalb auch Missgeburt.

Mein Vater war ein jähzorniger Mann, und wütend erzog er mich zum Hoferben. Mit aller Härte, die er für nötig hielt und die ihm selbst widerfahren war. Angst und Schwäche duldete er nicht.

Vielleicht täusche ich mich, aber ich habe keine Erinnerung daran, dass er mich jemals mit meinem Namen angesprochen hätte. Kühe und Pferde rief mein Vater bei ihren Namen, sie hießen Hans und Klärchen, Hilda oder Klausi.

Der Hofhund

»Komm her!«

Wann immer ich meinen Vater brüllen hörte, setzte ich mich in Bewegung. Für mich gab es keinen Zweifel daran, wer gemeint war.

Bestenfalls war ich »der Große« oder »der da«. War ich außer Sichtweite, hatte meine Mutter mich ausfindig zu machen. Ihr schrilles »Heeermann-Joooooosef« gellte über den Hof wie der Heulton einer Sirene bei Gefahrenalarm.

Ein Sommertag. Ich hocke bei unserem alten Hofhund in der Hundehütte, als ich meine Mutter nach mir rufen höre. Irgendein Impuls lässt mich still bleiben. Was würde wohl geschehen? Würde sie nach mir suchen, oder würde sie sich wieder ihrer Arbeit zuwenden?

Meine Mutter ruft weiter nach mir. Ich höre ihre Stimme näher kommen, und dann höre ich die meines Vaters. Mein Herzschlag pulsiert in meinen Ohren. Ich krieche tiefer in die stickige Hütte, dicht hinter den phlegmatischen Hund. Der Staub aus seinem stinkenden Fell fliegt mir in die Nase.

Atemlos belausche ich die Eltern. Sie fragen sich, wo verdammt noch mal ich sein könnte.

Die Stimme meiner Mutter klingt zunehmend weinerlich. Der Ton meines Vaters wechselt von schäumender Wut in ärgerliche Sorge. In meinem Versteck spüre ich, wie hinter ihrem Groll die Angst...

Erscheint lt. Verlag 30.5.2024
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte Armut • Auf dem Land • Bauernfamilie • Bauernhof • Das weiße Band • dunkles Geheimnis • erzkatholisch • Fünfzigerjahre • Kinderarbeit • Kindheit und Jugend in der provinz • Nachkriegsdeutschland • rauer Umgangston • Schläge • schlagender Vater • Schuften bis zum Umfallen • Sechzigerjahre • Sexueller Missbrauch • Verwurzelung im NS-Denken • Westerwald
ISBN-10 3-8437-3193-4 / 3843731934
ISBN-13 978-3-8437-3193-5 / 9783843731935
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