Albrecht Weinberg - »Damit die Erinnerung nicht verblasst wie die Nummer auf meinem Arm« (eBook)
288 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-31618-1 (ISBN)
116927: Die Nummer, die Albrecht Weinberg noch immer auf seinem Unterarm trägt, mit 99 Jahren, ist mit den Jahrzehnten verblasst. Glasklar dagegen sind seine Erinnerungen. An seine Jugend, das Aufkommen der Nazis, an Freunde, die plötzlich keine mehr waren, daran, wie er seine Familie verlor. Und an Friedel. Seine Schwester, mit der er sich das Versprechen gab, sie würden für immer aufeinander achtgeben.
Gemeinsam entkommen sie dem Holocaust und emigrieren in die USA. Jahrzehnte später, als es Friedel schlechter geht, reisen die beiden wieder zurück nach Deutschland. Dort begleitet Albrecht seine Schwester bis zu ihrem Tod und lernt dabei deren Pflegerin Gerda kennen. Erst vor ihr öffnet sich Albrecht und beginnt, Gerda von seinem Leben zu berichten. Er erzählt von seiner Geschichte. Von seinem Glauben an das Gute, trotz allem. Und von dem Versprechen zu überleben. Damit die Erinnerung weiterlebt.
Mit Bildteil.
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Nicolas Büchse, geboren 1979, studierte in Göttingen und Straßburg Geschichte, Politik und Jura. Er absolvierte die Henri-Nannen-Journalistenschule in Hamburg und arbeitete anschließend für das Geschichtsmagazin GEO Epoche und als Redakteur beim Nachrichtenmagazin Der Spiegel. Seit 2010 ist er als Reporter für den stern unterwegs, von 2017 bis 2021 leitete er das New Yorker Büro des Magazins, für das er heute als Autor tätig ist. Für seine Reportagen wurde er mehrfach ausgezeichnet. Er lebt mit seiner Familie in Hamburg. Im Jahr 2022 begleitete er den damals 97-Jährigen Albrecht Weinberg auf dessen letzter großen Reise nach Israel, seitdem sind die beiden miteinander befreundet.
2
70 Jahre später.
Fort Lauderdale, Florida 2012
»Al«, wimmerte Friedel. »Al! Al! Al!«
»Ich bin hier«, sagte Albrecht.
Langsam fuhr er Friedel mit den Fingerspitzen über den Arm, exhausted, gedankenverloren, in seinem Kopf verschwamm alles. Ein vergeblicher Versuch. Er konnte sie nicht beruhigen – er konnte sich selbst nicht beruhigen. Und doch wusste er nichts anderes zu tun.
So ging es seit Wochen schon, immer wenn er morgens in den Flur des Hospice am Rande von Fort Lauderdale kam, hörte er seine Schwester rufen: »Al!« Zu Al war er in Amerika geworden, weil kein Mensch hier Albrecht aussprechen kann und Zeit mit langen Namen verschwendet. Er begrüßte sie, hievte sie in ihrem Sessel höher, sie war wieder zu weit heruntergerutscht. Die Krankenschwestern und Pfleger kümmerten sich nicht darum, sie schienen sich auch sonst um wenig zu kümmern. Friedel war bleich, wirkte immer kraftloser, schien immer weniger zu werden von Tag zu Tag. Draußen schien unveränderlich Floridas Sonne, er saß hier drinnen ohne Pause bei ihr, bis spät in die Nacht, dann machte er sich völlig erschöpft auf den langen Heimweg und wartete im Apartment nur auf den Morgen, um endlich zurück zu ihr zu fahren.
In seinem ganzen Leben war er nur zwei Jahre von seiner Schwester Friedel separated gewesen. Sie war jetzt 88 Jahre alt, er 86 Jahre – keinen Menschen auf der Welt kannte er so gut wie Friedel, er spürte, sie hatte große Angst.
Ihr Schrei hatte ihn in einer Novembernacht aus dem Schlaf gerissen. Er war laut, schriller noch als die Schreie, mit denen sie aufschreckte, wenn die Dämonen sie in ihren Albträumen heimsuchten. Er kannte diese Träume nur zu gut, auch ihn quälten sie. Die Zeit, wusste Albrecht, sie war auch all die Jahre in Amerika nicht vergangen. Sie hatte nur ihre Spuren hinterlassen. Nichts war vorbei. Wenn ihm die Augenlider zufielen, war alles da. Die Waggons, in die man sie pferchte, die Toten am Stromzaun, die Jungen am Galgen. Die Gespenster, sie suchten ihn und seine Schwester heim, Nacht für Nacht.
Albrecht hatte Friedel in ihrem Zimmer in ihrem gemeinsamen Apartment gefunden, sie lag auf dem Boden neben dem Bett und jaulte fürchterlich. Er schaffte es nicht, sie hochzuhieven, die Nachbarn riefen den Rettungswagen. Im Krankenhaus sprachen die Ärzte von einem schweren Schlaganfall, er hatte die linke Seite ihres Körpers gelähmt, sie könnten nicht sagen, ob sich Friedel jemals erholen würde, sie könnten hier nichts mehr tun. Acht Tage später entließ man sie, seitdem saßen sie hier fest, in diesem fürchterlichen Hospice. Friedel war ansprechbar, doch verstehen konnte er sie nur noch schwer, anfangs war sie nur in der Lage gewesen, einige Laute aus ihrem Mund zu pressen, sie brauchte Hilfe beim Essen und Trinken, manchmal verschluckte sie sich. In den Tagen, an denen er bei ihr im Flur des Hospice saß, um sie herum das Stöhnen und Schreien der anderen Patienten und die umherhetzenden Krankenschwestern und Pfleger, da sah er die Verzweiflung in ihren Augen.
Seine Friedel. Sie wurde am 14. November 1923 geboren, er knapp 16 Monate später, im März 1925. Selbst ihre Eltern nannten sie nur bei ihrem Kosenamen, lediglich wenn sie wütend waren, dann riefen sie den Namen, den sie ihr gegeben hatten: Frieda.
Sie waren drei Geschwister. Diedrich, den alle nur Dieter riefen, war der Älteste. Ein Draufgänger, drei Jahre älter als Albrecht. Friedel war besonnen, vielleicht waren sie und Albi, ja, auch er hatte einen Kosenamen als Kind, deshalb immer schon close. Wie sie »Mensch ärgere Dich nicht« gespielt haben vorm warmen Ofen in ihrem Elternhaus in Rhauderfehn bei Leer. Wie sie die Leute reingelegt haben, ein leeres Portemonnaie auf die Straße, Schnur dran, und dann ab hinter die Hecke. Wie sie miteinander gespielt haben, als kein Nachbarskind mehr mit ihnen spielen wollte.
Friedel und Al. Zusammengeknotet durch ein stummes Versprechen, niemals hatte es einer von ihnen ausgesprochen: Sie hatten immer aufeinander achtgegeben, so wie es die Mutter damals erhofft hatte. Sich gestützt und geschützt. Sie brauchten einander. Sie hatten sich zwei Dinge geschworen. Erstens, dass niemals einer von ihnen jüdische Kinder in diese Welt setzen würde. Zweitens, sie würden nie wieder nach Deutschland zurückkehren. An den ersten Schwur hielten sie sich. Den zweiten Schwur hielten sie jahrzehntelang. Bis das mit Friedel passierte.
Diesem Pakt verdankten sie ein Leben danach, wie sie es sich damals nicht zu erträumen wagten. Sie hatten in den letzten Jahren ein easy life gehabt in Florida, alles schien zunächst so wunderbar zu sein. Gerd hatte ihn Mitte der achtziger Jahre auf die Wohnung aufmerksam gemacht in der Wohnanlage in Fort Lauderdale. Friedel und er mochten Florida schon, als sie noch in New York lebten, sie waren hierher oft in den Urlaub gefahren, in die Sonne und an den langen, atemraubenden Strand, wo die jungen Leute früher Springbreak feierten mit Unmengen von Alkohol. Heute ging es hier gemächlicher zu, der Ort war zu einem Rentnerparadies für wintermüde Snowbirds aus dem kalten Nordosten der USA geworden, ein guter Ort also für Friedel und ihn.
Gerd war auch in einem Zwangsarbeiterlager gewesen. Sie hatten überlebt und sich hier in der Hitze Floridas wiedergetroffen, bei Kaffee und Kuchen in der Seniorenwohnanlage Colony Point, two survivors, unbelievable. Gerd sagte, die Nachbarn in der Etage über ihm wollten ihr Apartment verkaufen.
Zuerst fuhren Friedel und er jedes Jahr für ein paar Wochen in den Urlaub hierher. Im ersten Urlaub kauften sie für ihre Ferienwohnung Küchenstühle und den Tisch, im nächsten ein Sofa, alles secondhand. Bald, als auch Friedel in Rente gegangen war, überwinterten sie in Florida und kehrten nur für die Sommermonate nach New York zurück. 2009 zogen sie endgültig hierher. In ihrer Anlage gab es ein Clubhaus, einen Fitness- und einen Billardraum, sie gingen ins Kino, fuhren an den Strand oder zum Pferderennen und gingen sogar einmal auf eine kleine Kreuzfahrt. Und am Swimmingpool trafen sich alle Nachbarn unter Palmen, meist in separated groups, die Kubaner, die Afroamerikaner, die Italiener, die Iren und dann die Rentner mit den Nummern auf dem Arm und den Erinnerungen an Orte mit Namen wie Auschwitz, Theresienstadt oder Buchenwald, die ihr Leben für immer gefangen hielten. Rentner wie sie.
Sie gingen unterschiedlich um mit dem, was sie erlebt hatten. Manche, die einst in Deutschland verfolgt wurden, verloren nur noch schlechte Worte über dieses Land und sagten, sie würden nie wieder seinen verfluchten Boden betreten. Bei Friedel und Albrecht war das komplizierter.
Auch sie hatten geglaubt, sie hätten abgeschlossen mit Deutschland. Doch im Sommer 1984 fanden sie in ihrem Briefkasten einen Brief. Er stammte aus ihrer alten Heimat, war versehen mit offiziellem Stempel, verfasst vom Rat der Stadt Leer. Albrecht las den Brief, faltete ihn wieder zusammen, steckte ihn in den Umschlag zurück und verstaute ihn in der Schreibtischschublade. Er hatte nicht die Absicht, auf ihn zu antworten, der Brief wühlte ihn auf und gleichzeitig lähmte er ihn.
Es war eine Einladung.
Aus dem Land der Täter kam ein Schreiben in dem Deutsch der Obrigkeit. In ihm hieß es: »Wenn der Rat unserer Stadt als politische Vertretung aller Bürger nun einstimmig beschlossen hat, Sie zu einem Besuch Ihrer alten Geburts- und Heimatstadt im nächsten Jahr einzuladen, mögen Sie darin bitte den Ausdruck menschlicher Bindungen und des Gefühls der Zugehörigkeit zu Ihnen sehen. Wir würden uns freuen, Sie in der Woche ab dem 2. Juni 1985 als Gäste in unserer Mitte zu sehen. Mit Ihnen möchten wir am 3. Juni das Gedenken an die Einweihung der prächtigen Synagoge vor 100 Jahren begehen.«
Friedel und er wollten davon nichts wissen. Niemals würden sie an den Ort zurückkehren, in dem die Nazis sie durch die Straßen jagten und die Nachbarn in den Fenstern standen und hinter den Gardinen versteckt zusahen. Sie waren doch damals in Leer gewesen, als sie die Synagoge bis auf die Grundmauern niederbrannten und plünderten, und jetzt sollten sie inmitten der Bürger feiern, die sie angezündet oder zugesehen und es geschehen lassen hatten? Ihnen zog sich der Magen zusammen bei diesem Gedanken. Der Brief blieb in der Schublade, sie versuchten ihn zu vergessen.
Kurz darauf bekamen sie einen weiteren Brief. Darin fanden sie neben einem Anschreiben ein etwas verwaschenes Schwarz-Weiß-Foto, das sie nicht aus der Hand legen konnten. Sie sahen es so lange an, als würden sie versuchen, die Kinder darauf zum Leben zu erwecken. Fröhlich blicken die Kinder auf dem Foto, ein Junge in der ersten Reihe trägt einen Matrosenanzug und einen scharfen Scheitel, da sind Jungs mit Schiebermützen, andere scheinen den Kopf mit einer Kippa bedeckt zu haben. Die Mädchen haben sich herausgeputzt, sie tragen Kleider und geflochtene Zöpfe. Ein kleines Mädchen, vielleicht sechs Jahre alt, steht in der ersten Reihe und hat sich bei zwei breit grinsenden Jungs untergehakt, und eins legt ausgerechnet in dem Moment, in dem der Fotograf abdrückte, die Hand vor den Mund, als wolle sie ihr Kichern verstecken. Alle stehen eng beieinander, eine Gruppe von gut drei Dutzend Menschen, vorn die Schulanfänger, hinten die Teenager, und rechts entdeckte Friedel den Lehrer Hermann Spier von der Jüdischen Schule in Leer. Das Klassenfoto musste 1935 aufgenommen worden sein, kurz bevor auch Friedel und er auf die Jüdische Schule gehen mussten, denn sie fehlen auf diesem Bild. Aber sie erkannten viele Kinder...
Erscheint lt. Verlag | 14.2.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | 2024 • Auschwitz • Auschwitz-Birkenau • Befreiung • Biografie • Biographien • eBooks • Geschichte • Holocaust • Ich war das Mädchen aus Auschwitz • Jude • Konzentrationslager • Nationalsozialismus • Neuerscheinung • Shoah • Tova Friedman • Überleben • Wahre GEschichte • Zeitzeuge • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-641-31618-9 / 3641316189 |
ISBN-13 | 978-3-641-31618-1 / 9783641316181 |
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