Lügen, die wir uns erzählen (eBook)
384 Seiten
Kampa Verlag
978-3-311-70467-6 (ISBN)
Anne Freytag hat International Management studiert, ist pünktlich zur Wirtschaftskrise fertig geworden, hat über einhundert Bewerbungen geschrieben, keinen Job gefunden, eine Weile in einer Boutique gearbeitet, sich arbeitslos gemeldet, zur Grafikdesignerin umgeschult, sich als Quereinsteigerin mit mieser Bezahlung in diversen Agenturen anstellen lassen und ist dann endlich ihrem Traum nachgegangen: Seit 2013 widmet sie sich ganz dem Schreiben. Für ihre Jugendbücher wurde sie mehrfach für Literaturpreise nominiert (u.a. zwei Mal in Folge für den Deutschen Jugendliteraturpreis) und damit ausgezeichnet (u.a. mit dem Bayerischen Kunstförderpreis in der Sparte Literatur). Anne Freytag lebt und arbeitet in München. Lügen, die wir uns erzählen ist ihr literarisches Debüt.
Anne Freytag hat International Management studiert, ist pünktlich zur Wirtschaftskrise fertig geworden, hat über einhundert Bewerbungen geschrieben, keinen Job gefunden, eine Weile in einer Boutique gearbeitet, sich arbeitslos gemeldet, zur Grafikdesignerin umgeschult, sich als Quereinsteigerin mit mieser Bezahlung in diversen Agenturen anstellen lassen und ist dann endlich ihrem Traum nachgegangen: Seit 2013 widmet sie sich ganz dem Schreiben. Für ihre Jugendbücher wurde sie mehrfach für Literaturpreise nominiert (u.a. zwei Mal in Folge für den Deutschen Jugendliteraturpreis) und damit ausgezeichnet (u.a. mit dem Bayerischen Kunstförderpreis in der Sparte Literatur). Anne Freytag lebt und arbeitet in München. Lügen, die wir uns erzählen ist ihr literarisches Debüt.
Jetzt. Briefgeheimnis
»Dann bist also jetzt du das Opfer?«, frage ich. »Weil ich dich seinetwegen nicht verlassen habe?«
»Nein«, erwidert Georg und steht auf. »Weil du ihn die ganze Zeit über geliebt hast.«
Er sagt es in einem harten Flüstern, ein gedrosseltes Schreien, das ich gut von ihm kenne – sein Kinder-Tonfall. Anna und Jonas sollten uns nicht hören, nicht beim Streiten, nicht beim Sex. Je älter sie wurden, desto leiser wurden wir. Kein Austausch mehr, weder körperlich noch verbal. Bis Georg und ich irgendwann nicht mehr waren als Atmosphäre, feinstoffliche Stimmungsschwankungen, die sich ab und zu im Flur begegnen – zuvorkommend und kontrolliert. Ein Korsett, das wir uns gegenseitig vor Jahren mit einem Ich will angelegt haben.
Georg deutet auf das Kuvert zwischen uns auf dem Tisch. »Liebst du ihn?«, fragt er.
»Keine Ahnung«, sage ich.
Georg hat auf ein Nein gehofft, ich erkenne es an seinem knappen Nicken, an der senkrechten Falte zwischen seinen Augenbrauen, an der Anspannung in seinem Gesicht, insbesondere um den Mund. Ich hätte nicht gedacht, meinen Mann noch einmal so zu sehen, so eifersüchtig. Früher war er es oft. Als wäre ich ein stetiger Drahtseilakt für ihn gewesen, ein ewiges Erobern. Wenn wir ausgingen und ein Mann mich zu lange ansah, griff Georg demonstrativ nach meiner Hand oder küsste mich – als wäre ich sein Revier und damit markiert. Es hat mir nichts ausgemacht, wenn er so war. Im Gegenteil, ich mochte ihn besitzergreifend. Ich, seine Frau, und er, der es jeden wissen ließ. Doch irgendwann hörte das auf. Als wären wir zu Ende gegangen, gefangen in einem endlosen Abspann, in dem man aus Höflichkeit sitzen bleibt, bis das Licht angeht. Mariam war das Licht. Georg hat es eingeschaltet.
Und jetzt steht er da und sieht mich an, direkter und länger, als ich es von ihm gewohnt bin. Und irgendwie selbstgerecht, obwohl es ihm nicht zusteht. Ich mustere ihn – den Mann, den ich so lange kenne und der mir trotzdem fremd ist. Und dann frage ich mich, wann wir zuletzt miteinander gesprochen haben, wirklich gesprochen, nicht nur mit Worten die Luft bewegt, keine leeren Sätze, keine alltäglichen Fragen oder Absprachen, kein Brauchst du jemanden, der dich zum Flughafen bringt?, sondern ein echtes Gespräch zwischen zwei Menschen, die sich etwas bedeuten – oder wenigstens noch etwas zu sagen haben.
Ich denke an die Situation zurück, als er mir von ihr erzählt hat. An sein Es ist einfach passiert. Gewusst habe ich es schon eine Weile. Seit einem Dienstagabend im März. Georg hatte sich mit einem ehemaligen Studienfreund verabredet, der für ein paar Tage in der Stadt war – jedenfalls hatte er das gesagt. Als er wieder nach Hause kam, roch er frisch geduscht. Sein Haar war feucht, der Duft des Shampoos weiblich. Auf meine Vermutung angesprochen habe ich ihn nicht. Vielleicht weil ich dachte, es würde vorbeigehen, eine holprige Phase in unserer Ehe, wie Schlaglöcher in einer Straße nach einem langen, harten Winter. Gestohlene Nächte, die irgendwann enden würden. Nur dass sie das nicht taten. Aus den Nächten wurden Tage. Und aus den Tagen Wochenenden. Der fremde Shampoo-Duft war irgendwann nicht mehr fremd. Und auf einmal hatte die Frau einen Namen. Nicht nur einen Körper, nicht nur ein Loch, in dem mein Mann verschwinden konnte, wenn es ihn überkam. Mariam.
Georg lässt den Blick sinken, schaut zu Boden. Er war lange nicht so – so anwesend. Als wären der, der gerade hier ist, und der, der mich verlassen hat, nicht derselbe Mensch. Es ist einfach passiert. Ich höre noch, wie er es sagte. Die Tonlage, die Ausrede. Danach breitete sich Schweigen zwischen uns aus, aufgeladen, als würden wir auf einen Funken warten, den es nicht mehr gab. Ich lehnte an der Arbeitsfläche, die Arme verschränkt, der Blick lang wie ein Abschied. Von außen betrachtet war alles wie vorher: eine saubere Küche, fast steril, die Kräutertöpfe am Fenster, Basilikum, Thymian, Salbei, ein paar Meter daneben Georg und ich, eine eingefrorene Realität, gefangen in lauter Stille. Wie in einer Schneekugel, die geschüttelt wurde – ein eisiger Sturm, der um uns tobte, und wir standen mittendrin. Es hat sich angefühlt, als hätte man uns dort abgestellt, zwei Fremde, die verheiratet sind. Und mit jeder Sekunde, in der wir nichts sagten, schien die Küche sich aufzublähen wie Lungen, kurz bevor jemand schreit.
Ich habe Georg auch mal betrogen. Das ist Jahre her. Es war in Lausanne nach einer Lesung, ein flüchtiger One-Night-Stand mit einem Journalisten, den ich danach nie wiedergesehen habe. Georg weiß nichts davon, es war nicht der Rede wert. Ein zweiter Akt irgendwo in der Schweiz, während er woanders war.
Manchmal ertappe ich mich dabei, wie ich an jene Nacht zurückdenke. Nicht oft, aber es kommt vor. Dann ist es wie eine Szene aus einem Film oder einem Roman: eine Frau und ein Mann, beide verschämt und erregt, tausend Entscheidungen, jede einzeln getroffen, irgendwo zwischen Lust und Verstand. Kleider, die zu Boden fallen, Hände, die sich ausstrecken, Augen, die hungrig über Haut gleiten. Es war das reinste Klischee: ein dunkles Hotelzimmer, eine halbe Flasche Rotwein auf dem Nachttisch, die andere Hälfte bereits im Blut. Zwei Körper und ein paar Höhepunkte. Triebe und Hände. Ich habe mich in diesen Stunden beinahe schmerzhaft lebendig gefühlt. Doch es hatte nichts mit uns zu tun. Nichts mit dem Leben, das wir führten, unserem Haus, unseren Kindern – und auch nicht mit ihm, meinem Mann, der mich schon ewig nicht mehr angefasst hat, für den ich eher so etwas war wie ein Stück Einrichtung, etwas, das eben da ist und das man womöglich vermissen würde, wenn es weg wäre. Aber ich war nie weg, ich war immer da – für ihn und die Kinder. Und für alles andere.
Als ich fremdgegangen bin, hatte das nichts mit Liebe zu tun, es ging um das, was der Journalist in mir sah: die Brüste, die Rundungen, die straffen Schenkel, für die ich seit Jahren joggen gehe. Ihm fiel auf, woran mein Mann sich längst sattgesehen hatte.
Eine solche Nacht hätte ich Georg verzeihen können. Sogar ein paar solcher Nächte. Ausrutscher aus unserem gemeinsamen Leben in ein anderes. Aber bei ihm war es nicht nur Sex, nicht nur Triebbefriedigung, keine falsche Entscheidung nach zu viel Wein. Das, was anfangs vielleicht noch eine Ausflucht war, hat sich zu einem zweiten Strang entwickelt, zu einer Geschichte, die sich über Monate neben unserer weitererzählt hat.
Bei dem Gedanken atme ich tief ein, spüre, wie mein Brustkorb sich dehnt, schaue zu Georg, dieser ergrauten Version von ihm, glatt rasiert, dunkle Augen, ungekämmtes Haar. Ich sehe dabei zu, wie er neben dem Tisch auf und ab geht, die Hände in den Hosentaschen zu Fäusten geballt, am Rande eines Wutausbruchs. Weil es eine Sache ist, wenn es bei ihm jemand anders gibt, und eine völlig andere, dass es bei mir auch so sein könnte. Das mit Mariam ist immerhin einfach passiert. Die Sache mit Alex – dessen Brief Georg mir nicht nur vorbeigebracht, sondern offenbar auch gelesen hat – habe ich verschwiegen. Eine bewusste Entscheidung. Ein Verrat, der unsere Ehe zu einer Inszenierung verkommen lässt. Zu einem Übereinkommen, bei dem Georg der Kompromiss war.
In dem Moment, als ich das denke, bleibt er abrupt stehen.
»Es war dieser Typ«, sagt er und sieht mich an, »bei der Lesung, von der ich dich damals spontan abgeholt habe.«
Mein Puls wird schneller, das Blut zieht sich aus meinen Fingern und Füßen zurück.
»Das war er. Der, den du so lang umarmt hast. Von ihm ist der Brief.«
Ich antworte nicht.
»Antworte mir«, sagt Georg.
Während ich mich erhebe, entgegne ich: »Ich schulde dir keine Erklärung. Du bist ausgezogen. Du hast eine Freundin. Weißt du noch?«
Georg sieht mich lange an. Mehrere Sekunden, die alles langsamer machen. Irgendwann schüttelt er den Kopf und sagt: »Du begreifst es nicht, oder?« Ein direkter Blick. »Du warst meine große Liebe. Und er war deine.«
Nach diesem Satz ist es still. Eine Stille wie für Stecknadeln. Georgs Vorwurf füllt den gesamten Raum, er liegt in der Luft wie ein beißender Geruch, der sich zwischen uns ausbreitet. Aber Alex war nicht der Grund für das Scheitern unserer Ehe. Georg und ich sind unserer gegenseitigen Gleichgültigkeit zum Opfer gefallen, der Routine und den sich wiederholenden Abläufen. Sex als Mittel zum Abreagieren, selten und meist von hinten. Keine Küsse, kein Danach, keine Verabredungen. Nie ins Kino, kaum Restaurantbesuche. Zwei Wochen Sardinien im Jahr, immer dasselbe Hotel, immer dieselben Zimmer, immer dieselben Strände. Wir sind zusammengeblieben, weil wir nicht schuld sein wollten an diesem gescheiterten Entwurf, der gar kein Entwurf war, sondern das echte Leben. Als wäre es irgendwann zu spät, umzukehren. Als wäre man bereits zu weit gekommen.
»Ich sollte gehen«, sagt Georg.
Ein Teil von mir will nicken, ein anderer will, dass er bleibt.
Damals in der Küche unseres Hauses konnte er meinem Blick nicht standhalten, hat überallhin gesehen, nur nicht in meine Augen. Jetzt sieht er nur dorthin – in meine Augen. Nicht knapp an mir vorbei, ausweichend, unmännlich. Die Jahre zuvor hat er in meinem Schatten gelebt wie in einem Anbau. Wie jemand, der sich in die Garage zurückzieht, um dort heimlich Pornos anzusehen und zu masturbieren. Mit einem kleinen Kühlschrank voll mit Bier und schlechtem Gewissen. Georg hat meinen Erfolg gehasst, die Anerkennung, den Wind um meine Person. Er hat...
Erscheint lt. Verlag | 20.3.2024 |
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Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Affäre • Begehren • Betrug • Ehe • Ehebruch • Erwartungen • Fehlgeburt • Jugendliebe • Kinderwunsch • Liebe • München • Mutterrolle • Mutterschaft • Muttersein • Neuanfang • Scheidung • Schwangerschaft • Sehnsucht • Selbstfindung • Tochter • Trennung |
ISBN-10 | 3-311-70467-3 / 3311704673 |
ISBN-13 | 978-3-311-70467-6 / 9783311704676 |
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