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Treibgut (eBook)

Familiengeschichte auf Cape Cod - für Fans von 'Der Papierpalast'
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
464 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01849-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Treibgut -  Adrienne Brodeur
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Ein fesselnder Roman über eine komplizierte Familie und lang gehütete Geheimnisse Sommer auf Cape Cod. Alle Mitglieder der Familie Gardner verheimlichen etwas. Ken, ein erfolgreicher Geschäftsmann mit Vorzeigefamilie und politischen Ambitionen, versucht mit aller Macht, seine Ehekrise zu verbergen. Abby ist Künstlerin und schämt sich dafür, immer noch auf das Wohlwollen ihres Bruders angewiesen zu sein. Adam, der Vater der zwei, sieht unterdessen seinem 70. Geburtstag entgegen. Um ein letztes Mal als Forscher zu glänzen, setzt der brillante Meeresbiologe heimlich seine Medikamente ab - mit fatalen Konsequenzen. Während Adams Festtag unaufhaltsam näher rückt, verschärfen sich die Konflikte zwischen den Geschwistern. Dann erscheint eine Unbekannte auf der Bildfläche, und bringt alles, woran Abby und Ken geglaubt haben, zum Einsturz.  «Ein mitreißender und geschickt erzählter Roman.» New York Times «Eine perfekte Sommerlektüre.» Washington Post «Wunderschön, poetisch und ehrlich.» Miranda Cowley Heller, Autorin von Der Papierpalast

Adrienne Brodeur ist Geschäftsführerin von Aspen Words, einer literarischen Nonprofit-Organisation, und Mitbegründerin der Literaturzeitschrift «Zoetrope», zusammen mit Francis Ford Coppola. Sie war Lektorin in einem großen Verlag, Jurorin des National Book Award und hat Essays in u.a. «Vogue» und «The New York Times» veröffentlicht. Ihr Memoir «Wild Game» war ein New York Times Bestseller und ist als Netflix-Film in Vorbereitung. Adrienne Brodeur pendelt zwischen Cambridge und Cape Cod, wo sie mit ihrer Familie lebt.

Adrienne Brodeur ist Geschäftsführerin von Aspen Words, einer literarischen Nonprofit-Organisation, und Mitbegründerin der Literaturzeitschrift «Zoetrope», zusammen mit Francis Ford Coppola. Sie war Lektorin in einem großen Verlag, Jurorin des National Book Award und hat Essays in u.a. «Vogue» und «The New York Times» veröffentlicht. Ihr Memoir «Wild Game» war ein New York Times Bestseller und ist als Netflix-Film in Vorbereitung. Adrienne Brodeur pendelt zwischen Cambridge und Cape Cod, wo sie mit ihrer Familie lebt. Karen Witthuhn übersetzt nach einem ersten Leben im Theater seit 2000 Theatertexte und Romane, u.a. von Simon Beckett, D.B. John, Ken Bruen, Sam Hawken, Percival Everett, Anita Nair, Alan Carter und George Pelecanos. 2015 und 2018 erhielt sie Arbeitsstipendien des Deutschen Übersetzerfonds.

April


Adam


Adam Gardner schlief seit Wochen schlecht. Jeden Morgen wachte er mit ungereimten Worten, unzusammenhängenden Gedanken und flüchtigen Bildern im Kopf auf, überzeugt davon, dass ihre noch verborgene Bedeutung durch den Silbergelatineprozess seines Verstands Kontur annehmen würde. Jeden Morgen schwang er summend die Beine über die Bettkante, setzte sich kerzengerade auf, nackt, sodass seine Genitalien über den Matratzenrand baumelten, und gab sich alle Mühe, die verworrenen Träume festzuhalten, indem er jede Einzelheit, an die er sich erinnern konnte, in ein spiralgebundenes Notizheft eintrug, das neben seinem Bett lag. Die Einfälle des Tages verteilte er auf Schreibblöcke, Post-it-Sticker und die Rückseiten von Umschlägen oder Quittungen, meist in Form von ungeordneten Stichpunktlisten. Sein Haus, tief in den Wellfleet Woods gelegen, war übersät mit Zetteln, die er mit seiner peniblen Handschrift beschrieben hatte:

  • Tonlage der Walgesänge immer tiefer

  • Meeresspiralen: Muscheln, Strudel, Wellen, Blasennetze, Seepferdchenschwänze

  • Verhältnis Klang zu Innenohrlabyrinth (noch eine Spirale?)

  • Geheimnis der Unendlichkeit: 1 = 0,99999999…

Adam versuchte, die Hinweise zu entziffern, die sein Hirn preisgab. Er war ganz sicher, dass noch eine letzte große Entdeckung in ihm schlummerte. Und was immer das sein mochte – ein Geistesblitz? Eine Theorie? –, das Ding ließ sich wirklich Zeit, bis es sich zu erkennen gab. Er wusste, dass er dem Prozess vertrauen musste. Wenn er sich in Geduld übte und möglichst ausgeglichen blieb, dann, so Adams Überzeugung, würden sich all die Bücher, die er je gelesen hatte, alle Kunstwerke, die ihn je bewegt hatten, alle Gespräche, Geschöpfe, Kuriositäten und Konzepte, die ihm im Leben untergekommen waren, in seinem Hirn zum großen Hauptgewinn zusammenfügen wie Kirschen im Spielautomaten.

Bis dahin war die Vorfreude, das Kribbeln der unmittelbar bevorstehenden Entdeckung, so verheißungsvoll wie das Quietschen eines Weinkorkens vor dem Abendessen. Er schwelgte in der wunderbaren Gemütsbewegung eines Déjà-vus und fühlte sich anderen großen Entdeckern verbunden: James Cook, Charles Darwin, Jacques Cousteau …

Immerhin, man musste ihm zugutehalten, dass er sich, als die Phase der Schlaflosigkeit eingesetzt hatte, an die Regeln gehalten und einen Termin in der Klinik in Hyannis ausgemacht hatte. Er wusste genau, was ihn erwartete: Blutabnahme, haufenweise Fragen, Anpassung seiner Medikation. Was er nicht erwartete: dass der Arzt, der ihn seit drei Jahrzehnten behandelte, in Rente gegangen war. Er konnte nicht verstehen, wieso Dr. Peabody es anscheinend nicht für nötig gehalten hatte, ihn persönlich zu informieren. Dreißig Jahren waren … nun, eine sehr lange Zeit. Als Adam die Sprechstundenhilfe, eine vollbusige junge Frau mit blauen Fingernägeln, auf diese Unterlassung hinwies, versicherte sie ihm, alle Patienten hätten im letzten Monat eine E-Mail erhalten. Hatte er seinen Spam-Ordner überprüft?, fragte sie und ließ ihre Krallen klicken. Adam holte Luft, verkniff sich aber eine Antwort. (Wer, außer einem Idioten, prüfte schon einen Spam-Ordner?) Während er ihr den Korridor entlang zum Behandlungsraum folgte, fragte er sich, warum sein langjähriger Arzt, mindestens fünf Jahre jünger als er selbst, bloß in Rente gegangen war. Um was zu tun, bitte schön?

Anstelle von Peabody kam ein Jüngling in enger Hose und erschreckend grellorangen Socken ins Zimmer stolziert, höchstens halb so alt wie Adam. War es zu viel verlangt, dass ein Mensch, der seine psychische Verfassung untersuchen sollte, zumindest ein graues Haar auf dem Kopf trug? Der neue Arzt begrüßte Adam beiläufig und widmete sich zunächst seiner elektronischen Krankenakte – Fehler Nummer eins. Fehler Nummer zwei war der Vortrag über «Schlafhygiene», den der Jüngling meinte Adam halten zu müssen. Herrgott noch mal! Warum das Kind nicht beim Namen nennen? «Eingeschlafen», «schwere Knochen» – was war denn falsch an «tot» und «fett»? Nur Schwachköpfe bedienten sich solcher Beschönigungen. «Hygiene» ließ einen an Frauenprodukte denken, und das wollte Adam nicht. Allerdings führte ihn das zu Bereichen der weiblichen Anatomie, an die er sehr wohl denken wollte.

Konzentrier dich, ermahnte sich Adam. Er musterte das fliehende Kinn des Jünglings.

«Ich glaube, wir hatten noch nicht das Vergnügen», sagte er und schnitt dem Vortragenden das Wort ab. «Ich bin Dr. Gardner.»

Adam Gardner, Ph. D., stand am Ende einer beeindruckenden Karriere als Wissenschaftler am Cape Cod Institute of Oceanography, von Eingeweihten CCIO genannt. Seine ruhmreichste Zeit hatte er in den späten Siebzigerjahren erlebt. Damals war er als junger Wissenschaftler Teil eines Teams gewesen, dem es gelang, die Vorstellung, das Leben auf der Erde hinge von einer auf Fotosynthese basierenden Nahrungskette ab, ein für alle Mal zu widerlegen. In der schwarzen Tiefe des Pazifischen Ozeans nördlich der Galapagosinseln hatten sie Beweise gefunden – in Form von dreißig Zentimeter langen Muscheln, riesigen roten Röhrenwürmern und stachligen weißen Krabben –, dass Leben auch in totaler Finsternis existierte. Adam und sein Team hatten über zwei Dutzend Arten entdeckt und benannt. In den Jahrzehnten nach diesen frühen Erfolgen war er zu einem führenden Walbiologen geworden, der die Populationsschwankungen und Kommunikationswege von Buckelwalen untersuchte. Abgesehen von seinen beruflichen Leistungen war er auch noch Vietnamveteran und hatte nach dem frühen und plötzlichen Tod seiner geliebten Frau Emily mit nur dreißig Jahren die beiden Kinder allein aufgezogen. Kurz gesagt: Von so einem Grünschnabel ließ er sich gar nichts sagen.

Adam sah diesem sogenannten Arzt in die Augen und schüttelte ihm mit Nachdruck die Hand. Er würde dieser Generation noch ordentliches Benehmen beibringen, einem Millennial nach dem anderen.

«Ist mir eine Freude, Dr. Gardner», erwiderte der Arzt und nahm den Rüffel mit irritierter Resignation hin.

«Ich glaube, das Wort, das Sie suchen, ist ‹Gewohnheit›», sagte Adam.

Der Arzt sah ihn verständnislos an.

«Schlafgewohnheit», wiederholte Adam. «Nicht Hygiene.»

Daraufhin klebte sich der Arzt die Art von Lächeln ins Gesicht, mit dem ein Kindergärtner nach einem langen Tag ein ungehorsames Kind bedenken würde. Er atmete hörbar aus und setzte seine Liste banaler Vorschläge fort: Stressvermeidung, tägliche Bewegung, ausgewogene Ernährung. Der Arzt sah sich Adams langen Episodenverlauf an und bemerkte, dass es typischerweise einmal im Jahr zu einem Schub kam, normalerweise im Spätfrühling, wobei die Symptome zwischen zehn und vierzehn Wochen lang andauerten.

«Sieht aus, als wären Sie ziemlich genau im Plan», sagte er. «Das sollten wir medikamentös managen können, kein Problem. Allerdings profitieren viele meiner Patienten auch von einer Gruppentherapie. Haben Sie diese Option schon mal in Erwägung gezogen, Dr. Gardner?»

Adam betrachtete die grellorangen Socken des Arztes, ein jämmerlicher Versuch der Unangepasstheit. Zu seiner Zeit waren solche Socken nur von ganz bestimmten Leuten getragen worden: Homos. Nicht dass er was gegen Schwule hätte, aber wann war es so schwer geworden, sie von normalen Männern zu unterscheiden? Und seit wann trugen Ärzte keine weißen Kittel mehr? Niemand schien sich noch um Äußerlichkeiten zu scheren – leitende Büroangestellte hatten volltätowierte Arme, Frauen trugen «bequeme» Schuhe, und alle steckten in Jeans.

Es war der 1. April 2016, und die Welt war ein brodelndes Chaos. Adam war bereit zu wetten, dass die nächste Präsidentschaftswahl sich zwischen einem ungehobelten Millionär und einer skrupellosen Frau entscheiden würde. Schwer zu sagen, was schlimmer war. Wahrscheinlich würde er die Frau wählen, doch eigentlich konnte er beide nicht ausstehen – die Behauptungen, Prahlereien, Plattitüden. Aber im Ernst, wieso war der Milliardär überhaupt im Rennen? Bei dem, was der Mann über Frauen, Schwarze, Mexikaner, Muslime von sich gab! Adam wurden Fehler nie so leicht vergeben. Wenn er es auch nur wagte, eine Frau falsch anzusehen – oder, Gott bewahre, ihr Aussehen zu kommentieren –, prasselte die Empörung nur so auf ihn herein, meistens aus dem Mund seiner Enkelin Tessa oder seiner Tochter Abby. Seit wann war es ein Verbrechen, wenn man attraktive Frauen schätzte?

Eins war sicher: Er würde niemals auf das halb gare Geplapper eines medizinischen Grünschnabels hören. Von ihm aus konnte dieser junge Mann erst einmal ausgiebig in einem Gewässer voller Haie baden, bevor Adam sich seinen Quacksalbermethoden unterwerfen würde. Er schloss die Augen und massierte sich mit den Daumen die Schläfen. Seine Gedanken rasten.

«Dr. Gardner?»

Die Stimmen in seinem Kopf, die seit einigen Wochen immer wieder vorbeischauten, schienen jetzt eingezogen zu sein. «Bin ganz bei Ihnen, Doktor», erwiderte Adam blinzelnd und lächelte. Er versuchte, sich zu konzentrieren. Was war die Frage gewesen? Ach ja, ob er mal an Gruppentherapie gedacht hatte. Adam setzte eine Miene auf, als würde er über einen klugen Rat nachsinnen. «Ich bekomme alle notwendige Unterstützung von meinen Kindern. Von meiner Familie.»

«Also gut....

Erscheint lt. Verlag 16.4.2024
Übersetzer Karen Witthuhn
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 70. Geburtstag • Adrienne Brodeur deutsch • Amerikanische Literatur • Am Meer • Anspruchsvolle Literatur • Bipolare Störung • bücher literatur • Bücher Neuerscheinungen 2024 • Cape Cod • Der Papierpalast • Familie • Familiendrama • Familiengeheimnisse • Familiengeschichte • Familienkonflikt • Familienkonflikte • Familienroman • Ferienlektüre • Gegenwartsliteratur • Geschwister • Little Monsters • Miranda Cowley Heller • Moderne Literatur • Moderner Roman • Romane für den Sommer • Romane für Frauen • romane neuerscheinungen 2024 • Roman psychische Erkrankung • Sommerroman • Urlaubslektüre • Verlust • Wale • Walgesänge • wild game • Zeitgenössische Literatur
ISBN-10 3-644-01849-9 / 3644018499
ISBN-13 978-3-644-01849-5 / 9783644018495
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