Der Wald (eBook)
512 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-22211-6 (ISBN)
Mira Bunting ist die Gründerin einer Guerilla-Gardening-Gruppe namens Birnam Wood.Das Kollektiv pflanzt und erntet, wo es niemand bemerkt: an Straßenrändern, in vergessenen Parks, vernachlässigten Hinterhöfen. Seit Jahren kämpft die Gruppe darum, Birnam Wood langfristig rentabel zu machen. Dann eröffnet sich eine Möglichkeit: Ein Erdrutsch hat den Pass zu einem Naturschutzgebiet abgeschnitten, die Umweltkatastrophe hat auch eine große, scheinbar verlassene Farm eingeschlossen. Als Mira sich das Grundstück auf eigene Faust ansehen will, wird sie dort von Robert Lemoine überrascht. Der mysteriöse amerikanische Milliardär ist fasziniert von Mira und schlägt ihr vor, das Land zu bewirtschaften. Ein Handel, der Folgen haben wird. Wer ist Lemoine wirklich? Kann die Gruppe ihm vertrauen, während die Ideale von Birnam Wood auf die Probe gestellt werden? Können sie sich selbst trauen?
Eleanor Catton lässt in ihrem neuen Roman Welten aufeinanderprallen und greift gekonnt die Themen unserer Zeit auf. Mit Witz, filmreifem Plot und einem furiosen Finale legt die Booker-Preisträgerin einen Roman vor, der die Wucht der großen Shakespeare- Dramen mit einem feinem Gespür für die gesellschaftlichen Verwerfungen der Gegenwart vereint.
Eleanor Catton erhielt 2013 für ihren Roman »Die Gestirne« den renommierten Booker-Preis. Zuvor erschien ihr Roman »Anatomie des Erwachens«. Als Drehbuchautorin adaptierte sie »Die Gestirne« als TV-Serie und Jane Austens »Emma« als Kinofilm. Geboren in Kanada und aufgewachsen in Neuseeland, lebt sie nun in Cambridge, England.
»Ist das ein Orden?«, fragte Mark Mulloy und kippte die gerahmte Fotografie so, dass mehr Licht darauf fiel. »Ich dachte, das wäre ein Herzschrittmacher.«
»Lass mal sehen«, bat Cathy. »Ich will das auch sehen.«
»Sie haben unterschiedliche Bezeichnungen«, rief Lady Darvish aus der Küche. »Der vorne drauf ist ein sogenannter Bruststern und der auf der Schärpe ein Badge.« Sie kam mit einer Flasche Champagner herein und reichte sie ihrem Mann, damit er sie öffnete.
»Ein Bruststern?«, fragte Mark. »Wie in diesen Erotikheftchen? Um die Möpse zu schmücken?« Er streckte affektiert seine Brust heraus und bedeckte seine Brustwarzen mit den Fingerspitzen.
»Oh, Mark«, seufzte Cathy gespielt verzweifelt.
Aber Sir Owen Darwish grinste. »Kumpel«, sagte er und zog die Metallfolie vom Flaschenhals, »du solltest dir eine anspruchsvollere Lektüre zulegen.«
»Kein Mensch sagt mehr Erotik«, meinte Cathy und schnitt eine Grimasse. »Oder?«
»Klar sagt man das noch. Erotikfilm?«
»Nein, das heißt jetzt Porno. Oder einfach Porn.«
Lady Darvish hatte die Unterhaltung nicht mitverfolgt. »Er trägt ihn auf seiner linken Sakkotasche«, fuhr sie fort. »Aber falls er stirbt und ich ihn überlebe, darf ich ihn tragen, allerdings dann rechts.«
»Entschuldige«, entgegnete Sir Owen. »Noch bin ich quietschlebendig. Hallo?«
Sie lächelte ihn über die flackernden Kerzen hinweg an. »Ich habe ja auch ›falls‹ gesagt.«
»Ich liebe diese kleinen Regeln«, meinte Cathy.
Mark war ein weiterer Scherz eingefallen. Er deutete auf die Krawatte, die Sir Owen auf dem Foto trug. »Und was soll die Schlinge um den Hals? Wie nennt man die?«
Sir Owen ließ den Korken knallen. Sie kannten die Mulloys schon eine Ewigkeit – ihre Kinder waren zusammen groß geworden. Aber tatsächlich waren vorrangig die Frauen befreundet, und manchmal ermüdete es ihn, dass er und Mark keine andere Art der Kommunikation gefunden hatten als sich gegenseitig in die Mangel zu nehmen. Die Frauen lenkten die Unterhaltung, lieferten Informationen, griffen bei Stille rettend ein, holten Requisiten, wie Jill das peinlicherweise mit der gerahmten Fotografie seiner Ordensverleihung getan hatte, und vereinbarten weitere Zusammenkünfte. Wenn die Männer einen Beitrag leisteten, nörgelten sie entweder über ungeheure Kosten oder prahlten mit raffinierten Einsparungen und wie diese ihnen gelungen waren. Sir Owen war sich recht sicher, dass es früher einmal anders gewesen war, aber vielleicht irrte er sich auch. Vielleicht fiel es ihm jetzt erst auf – nachdem die Kinder aus dem Haus waren. Es kam ihm jedenfalls so vor, als ob jede Essenseinladung nach dem gleichen Muster ablief: Am frühen Abend konkurrierten alle darum, besonders zurückhaltend zu sein, während sie später, wenn sie angeheitert genug waren, darum kämpften, wer die anzüglichsten Kommentare von sich gab.
»Jetzt mal ehrlich«, meinte Mark gerade zu Jill. »Sag uns die Wahrheit. Hält er sich für etwas Besseres? Ist es ihm zu Kopf gestiegen?«
»Mir ist es auf jeden Fall zu Kopf gestiegen«, erwiderte sie lachend. »Ich habe vor Kurzem einen Flug gebucht, und bei diesem Kästchen, ihr wisst schon, da, wo man eingeben kann, ob man einen Titel hat, dachte ich die ganze Zeit innerlich: ›Lady, Lady, Lady!‹ Und dann stand er gar nicht zur Auswahl! Ich war so enttäuscht!«
»Ich habe gehört, wie sie im Wohnzimmer immer wieder ›Fuck‹ gerufen hat«, erzählte Sir Owen. »Sie war wirklich laut. Ich bin sogar zu ihr gerannt, weil ich dachte, dass etwas Schlimmes passiert wäre.«
»Ist das vielleicht deine Art, ihm mitzuteilen, dass du in der richtigen Stimmung bist?«, fragte Mark. Er legte die hohlen Hände um seinen Mund. »Fuck!«
»Mark, lass das«, sagte Cathy und winkte mit beiden Händen in seine Richtung.
»Nein, er hat recht«, meinte Lady Darvish. »Genauso mache ich es.« Alle lachten.
Als das Gelächter abebbte, erklärte Cathy: »Das ist aber nicht gleichberechtigt. Du wirst einfach zu Lady Darvish, quasi auf dem Rücken …«
»Ganz genau«, unterbrach Sir Owen lautstark und grinste seine Frau an, während er ihr Champagnerglas erneut füllte. »Besorg dir selbst so was.«
»Nein, ich meine etwas anderes. Wenn ich als Frau einen solchen Titel bekommen würde, wenn ich also Dame Cathy wäre, würde Mark nicht automatisch zu Lord Mulloy werden.«
»Er wäre dann nicht Sir Mark?«
»Nein, ich glaube, er wäre gar nichts.«
»Kein Gemahl?«
»Wenn schon: General!«
»O ja – General!«
»Oder Gentleman?«, schlug Lady Darvish vor. »Gentleman Mulloy?«
»Vielleicht auch einfach Mann«, sinnierte Mark. Er ließ seinen Bizeps spielen. »Mann Mulloy.«
»Ich glaube, er wäre wirklich gar nichts«, wiederholte Cathy.
Alle schwiegen. Marks Miene hatte sich verkrampft. Cathy fiel es entweder nicht auf oder sie kümmerte sich nicht darum. Sie nippte am Champagner. Mark schaute auf seinen Teller und fing an, ein paar Krümel mit dem Zeigefinger aufzulesen. Die Darvishes tauschten einen Blick.
Mark war Bauunternehmer. Er hatte eine Firma für die Renovierung von Wohnhäusern geleitet und damit viel Geld verdient. Dann war er von einem Gerüst gestürzt. Einige Wirbel waren gebrochen. Monatelang musste er sich physiotherapeutischen Behandlungen unterziehen, und als er schließlich wieder zur Arbeit zurückkonnte, stellte er fest, dass seine Partner in der Zwischenzeit alles – wie er es nannte – umstrukturiert und ihn hinausgedrängt hatten. Nach Monaten erbitterter Auseinandersetzungen und anwaltlichem Tauziehen gab er schließlich auf und versuchte es allein. Doch auch dabei verfolgte ihn eine Pechsträhne: Ein Kunde weigerte sich zu zahlen, es gab eine Überschwemmung, einen Versicherungsbetrug. Er musste die Firma schließen. Jetzt arbeitete er für eine große Baufirma als Mann für alles und erzählte jedem, der zuhörte, wie mies ihm das Schicksal mitgespielt hätte. Mark sah nur Katastrophen um sich, und trotzdem tat er Sir Owen auch leid. Cathy hatte Jill im Vertrauen erzählt, er nehme Pillen gegen Depressionen, und es war deutlich zu sehen, dass ihn die Medikamente dick machten. Vielleicht, dachte Sir Owen, hatten sie auch noch anderweitig Probleme miteinander.
Lady Darvish hatte inzwischen das Thema gewechselt. Sie wollte ihnen erzählen, sagte sie, wie sie vor ein paar Tagen an ihrem alten Haus in Masterton vorbeigefahren war. Die neuen Besitzer hatten den Zaun vorne entfernt und dort eine Garage hingebaut – direkt vor dem Wohnzimmerfenster! Hatten sie das auch schon gesehen? So eine Schnapsidee! Es wäre so schade und würde überhaupt nicht zu dem Haus passen. Mark murmelte etwas über nutzlose Amateure, und Cathy meinte: »Jetzt geht das wieder los.« Nichts brachte Mark nämlich mehr in Fahrt als Leute, die glaubten, sie könnten ein Handwerk erlernen, indem sie sich Videos auf YouTube anschauten. Innerhalb weniger Sekunden war Mark deutlich besserer Dinge und erzählte eine Geschichte, die er schon einmal zum Besten gegeben hatte. Das beherrschte Jill tatsächlich sehr gut: Sie fand immer eine Möglichkeit – auch wenn sie es dann absolut glaubhaft abzustreiten vermochte –, jemanden wieder auf Vordermann zu bringen, dessen Stolz gerade gekränkt worden war. Und während Sir Owen einen weiteren Schokoladentrüffel aus der Schachtel auf dem Tisch nahm, dachte er darüber nach, dass diese Essenseinladungen zumindest ein Gutes für ihn hatten: Sie machten ihm bewusst, dass er andere nicht im Geringsten um ihre Ehe beneidete.
In Gedanken wandte er sich den Aufgaben zu, die er sich fürs Wochenende vorgenommen hatte: Der Audi musste in die Werkstatt; die Gasflasche des Grills war leer; die Küchenmesser könnten auch mal wieder geschliffen werden; und er wollte zur Traufe hinaufklettern, um herauszufinden, warum der Dachrinnenschutz immer wieder heraussprang. Nichts davon war sonderlich dringlich, aber er hielt sich gern beschäftigt. Sie hatten die Wohnung in Wellington ursprünglich als Zweitwohnsitz gekauft. Seit sie derzeit ganz hier lebten, kam sie ihnen nun doch sehr klein vor. Jill hatte begonnen, ihm scherzhaft vorzuwerfen, absichtlich Dinge kaputt zu machen, um einen Grund zu haben, seinen Werkzeugkasten herauszuholen. Natürlich stimmte das nicht, aber er war tatsächlich unruhig geworden, seit er sich so lange Zeit am Stück immer in der Stadt aufhielt. Ihm fehlte das Gefühl der Weite des Landes wie in Thorndike – die ausgedehnten Weiden, der unverstellte Blick über den See. Ihm fehlte der uralte Schauder der Erhabenheit, sich angesichts der Natur als klein und unbedeutend zu fühlen, während er zugleich glaubte, sie doch beherrschen zu können.
Es war nicht gelogen, als er dem Lokalblatt erklärte, Thorndike sei für ihn der beste Ort gewesen, an dem er jemals gelebt hatte. Als Jills Vater starb und sie das Anwesen erbten, hatten sie ihr großes Familienhaus in Wairarapa verkauft. Den Großteil des Erlöses gaben sie an ihre Kinder weiter, damit diese das Geld entweder für ihre eigenen Hypotheken verwenden oder – wie in Rachels Fall – für eine Weinguthochzeit im Stil der Zwanzigerjahre verpulvern konnten, bei deren Erwähnung und dem Gedanken an die Kosten er noch immer die Augen verdrehte. Ihr Plan war gewesen, das Land aufzuteilen, indem sie die Felder neben der Straße parzellierten, das eigentliche Farmhaus jedoch für sich behielten, weil Jill den Gedanken nicht ertrug, sich von ihm zu trennen. Er hatte sich anfangs dagegen gewehrt – wer würde sich bei der Vorstellung eines Umzugs schließlich nicht erschöpft...
Erscheint lt. Verlag | 13.3.2024 |
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Übersetzer | Melanie Walz, Meredith Barth |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Birnam Wood |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 2024 • barack obama empfehlung • barack obama summer reading list • booker preisträgerin • eBooks • Garten • Neuerscheinung • Neuseeland • Prepper • Roman • Romane • Spannung • Umwelt • Umweltaktivisten |
ISBN-10 | 3-641-22211-7 / 3641222117 |
ISBN-13 | 978-3-641-22211-6 / 9783641222116 |
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