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In Wasser geschrieben (eBook)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
352 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-23179-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

In Wasser geschrieben -  Lidia Yuknavitch
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•»Dies ist das Buch, das ich in den nächsten Jahren jedem in die Hand drücken werde. Es ist das Buch, auf das ich mein ganzes Leben lang gewartet habe.« Cheryl Strayed
Aus den Trümmern ihres turbulenten Lebens webt Lidia Yuknavitch eine erstaunliche Geschichte des Überlebens. »In Wasser geschrieben« ist ein exzeptionelles Memoir und eine Hymne auf das Streben nach Schönheit, Selbstdarstellung, Begehren - von Männern und Frauen - und das berauschende Gefühl des Schwimmens.

Es ist ein Leben, das Missbrauch, Sucht, Selbstzerstörung und den vernichtenden Verlust einer Fehlgeburt überwindet. Es ist das Leben eines Außenseiterin, die einem wilden und unbetretenen Weg der Kreativität folgt, der schließlich zur Liebe führt.

»Dies sind nicht gerade die Memoiren Ihrer Mutter. In ?In Wasser geschrieben? nimmt Lidia Yuknavitch die Leser*innen mit auf eine wilde Reise durch Sexualität, Gewalt und Familie aus der Sicht einer lebenslangen Schwimmerin, die zur Künstlerin wurde. In ihrer Geschichte, die das Wesen des Memoirs selbst erforscht, zeichnet sie die Auswirkungen extremer Trauer auf die sich entwickelnde Sexualität einer jungen Frau nach, die von einigen als unkonventionell bezeichnet wird, weil sie sich sowohl zu Männern als auch zu Frauen hingezogen fühlt. Gleichzeitig entwickelt sie sich zu einer Schriftstellerin und nimmt die Erzählerin mit auf eine Reise der Sucht, der Selbstzerstörung und des Überlebens, die schließlich in Liebe und Mutterschaft mündet.« (Chelsea Cain)

Lidia Yuknavitch zählt zu den herausragenden neuen weiblichen Stimmen der amerikanischen Literatur. Sie ist preisgekrönte Autorin mehrerer Romane, Kurzgeschichten und des gefeierten Memoirs »In Wasser geschrieben«. Zu ihren Fans zählen u.a. Rebecca Solnit und Roxane Gay. Ihr TED-Talk »The Beauty of Beeing a Misfit« wurde mehr als 2 Millionen Mal angeschaut. Lidia Yuknavitch lehrt an der University of Oregon Kreatives Schreiben, Literaturwissenschaft und Womens Studies. Sie ist eine hervorragende Schwimmerin.

Die Chronologie des Wassers


An dem Tag, als meine Tochter tot geboren wurde – das zukünftige Rosa und Rosenlippige leblos zart in meinen zitternden Armen lag, ich ihr Gesicht mit Tränen und Küssen bedeckte, reichten sie mein totes Mädchen an meine Schwester weiter, die sie küsste, dann an meinen ersten Mann, der sie küsste, dann an meine Mutter, die es nicht ertragen konnte, sie zu halten, und schließlich durch die Tür des Krankenhauszimmers, winziges lebloses eingewickeltes Ding –, gab mir die Pflegerin ein Beruhigungsmittel und ein Stück Seife und einen Schwamm. Sie führte mich zu einer speziellen Dusche mit einem Stuhl, der Wasserstrahl war sanft, warm. Sie sagte: »Das fühlt sich gut an, oder?« Das Wasser. Sie sagte: »Sie bluten immer noch recht stark. Lassen Sie es einfach laufen.« Gerissen von der Vagina bis zum After, zusammengenäht. Wasser, das auf einen Körper fällt.

Ich setzte mich auf den Stuhl und zog den kleinen Plastikvorhang zu. Ich hörte die Pflegerin summen. Ich blutete, ich weinte, ich pinkelte und kotzte. Ich wurde zu Wasser.

Schließlich musste sie noch einmal hereinkommen, um »mich vor dem Ertrinken zu retten«. Es war ein Scherz. Er ließ mich lächeln.

Kleine Tragödien sind schwer zu verstehen. Sie schwellen an und tauchen zwischen den großen Dolinen des Gehirns ein und aus. Was du von einem Leben halten sollst, lässt sich schwer sagen, wenn du knietief drinsteckst. Du möchtest hinausklettern, du möchtest erklären, dass da irgendwo ein Fehler unterlaufen sein muss. Immerhin bist du eine Schwimmerin. Aber dann siehst du die Wellen, die sich an kein Muster halten, die jeden hochnehmen und herumschleudern, viele treibende Köpfe, und du kannst in deinem Schluchzen bloß lachen über all die dummen Wackelköpfe. Lachen kann einen aus dem Trauerdelirium hinausschütteln.

Als feststand, dass das Leben in mir tot war, wurde mir erklärt, es sei trotzdem das Beste, vaginal zu entbinden. So bliebe mein Körper für die Zukunft so stark und gesund wie möglich. Mein Schoß. Meine Gebärmutter. Mein Geburtskanal. Benommen vor Trauer tat ich, was sie sagten.

Die Wehen dauerten achtunddreißig Stunden. Wenn sich dein Baby nicht in dir bewegt, verzögert sich der normale Geburtsvorgang. Nichts konnte mein Kind in mir bewegen. Nicht die stundenlange Pitocin-Infusion. Nicht mein erster Mann, der während seiner Schicht bei mir einschlief – nicht meine Schwester, die hereinkam und ihn fast an den Haaren herauszerrte.

Mittendrin setzte ich mich auf die Bettkante, und meine Schwester hielt mich an den Schultern, und wenn der Schmerz kam, zog sie mich in ihren Körper hinein und sagte: »Ja. Atme.« Ich spürte eine Stärke, die ich seitdem nie wieder an ihr erlebt habe. Ich spürte eine Woge Mutter-Stärke von meiner Schwester.

Schmerz wie dieser und über so lange Zeit hinweg erschöpft einen Körper. Selbst fünfundzwanzig Jahre Schwimmen waren da nicht genug.

Als sie schließlich da war, kleiner toter Mädchenfisch, legte man sie mir auf die Brust, genau wie ein lebendes Kind.

Ich küsste sie und hielt sie und redete mit ihr, genau wie mit einem lebenden Kind.

Ihre Wimpern so lang.

Ihre Wangen noch rot. Warum weiß ich nicht. Ich hatte angenommen, sie würden blau sein.

Ihre Lippen eine Rosenknospe.

Als man sie mir schließlich wegnahm, war mein letzter kohärenter Gedanke, eine Gedankenleere, die über Monate andauern würde: Das ist also Tod. Dann ist ein Tod-Leben, was ich wähle.

Als ich aus dem Krankenhaus nach Hause kam, betrat ich einen unbekannten Ort. Ich konnte die anderen sehen und hören, doch sobald mich jemand berührte, fuhr ich zusammen, und ich sprach nicht. Ganze Tage verbrachte ich allein in meinem Bett mit einem Weinen, das zu langem Wehklagen wurde. Meine Augen schienen etwas davon preiszugeben – wenn Leute mich ansahen, fragten sie: »Lidia? Lidia?«

Während sie mich pflegten, blickte ich eines Tages aus dem Küchenfenster – ich glaube, jemand fütterte mich gerade – und bemerkte eine Frau, die aus den Briefkästen in unserer Straße Post stahl. Sie pirschte sich an wie ein Waldwesen. Wie sie sich umsah – Blicke hin und her warf –, wie sie sich von Briefkasten zu Briefkasten bewegte, manche Dinge herausnahm, andere nicht, brachte mich zum Lachen. Als sie vor meinem Kasten stand, sah ich sie etwas von meiner Post einstecken. Ich lachte lauthals los. Ich spuckte einen Mundvoll Rührei aus, aber keiner kannte den Grund. Die anderen sahen bloß auf diese Oh-oh-Art besorgt aus. Sie wirkten wie Karikaturen ihrer selbst. Das sagte ich allerdings nicht.

Ich kam mir nicht verrückt vor, ich hatte bloß das Gefühl, nicht anwesend zu sein. Als ich die Babykleidung, die ich für mein Neugeborenes geschenkt bekommen hatte, auf dem dunkelblauen Teppich in Reihen ausbreitete und Steine dazwischenlegte, war das ordnend und fassbar. Aber es beunruhigte die Menschen um mich herum aufs Neue. Meine Schwester. Meinen Mann Philipp. Meine Eltern, die eine Woche blieben. Fremde.

Als ich mich im Lebensmittelladen ruhig auf den Boden setzte und pinkelte, hatte ich das Gefühl, den Bedürfnissen des Körpers nachgekommen zu sein. An die Reaktion der Kassiererinnen kann ich mich kaum erinnern. Ich erinnere mich bloß noch an ihre blauen Cordschürzen mit der Aufschrift Albertson’s. Eine der Frauen hatte eine toupierte Hochfrisur, und ihre Lippen waren so rot wie eine alte Coca-Cola-Dose. Ich erinnere mich, dass ich dachte, ich sei in eine andere Zeit gerutscht.

Später, wenn ich mit meiner Schwester, bei der ich in Eugene wohnte, Ausflüge machte und einkaufen ging oder schwimmen oder zur University of Oregon, erkundigten sich Leute nach meinem Baby. Ich log, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. »Oh, sie ist ein wunderschönes kleines Mädchen! Sie hat so lange Wimpern!«, sagte ich dann. Selbst zwei Jahre später, als mich eine Bekannte in der Bibliothek nach meiner kleinen Tochter fragte, antwortete ich: »Sie ist so wundervoll – sie ist mein Augenstern. Sie malt sogar schon Bilder in der Kita!«

Nie dachte ich, hör auf zu lügen. Es kam mir überhaupt nicht in den Sinn, dass ich log. In meinen Augen hielt ich mich bloß an die Geschichte. Klammerte mich an ihr fest, um zu überleben.

Ich habe darüber nachgedacht, dieses Buch mit meiner Kindheit zu beginnen, dem Anfang meines Lebens. Aber so erinnere ich mich nicht. Meine Erinnerung an Dinge ist ein kurzes Aufblitzen auf der Netzhaut. Ungeordnet. Das Leben läuft schließlich auch nicht geordnet ab. Ereignisse stehen nicht in diesem Verhältnis von Ursache und Wirkung, das man sich wünschen würde. Sie sind bloß eine Abfolge von Fragmenten und Wiederholungen und Mustern. Etwas, das Sprache und Wasser gemeinsam haben.

Alle Ereignisse in meinem Leben schwimmen ineinander und wieder auseinander. Ohne Chronologie. Wie Träume. Denke ich über eine Erinnerung an eine Beziehung nach, oder wie ich Fahrrad fuhr, oder über meine Liebe zu Literatur und Kunst, oder wann meine Lippen das erste Mal mit Alkohol in Berührung kamen, oder wie sehr ich meine Schwester bewunderte, oder über den Tag, als mich mein Vater das erste Mal anfasste – ergeben diese Erinnerungen keinen linearen Sinn. Sprache ist eine Metapher für Erfahrung. Sie ist ebenso willkürlich wie die Masse an chaotischen Bildern, die wir Gedächtnis nennen – aber wir können sie in Zeilen fassen und so über die Angst erzählen.

Nach der Totgeburt lebten die Wörter »tot geboren« noch monatelang in mir weiter. Für die Menschen um mich herum sah ich bloß … trauriger aus, als irgendjemand ertragen konnte. Wenn Trauer in ein Haus einzieht, wissen die Leute nicht, wie sie sich verhalten sollen. Die Trauer begleitete mich überall hin wie eine Tochter. Niemand wusste, wie er sich uns gegenüber verhalten sollte. Unabsichtlich sagten Leute dummes Zeug zu mir wie »Du wirst bestimmt bald wieder schwanger«, oder sie sprachen leicht über meinen Kopf hinweg. Alles, um der Traurigkeit meiner Haut auszuweichen.

Eines Morgens hörte mich meine Schwester in der Dusche schluchzen. Sie zog den Vorhang zurück, und als sie mich meinen leeren ausgeweideten Bauch halten sah, kam sie unter die Dusche und umarmte mich. Vollständig bekleidet. Ich glaube, so standen wir zwanzig Minuten lang.

Vermutlich das Zärtlichste, was je irgendjemand für mich getan hat.

Ich kam per Kaiserschnitt zur Welt. Weil ihr eines Bein fünfzehn Zentimeter kürzer war als das andere, war das Becken meiner Mutter schief. Extrem schief. Die Ärzte erklärten ihr, dass sie keine Kinder haben könne. Ich bin hin- und hergerissen, ob ich ihre wilde Entschlossenheit, meine Schwester und mich zu bekommen, bewundern oder mich fragen soll, welche Art Frau das Risiko eingeht, ihre eigenen Kinder umzubringen – und ihre Köpfe noch vor der Geburt durch das nach vorn gekippte Becken zu zerquetschen. Meine Mutter hielt sich nie für »verkrüppelt«. Meine Mutter brachte meine Schwester und mich in die Welt meines Vaters.

Als die Schulmediziner meiner Mutter ihre ärztlichen Bedenken mitteilten, wandte sie sich an eine andere Art Arzt. Einen Geburtshelfer/Gynäkologen, der alternative Behandlungsmethoden nutzte. Dr. David Cheek war vor allem dafür bekannt, dass er Patientinnen in Hypnose versetzte und diese ihm mithilfe der Finger die unterbewussten Ursachen ihrer emotionalen oder körperlichen Beschwerden mitteilten. Der Prozess wird als »Ideomotorik« bezeichnet. Bestimmten Fingern werden (vom Arzt oder der Patientin) die Bedeutungen »Ja«, »Nein« und »Ich möchte nicht antworten« zugewiesen. Wenn der Arzt der...

Erscheint lt. Verlag 16.10.2024
Übersetzer Claudia Max
Sprache deutsch
Original-Titel The Chronology of Water
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2024 • eBooks • Fehlgeburt • female empowerment • Kristen Stewart • Leistungsschwimmen • Neuerscheinung • Sexuelle Gewalt
ISBN-10 3-641-23179-5 / 3641231795
ISBN-13 978-3-641-23179-8 / 9783641231798
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