Eine Frau (eBook)
256 Seiten
Eisele eBooks (Verlag)
978-3-96161-194-2 (ISBN)
Sibilla Aleramo, geboren 1876, gilt als eine der Wegbereiterinnen des Feminismus in Italien. Aufgewachsen in Mailand und Civitanova Marche arbeitet sie zunächst in der Glasfabrik ihres Vaters, bevor sie mit siebzehn Jahren einen Angestellten der Fabrik heiratet und Mutter eines Sohnes wird. Sie baut sich eine Existenz als Journalistin auf und wird zu einer der führenden Stimmen für Gleichberechtigung und soziale Fragen im Italien der Jahrhundertwende. Als sie 1906 Eine Frau veröffentlicht, wird der Roman sofort in mehrere Sprachen übersetzt und erregt in ganz Europa großes Aufsehen. Maxim Gorki, Stefan Zweig, James Joyce und Auguste Rodin wollen diese außergewöhnliche Frau kennenlernen, der es mit ihrer ersten Veröffentlichung gelungen ist, wahre Schockwellen durch die internationale Literaturszene zu schicken. Nach dem Erscheinen ihres Skandalromans schreibt Aleramo jahrelang keine Prosa mehr. Sie konzentriert sich auf ihre Arbeit als Journalistin für soziale Zwecke, begeistert sich für den Kommunismus und schreibt Lyrik. Ihr Gedichtband Selva d'Amore wird 1848 mit dem Premio Viareggio ausgezeichnet. Sibilla Aleramo stirbt 1960 in Rom.
SIBILLA ALERAMO, geboren 1876, gilt als eine der Wegbereiterinnen des Feminismus in Italien. Als sie 1906 Eine Frau veröffentlicht, erregt der Roman in ganz Europa großes Aufsehen. Maxim Gorki, Stefan Zweig, James Joyce und Auguste Rodin wollen die Frau kennenlernen, der es mit ihrer ersten Veröffentlichung gelungen ist, wahre Schockwellen durch die internationale Literaturszene zu schicken. Nach dem Erscheinen ihres Skandalromans schreibt Aleramo jahrelang keine Prosa mehr. Sie konzentriert sich auf ihre Arbeit als Journalistin für soziale Zwecke, begeistert sich für den Kommunismus und schreibt Lyrik. Sibilla Aleramo stirbt 1960 in Rom.
1
Meine Kindheit war heiter und frei. Sie mir ins Gedächtnis zurückzurufen, sie erneut in meinem Bewusstsein erstrahlen zu lassen, ist ein aussichtsloses Unterfangen. Ich sehe das Mädchen vor mir, das ich mit sechs, mit zehn Jahren war, als hätte ich sie nur geträumt. Ein schöner Traum, der angesichts der Realität der Gegenwart verschwindet. Er wird eingehüllt von einer Melodie oder auch einer ebenso zarten wie pulsierenden Harmonie, einem Licht, und der immer noch großen Freude, wenn ich daran zurückdenke.
In der langen dunklen Phase meines Lebens habe ich diese frühe Zeit als etwas Perfektes, als das wahre Glück angesehen. Jetzt, mit einem weniger von Angst und Sorgen getrübten Blick, erkenne ich, dass auch über meinen ersten Lebensjahren einige diffuse Schatten lagen, und spüre, dass ich mich schon als Kind nicht ganz glücklich gefühlt haben konnte. Aber auch nie unglücklich, sondern frei und stark, ja, das dürften meine Gefühle gewesen sein. Ich war die Älteste, und ich hatte keine Scheu, meine zwei jüngeren Schwestern und meinen Bruder meine Überlegenheit spüren zu lassen. Mein Vater zog mich ihnen offensichtlich vor, und ich verstand nach und nach immer besser, warum er mich so erzog. Ich war – so hieß es jedenfalls – gesund, anmutig, klug, hatte Spielsachen, Süßigkeiten, Bücher und ein Stück Garten ganz für mich allein. Meine Mutter verbot mir nie etwas. Selbst bei meinen Freundinnen gab ich den Ton an.
Die Liebe zu meinem Vater beherrschte mich. Ich mochte meine Mutter, aber für meinen Vater empfand ich grenzenlose Verehrung. Diese Diskrepanz war mir bewusst, aber über die Gründe wagte ich nicht nachzudenken. Er war das leuchtende Vorbild meiner noch jungen Persönlichkeit, das Symbol für die Schönheit des Lebens, und instinktiv glaubte ich, dass seine faszinierende Ausstrahlung gottgewollt war. Niemand war so wie er, er wusste alles und er hatte immer recht. Stundenlang gingen wir Hand in Hand spazieren, durch die Stadt oder vor ihren Toren, ich fühlte mich leicht, wie über allem schwebend. Er erzählte mir von den Großeltern, die kurz vor meiner Geburt gestorben waren, von seiner Kindheit, den wunderbaren Erlebnissen und den französischen Soldaten, die er mit acht Jahren in seiner Heimatstadt Turin hatte einmarschieren sehen, als es »Italien noch nicht gab«. Eine solche Vergangenheit hatte etwas Unwirkliches. Er ging neben mir, ein schlanker hochgewachsener Mann mit schnellen Bewegungen, den Kopf stolz aufgerichtet, auf den Lippen das triumphierende Lächeln der Jugend. In diesen Augenblicken erschien mir die Zukunft voller vielversprechender Abenteuer.
Mein Vater organisierte meinen Unterricht und meine Lektüren, ohne jedoch viel von mir zu verlangen. Die Lehrerinnen hingen an seinen Lippen, wenn sie zu uns nach Hause kamen, manchmal sogar mit einer gewissen Ehrerbietung, so kam es mir zumindest vor. In der Schule gehörte ich immer zu den Besten und hatte oft das Gefühl, privilegiert zu sein. Vom Beginn meiner Schulzeit an bemerkte ich den Unterschied in Kleidung und Mahlzeiten. Ich konnte mir gut vorstellen, wie es in den Familien meiner Mitschülerinnen zuging, Arbeiterfamilien, die schwer schuften mussten, oder Kaufleute, die ein einfaches Leben führten. Wenn ich nach Hause kam, betrachtete ich das glänzende Schild neben dem Eingang, auf dem der Name meines Vaters zusammen mit seinem Titel eingraviert war. Als ich fünf Jahre alt war, hörte mein Vater nach einer Auseinandersetzung auf, in meiner Heimatstadt Naturwissenschaften zu unterrichten, und tat sich mit seinem Schwager aus Mailand zusammen, der ein großes Handelshaus besaß. Ich verstand, dass er sich mit dieser neuen Situation nicht besonders wohlfühlte. Wenn ich ihn an manchen freien Nachmittagen nach Hause kommen und das kleine Zimmer betreten sah, wo seine Gerätschaften für physikalische und chemische Experimente untergebracht waren, wurde mir klar, dass er sich nur dort wirklich an seinem Platz fühlte. Was würde mir mein Vater noch alles beibringen können!
Ich war nicht ungeduldig, aber die Neugier war ein starker Antrieb in meinem Leben. Ich langweilte mich nie. Oft lehnte ich es ab, meine Mutter zu begleiten, wenn sie irgendwelche Besuche machte, sondern blieb zu Hause, kuschelte mich in einen tiefen Sessel und las Bücher zu ganz unterschiedlichen Themen, die ich oft nicht verstand, an deren Fantasien ich mich aber berauschen und in denen ich komplett versinken konnte. Manchmal hielt ich inne, um unklare Gedanken zu formulieren, oft mit halblauter Stimme, als rezitierte ich Verse, die mir von einer inneren Stimme diktiert wurden. Ich empfand häufig Scham, zum Beispiel wenn ich in meinem Sessel schmachtende Positionen einnahm und mich dazu hinreißen ließ, mir vorzustellen, ich sei eine verführerische Schönheit. Konnte ich zwischen Affektiertheit und Natürlichkeit unterscheiden? Mein Vater betrachtete jede Form der Poesie mit einer gewissen Geringschätzung und Gleichgültigkeit, er sagte immer, er verstünde sie nicht. Meine Mutter deklamierte hin und wieder eine zärtliche oder sehnsuchtsvolle Gedichtzeile oder zitierte in leidenschaftlichem Tonfall Auszüge alter Romane, aber nur, wenn mein Vater nicht da war. Und immer war ich nur zu bereit zu glauben, dass mein Vater häufiger im Recht war als sie.
Das galt auch, wenn er einen seiner Wutanfälle bekam, vor denen wir alle zitterten und die mich sofort in einen Zustand unbeschreiblicher Angst versetzten. Meine Mutter unterdrückte die Tränen und floh ins Schlafzimmer. Oft nahm sie meinem Vater gegenüber eine unterwürfige, beinahe schuldbewusste Haltung ein. Und folglich gab es nicht nur für mich, sondern auch für alle anderen Kinder nur eine Person, auf die sich die gesamte Autorität konzentrierte: meinen Vater.
Große Auseinandersetzungen gab es zwischen ihnen jedoch nicht, nur einige scharfe Bemerkungen, Vorwürfe und knappe Ermahnungen, wenn wir in der Nähe waren. Sein aufbrausendes Temperament auszuleben, erlaubte sich mein Vater höchstens bei einem Fehlverhalten der Dienstboten oder vor uns Kindern, aber für all das schien meine Mutter verantwortlich zu sein, die dann immer den Kopf senkte, als ob sie plötzlich eine große Müdigkeit überfallen würde. Oder sie lächelte ein gewisses Lächeln, das ich kaum ertragen konnte, weil es ihrem schönen Mund einen resignierten Ausdruck verlieh.
Ob sie auch so oft an die Vergangenheit dachte?
Sie sprach mit mir fast nie über ihre Kindheit und Jugend, doch von dem wenigen, das ich wusste, konnte ich mir eine ungefähre Vorstellung machen, die allerdings wesentlich weniger spannend war als die von der Kindheit meines Vaters. Sie war in einem bescheidenen Angestelltenhaushalt groß geworden, und genau wie meine Großmutter väterlicherseits hatte auch ihre Mutter viele Kinder gehabt, die inzwischen zumeist überall auf der Welt verstreut lebten. Sie musste in beengten, lieblosen Verhältnissen aufgewachsen sein. Sie war das Aschenbrödel. Mit zwanzig Jahren lernte sie auf einem Ball meinen Vater kennen. Sie zeigte mir ein Bild von ihm als jungem Mann. Damals hatte er noch keinen Bart, er hatte weiche, regelmäßige Gesichtszüge, aber seine Augen verrieten bereits eine eiserne Entschlossenheit. Zu dieser Zeit war er im vorletzten Jahr der Universität. Nachdem er seinen Abschluss gemacht hatte, bekam er einen Lehrstuhl und sie heirateten.
Als ich geboren wurde, war seit der Hochzeit noch kein Jahr vergangen. Die wenigen Male, wenn sie von der kleinen möblierten Zweizimmerwohnung erzählte, in der sie ihre ersten Monate als Ehefrau verbracht hatte, leuchtete ihr blasses, reines Gesicht auf. Warum war sie nicht immer so lebhaft? Warum weinte sie so schnell, obwohl mein Vater den Anblick von Tränen nicht ertragen konnte, und wann wagte sie mal ihre Meinung zu äußern, die oft ganz anders war als die meines Vaters? Warum hatten wir Kinder so wenig Achtung vor ihr und zeigten kaum Gehorsam? Genau wie mein Vater wurde auch sie hin und wieder von Wut übermannt, aber damals wirkte das immer, als würde sich ein zu lange unterdrückter Schluchzer endlich Bahn brechen … Ich hatte das Gefühl, dass die Ausbrüche meines Vaters, auch wenn sie übertrieben waren, immer etwas Natürliches hatten, sie gehörten zu seinem Wesen. Zeigte jedoch meine Mutter ihren Missmut gegenüber ihren Kindern oder den Dienstmädchen auf diese Weise, so stand das im Widerspruch zu ihrer sanften Natur. Es wirkte dann, als leide sie unter starken Anfällen, derer sie sich bewusst war und für die sie sich schämte.
Wie oft habe ich in den schönen Augen meiner Mutter unterdrückte Tränen glitzern sehen! Dann stieg ein unbeschreibliches Unwohlsein in mir auf, das kein Mitleid und auch kein Schmerz, keine echte Erniedrigung war, sondern eher ein finsterer Groll gegen meine Unfähigkeit zu reagieren, darauf, dass nicht das geschah, was geschehen sollte. Aber was? Das wusste ich selbst nicht genau. Als ich etwa acht Jahre alt war, litt ich unter der seltsamen Befürchtung, keine »echte« Mutter zu haben, eine Mutter, die, wie ich es in meinen Büchern gelesen hatte, ihre Kinder mit ihrer Liebe und einer unsagbaren Freude überschüttet und ihnen die Sicherheit vermittelt, stets von ihr beschützt zu werden. Einige Jahre später wich diese Furcht dem Bewusstsein, dass ich meine Mutter nicht so lieben konnte, wie ich es gerne gewollt hätte. Das war sicherlich der Grund, warum über unserem Haus stets ein unbestimmter Schatten lag, der oft verhinderte, dass man dort frei und spontan lachen konnte. Ach, wenn ich mich nur einmal ohne nachzudenken in ihre Arme hätte werfen können, mich verstanden gefühlt und ihr versichert hätte, dass ich, wenn ich mal groß wäre, an ihrer Seite sein würde. Wie sehr hätte ich mir gewünscht, auch mit ihr ein...
Erscheint lt. Verlag | 25.4.2024 |
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Nachwort | Elke Heidenreich |
Übersetzer | Ingrid Ickler |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | authentisch • Autobiografie • autobiografie buch • Autobiografie Frauen • autobiografie kindle • Befreiung • bewegend • dramatisch • Emanzipation • ergreifend • Feminismus • feminismus buch • Feminismus Geschichte • Frauen • Italien • Italienische Literatur • klassisch • Literatur • Memoiren • Mutter • Roman Feminismus • Roman Italien • roman italien frauen • Schicksal • Skandalroman • Tochter • Tradition • Unterdrückung • Wiederentdeckung |
ISBN-10 | 3-96161-194-7 / 3961611947 |
ISBN-13 | 978-3-96161-194-2 / 9783961611942 |
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