Krummes Holz (eBook)
272 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12300-5 (ISBN)
Julja Linhof, geboren 1991, wuchs in Westfalen zwischen Hellwegbörde und Arnsberger Wald auf. Von 2012 bis 2015 studierte sie in Leipzig am Deutschen Literaturinstitut. Seit sie die Stadt 2015 für ihr Illustrationsstudium verlassen hat, lebt und arbeitet sie in Hamburg.
Julja Linhof, geboren 1991, wuchs in Westfalen zwischen Hellwegbörde und Arnsberger Wald auf. Von 2012 bis 2015 studierte sie in Leipzig am Deutschen Literaturinstitut. Seit sie die Stadt 2015 für ihr Illustrationsstudium verlassen hat, lebt und arbeitet sie in Hamburg.
I
»Heh.«
Leander hat Runzeln zwischen den Augenbrauen.
»Kannst du das lassen?« Sein Blick huscht zu dem abgegriffenen Knopf der Beifahrertür, ich ziehe ihn nach oben und schiebe meine Hände zwischen die Oberschenkel.
Es ist wirklich so, wie ich mal gelesen habe: Wenn man als Erwachsener an einen Ort zurückkehrt, an dem man zuletzt als Kind war, ist plötzlich alles zusammengeschrumpft und eng. Nur die Bäume, denke ich und lehne die Stirn gegen die Autoscheibe, die sind gewachsen.
Der Wagen biegt von der Landstraße auf den von Pappeln geränderten Feldweg. Licht und Schatten flimmern durch das Laub. Pappeln schießen unheimlich, hat Leander früher mal gesagt, und im Alter brechen sie dann.
Ich habe ihn vorhin sofort erkannt. An den roten Haaren. Noch bevor er den Taunus rechts rangefahren hat und ausgestiegen ist. Die Ellbogen auf der offenen Tür und dem Autodach, ein Fuß auf der Straße und die schwimmbadblauen Augen gegen die Julisonne zusammengekniffen.
Bisher sind wir ohne Worte ausgekommen. Ich habe die Straßenseite gewechselt, er hat die Beifahrertür aufgeschlossen und mir den Rucksack abgenommen.
Die Getreidefelder draußen gehörten mal zum Hof. Versprengtes Pachtland und verlorene Flurstücke, die mein Vater nicht halten konnte, weil er schon damals schlecht gewirtschaftet hat. Nicht mehr grün und noch nicht golden. Rechts die langen Grannen der Gerste, links grauer Roggen. Und darüber der klare Sommerhimmel. Keine Wolkenschlieren. Nur die Stromleitungen, die zwischen den Holzmasten das Blau in Streifen schneiden.
Ich habe vergessen, wie anders der Sommer hier riecht. Nicht nach heißem Bitumen, wie man es in den engen Straßenzügen großer Städte riecht. Nicht nach Jungenschweiß und Pubertät. Und auch nicht nach Chlor und nassem Waschbeton. Diese vertrauten Gerüche liegen hinter mir. Hier ist es etwas, das Nase und Hirn nicht recht greifen können, das ich als Kind als Heißeluftgeruch bezeichnet habe.
Vor Wochen hat der Sommer mit dem Gasblau des Freibeckens begonnen. Im Takt der Trainingseinheiten. Mit kilometerlangen Bahnen, die nachts an den Schultermuskeln zerrten und zu den letzten gehörten, die ich in diesem Jahr im Dunstkreis des Internats zurückgelegt habe. Kurz denke ich an das Gespräch mit Jochen und die Entscheidung, die mich hergebracht hat. Den Schwimmer habe ich zurückgelassen. Der, der heimkehrt, konnte nicht schwimmen, als er gegangen ist.
Vielleicht ist das immer so, wenn man wieder in die Heimat zurückgeht. Einen Teil bringt man mit, und einen Teil lässt man hinter sich. Einen Teil hat man für immer abgestreift, als man Jahre davor aufgebrochen ist, und einen anderen zieht man wieder bereitwillig über, obwohl er unbequem geworden ist. Wie bei einem alten Pullover, den man früher oft getragen hat und der jetzt nicht mehr passt.
Ich kurble das Fenster herunter. Der laue Fahrtwind wirft mir ein paar Locken zurück in die Stirn, wo sie haften bleiben. Ich klappe die Beine auseinander, um das kleisterige Gefühl in der Leistengegend loszuwerden. Vergeblich. Meine Jeans klebt im Schritt und in den Kniekehlen, das T-Shirt am Leder des Sitzes.
Auf dem Höhenzug über der Ortschaft liegen die Höfe aufgefädelt wie an einer Perlenkette. Es sind große Güter und rundherum Flickenteppiche aus Ackerland, das manch einer hier noch in Morgen rechnet. Felder, auf denen ich im Herbst mit Legeflinten pinken Giftweizen in Mäuselöcher geschüttet und im Frühjahr Reihe um Reihe Fuchsschwanz aus der Saatgutvermehrung gerissen habe.
Eine Landschaft wie unruhige See und zwischen dem Wellenschlag die alten Namen: Tappenhof, Windhof, Sekkenhof, Ulmhof. Die Haupthäuser aus Fachwerk, Bruchstein oder weiß verputzt mit breiten Treppenaufgängen. Irgendwo das riesige Tor zur Diele und dahinter ein hoher toter Raum, den heute keiner mehr zu nutzen weiß.
Der Taunus quält sich über den Hügelrücken, im Seitenspiegel verwischt die Gegend wie Pastellkreide. Hier beginnt das Krumme Holz, die Mulde hinter der Perlenkette und die Zufahrt zum Gut meiner Familie.
Ich suche meinen eigenen Blick im Spiegel, mein verschwitztes Gesicht, das schon jetzt von Sommersprossen gesprenkelt ist.
»Ich hab noch mal versucht anzurufen«, sage ich. Und weil ich den Satz, seit ich eingestiegen bin, von der einen in die andere Backentasche geschoben habe, klingt er nicht mehr so geschmeidig wie in meiner Vorstellung.
Leanders Gesicht ist ernst, sein Mund eine neutrale Linie. Ich kriege keine Antwort, stattdessen beugt er sich vor, fummelt an den Knöpfen des Autoradios herum und schiebt nach einer Weile mit einem genervten Raunzer die herauslugende Kassette ins Deck. Es rauscht. Die Boxen knacken, und dann singt Christine McVie den Song, den ich letztes Jahr wieder und wieder mit Rosa gehört habe, bevor alles den Bach runterging.
Vor fünf Jahren bin ich gegangen, die haben Leander verändert. Das rote Haar ist gerade so lang, dass er es am Hinterkopf zusammengebunden hat. Kinn und Wangen verstecken sich hinter rostigen Stoppeln. Man sieht ihm an, dass er viel näher an der dreißig als an der zwanzig ist. Der Dreck ist verschwunden. Die schwarzen Sicheln unter den Fingernägeln, die schmuddeligen Arbeitsklamotten. Vielleicht ist er noch ein wenig drahtiger geworden, denke ich. Mein Blick bleibt an den sehnigen Unterarmen hängen.
»Ich wollte Bescheid sagen, aber die Leitung war tot.«
Es ist das Schweigen – auch ein bisschen Leanders bloße Anwesenheit –, aber vor allem sein Schweigen sorgt dafür, dass ich mich sofort rechtfertigen will.
»Oder, weiß nicht was … aber ich bin nicht durchgekommen.«
Ich beobachte, wie er sich den Handrücken gegen die Stirn drückt. Er fängt meinen Blick auf, seine Augen werden eine Spur schmaler, sein Mund verzieht sich kurz. Zu kurz, um sagen zu können, ob es Spott oder Missmut ist.
»Was?«
»Deine Stimme.«
Er schmunzelt. Es ist Spott.
»Das ist krass.«
»Was?«, wiederhole ich. Schon ein wenig genervter.
Bevor ich wegsehen kann, hat er die Augen wieder auf die Straße gerichtet.
»Du warst noch nicht im Stimmbruch damals. Das ist ’n krasser Moment gerade.«
Ich merke, wie mir das Blut ins Gesicht schießt, und schaue in den Fußraum, auf meine ramponierten Turnschuhe. Drei oder vier Schuhgrößen sind seit damals dazugekommen. Vierzehn Jahre wächst man langsam vor sich hin, und dann schießt der Körper von heute auf morgen in die Länge. Wie die blöden Pappeln, denke ich, ätzend. Jetzt sind es neunzehn Jahre – fast zwanzig eigentlich –, und die Zeit hat meinen Körper von der Streckbank gelassen. Lang und schmal. Ein Endprodukt, mit dem ich kein bisschen zufrieden bin. Auch dagegen bin ich angeschwommen, mit mäßigem Erfolg.
»Angemeldet, hm?«, fährt Leander dort fort, wo ich ursprünglich angefangen hatte.
»Keine schlechte Idee«, fügt er hinzu, und ich erwidere nichts. Meine Stimme erscheint mir plötzlich wie etwas unfassbar Peinliches.
Die Hitze flirrt über dem vernarbten Asphalt. Leander drosselt das Tempo. Malenes Kindergesicht taucht kurz vor mir auf. Flackert über meine Netzhaut wie ein Dia. Dafür braucht es nicht viel. Den dunstigen Schweißgeruch im Auto. Das abklingende Licht der Nachmittagssonne. Und mein Wachstum stagniert, ich schrumpfe, werde zurückgeworfen in meinen Kinderkörper.
Ich auf der Rückbank in Schwarz gekleidet. Ein Siebenjähriger, unterm Hintern zwei Sitzkissen. Die Erinnerung an eine lang zurückliegende Beerdigung und die Heimfahrt danach.
Im Rückspiegel das Gesicht meiner Tante, die zwischen den Gräbern steht. Fassungslos und zerschmettert, weil Georg sie nach der Beileidsbekundung angegangen ist. Ihr Jahre der Schuld aufgeladen und sie damit am Grab ihrer Schwester zurückgelassen hat.
Georg fährt. Damals schon den Rekord und neben ihm sitzt – wie ein Wachhund – Agnes. Der Schilling und seine Mutter. Das ist das Bild, das nun Jahre prägen wird. Zum offenen Fenster dringt die Brandung der Baumkronen herein. Neben mir Malene, die die Hände auf- und zuklappt und nicht müde wird, das Vaterunser aufzusagen. Ich will sie zum Schweigen bringen, aber ich fühle mich gefesselt und geknebelt. Seit Stunden schlucke ich Steine. Mein Bauch ist voll davon. Schwere, traurige Steine, die ungeweinte Tränen sind. Vielleicht mache ich mir deshalb in die Hosen, kurz bevor wir vorm Haus halten. Pipi aus Tränen.
Es gibt kein Richtig und kein Falsch, wenn man trauert, fährt Agnes dazwischen, als Georg mich an den Ohren aus dem Auto zerrt. Du kriechst tagelang durch deine Kornzellen, und dein Sohn macht eben wieder in die Hose.
Das war dieselbe Großmutter, die später einmal zu mir sagte, meine Mutter sei eine schwächliche Frau gewesen. Nur deshalb habe sie der Tod so früh ereilt.
Meine Hände zappeln. Immer mehr, je näher wir kommen. Mit Mühe zwinge ich sie in den Rhythmus der leiernden Kassette.
Kurz bevor der Wagen die Waldgrenze durchbricht, tauchen rechts die Arbeiterhäuser auf. Eins wie das andere. Wie drei Legobausteine akkurat nebeneinandergesetzt. Gissel, Teuken und Wisniewski. Familiennamen, die mir nicht abhandengekommen sind. Die Gesichter allerdings sind verschwommen.
»Wohnt da noch jemand?«
Leander schüttelt den Kopf. »Wisniewskis sind vor anderthalb Jahren als Letzte weg.«
Linker Seite, unter den ersten Bäumen, duckt sich das Verwalterhaus. Leanders Elternhaus. Anders als die Arbeiterhäuser in ihrem schlichten, gräulichen Putz kleidet sich das Verwalterhaus, genau wie die Hofgebäude, in Bruchstein, mit Treppenaufgang zur Haustür, fast eine Miniatur des Haupthauses.
Der letzte Verwalter, den der Hof gekannt hat, war Vilém...
Erscheint lt. Verlag | 17.2.2024 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Familienroman • Geschwisterbeziehungen • heißer Sommer • Heranwachsen • Hoferbe • Hühner • verliebtsein |
ISBN-10 | 3-608-12300-8 / 3608123008 |
ISBN-13 | 978-3-608-12300-5 / 9783608123005 |
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