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Die Königin und der Kalligraph (eBook)

Kurzgeschichten. Übersetzt von Gerhard Meier, mit einem Nachwort von Rafik Schami

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
224 Seiten
Manesse (Verlag)
978-3-641-29671-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Königin und der Kalligraph -  Moussa Abadi
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• Ein berührendes Erinnerungsbuch an das Damaskus von gestern und ein Plädoyer für friedliche Koexistenz aller Völker und Konfessionen im Nahen Osten
Ein hochaktuelles Zeugnis von Mitmenschlichkeit und religiöser Toleranz im Nahen Osten - erstmals auf Deutsch, herausgegeben von Rafik Schami

Moussa Abadi wurde im jüdischen Viertel von Damaskus geboren und wuchs in Frieden und Freiheit auf. In seinem berührenden Erzählband beschreibt er atmosphärisch dicht und humorvoll diese Welt von Gestern - Damaskus in der kurzen Phase vom Ende des Osmanischen Reichs 1918 bis zur französischen Besatzung am Beginn der 1920er-Jahre. Wir erfahren vom Leben der jüdischen Gemeinde und von deren friedlicher, ja brüderlicher Koexistenz mit Angehörigen anderer Religionen. So wird dieses Erinnerungsbuch zu einer in der Vergangenheit angesiedelte Utopie, zur Feier des brüderlich-harmonischen Zusammenlebens von Christen, Juden und Muslimen.

Moussa Abadi ist Abkömmling syrischer Juden und wurde 1910 in Damaskus geboren. Er besuchte die Jewish Alliance School, wo er ein Stipendium für ein Studium in Frankreich erhielt und an die Sorbonne ging. 1942 floh Moussa Abadi mit seiner Gefährtin Odette Rosenstock vor den Nazis nach Nizza. Die beiden schlossen sich der Widerstandsbewegung an. Mit Unterstützung des Bischofs von Nizza gelang es ihnen, 527 jüdische Kinder zu verstecken und sie so vor dem Zugriff durch SS und Gestapo zu bewahren. Moussa Abadi starb 1997. Zum ehrenden Andenken an ihn und Odette Rosenstock wurden in Paris und Nizza Plätze nach ihnen benannt.

«Eine ganz schöne Zauberkiste, das Gedächtnis! Die reinste Bilderfalle! Was man dort sucht, findet man nicht. Doch findet man, was man nicht sucht.»

François Jacob, La Statue intérieure

Das Bild auf Seite eins

Einer Legende zufolge, die allerdings zugegebenermaßen ebenso umstritten ist wie die vom dreizehnten Stamme Israels2, haben Vorfahren von mir, ein Ehepaar, einmal das ganze Pessach-Fest über einen Fremden bei sich beherbergt, der aus Tarsus3 stammte und nach langer Irrfahrt in unserem Ghetto4 in Damaskus gelandet war.

Die Legende berichtet ferner, der Fremde namens Saul habe sie nicht einmal mit einem kleinen Brief an die Abadier5 beschert, um sich für die großzügige Gastfreundschaft zu revanchieren, und zwei seiner Reisegefährten, Barnabas und Timotheus,6 die ihn für seine ungenierte Art entschuldigen wollten, hätten daher durchblicken lassen, bevor er bei seinen Gastgebern eingetroffen sei, habe er auf dem Weg nach Damaskus einen Sonnenstich erlitten. Mag sein …

***

Aus jenem Ghetto bin ich eines nebligen Dezembermorgens aufgebrochen, um einen anderen Planeten zu entdecken …

So viele Jahre trennen mich von jenem Morgen! Und jedes Mal, wenn ich durch das Album mit den Bildern und Gesichtern meines verschwundenen Ghettos blättere, begegne ich wie ein Besessener unweigerlich, «auf Seite eins», der Erinnerung an einen unserer alten Weber, «die stets Seidentücher webten und doch in Lumpen gingen»7.

Eines Tages traf ich ihn in der Nähe seiner Werkstatt an – besser gesagt seines Straflagers –, an der Ecke der «Geraden Straße» und der Freitagsstraße, während der paar Minuten Ruhe, die sein Meister ihm gönnte.

Er saß auf den Fersen, die Arme ausgestreckt, die Hände gefaltet. Und ich traute kaum meinen Ohren, als ich vernahm, wie er Gott anflehte, ihm «eine Revolution zu schicken».

«Was erwartest du von deiner Revolution?», fragte ich ihn.

«Von meiner Revolution», erwiderte er, «erwarte ich alles, was man von einer anständigen Revolution verlangen kann. Zuallererst ein bisschen mehr Brot, und ein bisschen weniger Ungerechtigkeit.»

«Und was tust du dafür, dass sie kommt?»

«Na, ich bete. Was soll ich sonst dafür tun?»

Die vom Himmel gefallene Königin

An jenem Julinachmittag stöhnten die Damaszener unter bleierner Sonne, und das Ghetto stand tausend Ängste aus. «Und falls ‹sie› von der Route abgewichen ist, mit unbekanntem Ziel?» Das Empfangskomitee durchlitt den dritten Tag des Wartens und der Sorge, und niemand hätte darauf gewettet, dass es der letzte sein würde.

Tore und Türen waren geschrubbt worden, die Türklopfer poliert, jede Mesusa8 hatte man abgewischt und den beiden städtischen Straßenreinigern eine kleine «Gabe» zugesteckt, damit sie beim Wegräumen von Kaktusfeigenschalen, verfaulten Wassermelonen, verendeten Katzen und vor Metzgereien verwesenden Lammköpfen mehr Eifer an den Tag legten als sonst. Kurz, es war alles geschehen, damit die Prunkkutsche, die die Große Dame im Norden von Damaskus abholen sollte, Straßen passierte, in denen nicht einmal die findigsten Hunde noch einen Knochen aufgestöbert hätten.

Von den Fenstern hingen Perserteppiche und Seidenschals. Die Gattinnen, Mütter, Großmütter und Schwiegermütter der einflussreichsten Honoratioren hatten gemeinsam ihr ganzes Talent, ihren Ruf und ihren Stolz darauf verwandt, das Gebäck und die Erfrischungsgetränke mit Orangenblütenwasser zuzubereiten, wie sie traditionell zur Begrüßung gereicht wurden und die sie höchstselbst der Dame servieren würden, die uns die Ehre erwies, nach so langer Abwesenheit wieder zu uns zurückzukehren.

Vielleicht sollte ich nunmehr ohne weiteres Zögern den Grund für all jenen Trubel verraten, für jene Generalmobilmachung: Es ging um nicht mehr und nicht weniger als um den Empfang einer Königin, und zwar mit all dem Respekt und dem protokollarischen Aufwand, die ihr gebührten. Eine Königin, die vom Himmel gefallen war!

Seit dem denkwürdigen Besuch einer Baronin Rothschild9 zu Beginn des Jahrhunderts hatte keine Königin den Boden unseres Ghettos betreten. Die Königinnen wiederum, die man vom Hörensagen kannte, waren allesamt gewissermaßen biblischer Natur – wie etwa die schöne Esther, um nur eine zu erwähnen, die ja ebenfalls vom Himmel gefallen war, und zwar – zum Glück für das jüdische Volk – mitten ins Bett von Ahasveros10.

Die kleine Salha Stétié, Nestküken einer Familie mit siebzehn Kindern, war mit fünfzehn Jahren spurlos verschwunden. Damals war von einer Entführung die Rede, von Vergewaltigung, gar von Mord. «Na ja, hat der arme Ruben wenigstens ein Mäulchen weniger zu stopfen», raunten die Nachbarinnen, die im Übrigen nicht zu sagen wussten, welche der elf Töchter des «armen Ruben» nun eigentlich verschwunden war. So etwas wie eine Vermisstenmeldung und polizeiliche Ermittlungen gab es nur für reiche Leute. Lief eben eine kleine Jüdin weniger herum … Schon war der Fall abgeschlossen.

So vergingen Monate und vergingen Jahre … Die Familie Stétié wurde vom Tod übel heimgesucht. Der Vater, die Mutter, die sechzehn Geschwister, alle wurden von der «Schwindsucht» dahingerafft, von heimtückischen Grippen und anderen noch geheimnisvolleren Krankheiten, die der einzige Arzt des Viertels nicht rechtzeitig «entdeckt» hatte.

Längst erinnerte sich niemand mehr an … «Na, wie hieß sie gleich noch mal? Ihr wisst doch, wen ich meine … Die damals abgehauen ist …», als eines schönen Tages ein Mann, der nicht aus dem Ghetto stammte, unvermittelt vor den Vorstand der jüdischen Gemeinde trat, der gerade unter der Ägide meines Großonkels, seines Vorsitzenden auf Lebenszeit, zu einer «außerordentlichen Sitzung» zusammenkam. Der Mann legte einen mit rotem Wachs versiegelten Umschlag auf den Tisch, tat darauf eiligst ein paar Schritte rückwärts und sagte lediglich: «Bitteschön. Hier ist es!» Sprach’s und verschwand.

Ein so gut wie stummer Fremder von wer weiß woher, ein versiegelter, doch nicht frankierter Brief von unbekannter Hand, mehr bedurfte es nicht, um die friedfertigen, ehrenwerten Vertreter unseres ereignislosen Ghettos in helle Aufregung zu versetzen.

Dem Vorsitzenden kam die heikle Aufgabe zu, den Umschlag zu entsiegeln und von dem Schreiben darin Kenntnis zu nehmen. Er entledigte sich dieser Obliegenheit wie immer voller Gleichmut, Feierlichkeit und Würde.

«Also, Yussef Effendi, was steht in dem Brief?», fragten ihn unsere Vertreter. «Ist er wirklich an uns gerichtet?»

«Dieser Brief», erwiderte der Vorsitzende, «ist – wie auf dem Umschlag steht – an den Vorstand der jüdischen Gemeinde von Damaskus gerichtet, also an jedes einzelne seiner Mitglieder, und in erster Linie an dessen Vorsitzenden … Hört mir gut zu. Ich lese ihn einfach vor.»

In dem Schreiben wurde auf zehn kalligraphierten Seiten – noch dazu auf Hocharabisch – eine ebenso außergewöhnliche Geschichte referiert wie die von Moses, den in allerletzter Minute die anmutigste Tochter des Pharaos vor den Wassern und einem sicheren Tod errettet hatte.11

Gewiss, so wie jeder gute Christ kann auch ein Jude an Wunder glauben, und unter gewissen Umständen muss er das sogar. Deshalb aber dem geradezu un-glaub-li-chen Bericht so viel Glauben zu schenken, als wären es Worte aus der Tora … Das war doch ein Schritt, zu dem die Vertreter sich nicht so leicht durchringen konnten.

So gestatteten sie sich einen Tag zum Nachdenken und befragten den Krämer, der sich auch als Seher betätigte, inwiefern es sich bei einem Ereignis von derartigem Ausmaß, das völlig unvorhergesehen, aber doch schon angekündigt war, um ein Wunder handeln konnte.

Der Seher, der zwar selbstredend nie eine Zeile der Schriften Pascals gelesen hatte, empfahl ihnen dennoch am Ende seiner Beratung, es mit der Pascalschen Wette12 zu halten.

«Im Zweifelsfall sollte man immer an Wunder glauben», sagte er. «Dann kann zweierlei geschehen: Entweder das Wunder geschieht, dann seid ihr seine ersten Nutznießer, oder aber es geschieht nicht, dann habt ihr auch nichts verloren …»

Also her mit dem Wunder.

***

Hätte Salha Stétié sich mehr als ein halbes Jahrhundert nach ihrem Verschwinden damit begnügt, ihre baldige Rückkehr in die Heimat anzukündigen, wäre man nicht übermäßig verwundert gewesen. Steht nicht geschrieben, dass der verirrte Vogel, solange er mit den Flügeln schlagen kann, stets nach seinem Nest sucht?13 Jedoch – und da saß der Hase im Pfeffer – hatte die Salha, die ins Nest zurückkam, sich inzwischen in eine Königin verwandelt, und zwar, um genauer zu sein, in die ehemalige zweite Favoritin eines Königs, dessen Reich sich, laut dem Schreiben, «bis an die Grenze der Wüste» erstreckte. Ferner stand in dem Brief, der König, der sie soeben verstoßen habe, wiege für sie ihr Gewicht mit Gold auf – merken wir uns dieses Detail, denn es wird uns in Kürze erlauben, die unermessliche Großzügigkeit des Monarchen zu beurteilen – und stelle ihr eine Karawane mit zwanzig Kamelen zur Verfügung, um den Schmuck, die Diamanten und die tausend anderen Preziosen nach Hause zu bringen, mit denen er sie jeweils...

Erscheint lt. Verlag 11.4.2024
Nachwort Rafik Schami
Übersetzer Gerhard Meier
Sprache deutsch
Original-Titel La Reine et la Calligraphe
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2024 • Araber • Christen • Damaskus • eBooks • Erinnerungsbuch • Freiheit • Frieden • Humanismus • Juden • Jüdisches Leben • Koexistenz • Memoir • Muslime • Naher Osten • Neuerscheinung • Orient • Religion • Synagoge • Syrien • Toleranz • Welt von gestern
ISBN-10 3-641-29671-4 / 3641296714
ISBN-13 978-3-641-29671-1 / 9783641296711
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