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Wir Kinder des 20. Juli (eBook)

Gegen das Vergessen: Die Töchter und Söhne des Widerstands gegen Hitler erzählen ihre Geschichte

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
368 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-31704-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wir Kinder des 20. Juli -  Tim Pröse
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DIE LETZTEN STIMMEN DES WIDERSTANDS. EIN VERMÄCHTNIS
»Ich habe ihn heiß geliebt. Und ich werde ihn bald wiedersehen ...« (Berthold Graf von Stauffenberg über seinen Vater Claus)

»Sie sind mir sehr nahe, immer noch.« (Klaus von Dohnanyi über seinen Vater Hans und seinen Onkel Dietrich Bonhoeffer)

»Was gerade geschieht in Deutschland, hätte beide sehr besorgt.« (Helmuth Caspar Graf von Moltke über seinen Vater James und seine Mutter Freya)

Am 20. Juli 1944 setzte Claus Graf von Stauffenberg ein Zeichen, das die Welt veränderte. An diesem Tag versuchte er, Hitler zu töten. Hunderte mutige Menschen aus dem Militär, Zivilleben, der Politik und Kirche gaben ihr Leben für diesen einen Tag. Hitler nahm damals blutige Rache. Fast alle Widerstandskämpfer ließ er grausam ermorden. Ihre Kinder wurden den Eltern entrissen: Sie sind die letzten Stimmen des Widerstands.

SPIEGEL-Bestsellerautor Tim Pröse hat diese Töchter und Söhne besucht, begleitet und ihnen zugehört: Welche Erinnerungen haben sie geprägt? Und welche Botschaft haben sie für unser Heute, in dem sich die Demokratie in Deutschland erneut wehren muss gegen Kriege, Diktatoren und radikale Kräfte?

Ein Buch über eine Vergangenheit, der wir uns jetzt stellen müssen. Denn das Gestern ist gegenwärtiger denn je.

»Ich werde ihn bald wiedersehen.« So gedenkt Berthold Schenk Graf von Stauffenberg heute des Vaters, den er als Junge zum letzten Mal sah. Er und viele weitere Söhne und Töchter der Widerstandskämpfer des 20. Juli, so etwa Klaus von Dohnanyi, Carl Goerdeler, Helmtrud von Hagen, Helmuth Caspar Graf von Moltke und viele andere lassen ihre Erinnerungen, Ideale und Hoffnungen in Tim Pröses eindringlichen Porträts aufleben.

Tim Pröse, geboren 1970 in Essen, ist Autor und freier Journalist in München. Sein Buch »Jan Fedder - Unsterblich« schaffte es 2021 aus dem Stand heraus auf Platz 1 der SPIEGEL-Bestsellerliste. Darauf folgte 2022 ein weiterer Platz 1 mit »Hans-Erdmann Schönbeck ?... und nie kann ich vergessen?« (»Es lohnt sich zu lesen, für uns alle« heute journal). Tim Pröse studierte Kommunikationswissenschaften, Politik und Psychologie, war Redakteur und Chefreporter, bekam den »Katholischen Medienpreis«, bevor 2016 sein Longseller erschien: »Jahrhundertzeugen. Die Botschaft der letzten Helden gegen Hitler« (FAZ: »Eines der berührendsten Bücher des Jahres«), 2017 folgte »Hallervorden. Ein Komiker macht Ernst«, 2018 »Samstagabendhelden« und 2019 »Mario Adorf. Zugabe!« (ZEITmagazin: »Ein feinfühliges Porträt«). Tim Pröse tourt mit bisher etwa 400 Lesungen durch Deutschland und war an mehr als 180 Schulen zu Gast mit seinen Vorträgen über Sophie Scholl, Oskar Schindler und Claus von Stauffenberg. 2022 erschien »Der Tag, der mein Leben veränderte. Von Menschen, die aus tiefster Krise zu sich fanden« (stern: »Eine Sammlung, die man nicht mehr vergisst«). 2024 kommt »Wir Kinder des 20. Juli. Gegen das Vergessen: Die Töchter und Söhne des Widerstands gegen Hitler erzählen ihre Geschichte« heraus.

Prolog


Wenn die Todesstunde kommt, sehen sie sich wieder. Um vier Uhr am Nachmittag bricht sie an und jedes Mal führt sie diese Zeit tief ins Gestern. In eine Vergangenheit, die immer wieder Gegenwart sein wird in ihren Leben und in diesem Land erst recht.

Grausam ist dieses Gestern, aber es wird auch groß in diesem Moment, am 8. September eines jeden Jahres. Groß im Bösen und im Guten. Denn dann stellen sie sich allem. Die Kinder der Erhängten fassen einander Mut, wenn sie sich vor jenem Verschlag in Berlin begegnen, in den ihre Väter zu ihren Galgen gehen mussten.

Es scheint so, als hielten sie dafür die Zeit an. Um sich ganz in diese Stunde hineinzufühlen. Als könnten ausgerechnet sie, die lange schon erwachsen sind, noch einmal an den Anfang ihrer Leben zurückkehren.

Jedes Jahr versuchen sie es, hier in der Gedenkstätte Plötzensee. Das geteilte Leid hilft ihnen dabei. Es bringt sie zusammen an diesem Tag und in diesem Jetzt. Ihr großes Gestern schmerzt sie noch einmal ganz eigentümlich in diesem Augenblick, aber bald schon beginnt es auch, sie zu umfangen und zu trösten.

Auch wenn sich die Wolken über ihnen zusammengetan haben an diesem 8. September 2022. Sie liegen tief über diesem Ort und halten ihn besetzt, als ob das immer so sein müsste und niemals anders war.

Wie war das damals wohl, als die Verurteilten in den Tod gehen mussten? Als sie selbst, die Kinder, viel zu früh zu trauern lernten? Als der Schmerz der vielen anderen Kinder noch so schnell und gut zu trösten war. Als es noch half, wenn die Großen die Tränen dieser Kleinen wegwischten, als wäre er ein Irrtum gewesen. Eine Art Versehen des Schicksals. Als wäre der Schmerz vergangen in Windeseile und wäre verschwunden in einem Lächeln. In ihnen aber, die sich hier treffen, ist er geblieben, bis heute. Er bestimmt ihre Leben.

Aber sie haben eben diesen Schmerz längst verwandelt.

Am 8. September 1944 haben ihnen die Nazis ihre Väter genommen, sie haben sie hier ermordet. Die Kinder der Toten, sie waren ab jetzt vaterseelenallein. Und blieben es in einem Winkel ihres Seins, selbst wenn sie noch so vielen Menschen in ihren Leben nahekamen.

Auch deswegen möchten sie bis heute nicht gern allein sein mit diesem Gestern. Und so vereint sie ihr Erinnern an diesem Jahrestag, es gibt ihnen Halt im schwächsten Moment. Im Jahr 2022 treffen sich nicht nur die Kinder der Toten, sondern auch ein paar ihrer Enkel, Neffen und Nichten, sie alle sind in diesem Kreis willkommen. Sie machen sich auf, um den letzten Weg ihrer Väter und Verwandten auf dieser Erde noch einmal nachzugehen, alle zusammen, bis zu dessen Ende.

Aus ganz Deutschland reisen sie dafür nach Berlin. Und wie immer haben sie sich kurz vor dem Zeitpunkt der Hinrichtung verabredet vor dem Verschlag, der von außen wie ein Stall anmutet. Wenn dann die Zeit des Sterbens wiederkehrt, um 16 Uhr, betreten sie ihn. Eine Stunde, die allem ein Ende bereiten sollte, so glaubten die Mörder. Aber diese Stunde dauert an in ihnen.

Diesmal scheint es zudem, als hätte sich der Himmel über der Stadt entschlossen, es ihnen gerade jetzt noch etwas schwerer zu machen. Er lässt die Menschen nun auch noch in seinem Regen stehen. Und er lässt sie frieren. Nicht, weil es schon so kalt wäre in diesem Spätsommer 2022, sondern weil die Trauer in ihnen zurückkehrt.

Dabei kommen die »Kinder« doch hierher, um sich gegenseitig zu ermutigen. Dass sie leben. Dass sie überlebt haben und damit auch etwas von ihren Liebsten. Und dass ihre Väter und Verwandten ihr Leben nicht vergeblich gelassen haben an diesem Ort. Dass etwas von ihnen überlebt hat für die Welt danach.

Wird es auch diesmal gelingen?

Wenn sie sich wiedersehen, umarmen sich die Menschen stumm oder grüßen sich ganz leise. Dann gehen sie zusammen erst einmal am sogenannten Hinrichtungsschuppen vorbei und betreten den Gedenkraum nebenan, der versucht, das, was geschah, zu dokumentieren. Für jeden »Vorgang« gibt es ein ordentliches deutsches Dokument, das dort ausgestellt ist.

Ich darf an diesem 8. September 2022 dabei sein, weil mich einige der »Kinder« eingeladen haben, sie zu begleiten. An diesem Tag und an vielen weiteren.

Ihre Väter und Verwandten waren zu diesem »Vorgang« bereit, weil sie Hitler ein Ende bereiten wollten. Und die Kinder, die ganz anders als ihre Vorfahren ein ganzes Leben gelebt haben, geraten aus der Zeit. In diesem Augenblick setzt sie aus, rast zurück, und die Erwachsenen sind wieder jung und verlassen und sehr traurig. Aber sie sind auch denen wieder nahe, die sie ihr Leben lang vermissten.

Der Preis, den sie dafür zahlen, ist ihre Traurigkeit, die an diesem Tag ausbricht wie damals. Doch auch die werden sie noch an diesem Tag überwinden, so wie damals. Als die Nazis die meisten von ihnen ihren Eltern entrissen, verschleppt und in Heime gesteckt hatten – auf dass sie ganz ohne Eltern aufwachsen. Das Ende des Krieges brachte sie aber wieder zusammen, wenigstens mit ihren Müttern.

Deswegen machen sich ein paar von ihnen immer wieder auf den Weg hin zur Gedenkstätte, in der die Nazis mehr als 200 Menschen des 20. Juli 1944 über mehrere Monate hinweg umbrachten. Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Werner von Haeften, Albrecht Ritter Mertz von Quirnheim und Friedrich Olbricht erschossen sie zuvor per Standgericht bereits im Allgemeinen Heeresamt, dem Bendlerblock in Berlin-Tiergarten. Und auch General Ludwig Beck ermordeten sie dort, nachdem dieser dabei gescheitert war, sich selbst zu richten.

An diesem 8. September begegnen sich in Plötzensee die Kinder und Angehörigen jener Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer des 20. Juli, die am 8. September 1944 umgebracht wurden: Ulrich-Wilhelm Graf von Schwerin von Schwanenfeld, Günther Smend, Ulrich von Hassell, Josef Wirmer, Georg Alexander Hansen, Paul Lejeune-Jung und auch eine Nichte der Widerstandskämpferin Elisabeth von Thadden, die der Bekennenden Kirche und dem Kreis um Hanna Solf angehörte, die an diesem Tag hier unter einem Fallbeil starb.

Irgendwann fängt eines von diesen »Kindern«, es ist Axel Smend, leise an zu beten, und die anderen stimmen ein. Die ersten Worte des Vaterunsers brechen das Schweigen, das sie übermannte und in dem sie zuvor lange aushielten. Dann legt jemand von ihnen rote und weiße Rosen auf den Boden. Rosen und Karten mit den Namen. Vielleicht genau an jene Stellen, über denen ihre Lieben starben.

Immer dann, wenn die Trauer am größten ist, stimmt einer von ihnen ein Lied an. Axel Smend ist auch nun der Initiator. Er ist der Ehrenvorsitzende des Kuratoriums der Stiftung 20. Juli 1944 und hat seinen Vater hier verloren, als er ganz klein war. Er ist es auch, der alle hier zusammenführt. Und mit ihm beginnen die anderen »Kinder« leise zu singen.

Es ist ein Lied über Gott und das Gefühl, dass er Menschen tragen und schweben lassen kann. Selbst an diesem Ort. Die »Kinder« summen es nun leise: »Lobet den Herren, den mächtigen König der Ehren«. Sie singen von einem Vater, der sie auf »Adelers Fittichen sicher geführet«. Der sie »erhält, wie es dir selber gefällt; hast Du nicht dieses verspüret«.

Die Augen der Angehörigen, die in dem Schuppen stehen, richten sich nun in die Luft, nach oben zu den Haken und dann unter die Haken. Die Augen stellen sich vor, was sich damals unter ihnen ereignete. Immer noch malen sie es sich aus, viel zu sehr. Zumindest eine Zeit lang halten sich die Blicke der Besucher fest am Stahl, der von der Zeit und vom Rost überzogen ist. Dann aber lassen die Blicke los. Ein bisschen ist es so, wenn man ins Träumen gerät. Denn Träumen hilft gegen die Grausamkeit des genauen Hinschauens.

Und wie sich die Augen der »Kinder« nun weiten, so holen sie nun auch wieder Luft. Jene, denen es gerade noch den Atem genommen hat an diesem Ort.

In die Stille mischt sich nach einiger Zeit wieder ein Räuspern, manchmal ein Schlucken. Ein leises Weinen. Und auch das Erstarren beginnt sich langsam zu lösen. Manche falten ihre Hände, bei anderen hebt und senkt sich die Brust.

Die Luft im Plötzenseer Hinrichtungsraum trägt den Geruch der klammen Backsteine in sich und jenen vom Regen, der auf die Kieswege und den Rasen rings um den Block fällt. Die offene Eingangstür lässt das Wetter herein. Und sogar etwas vom Geräusch der Tropfen.

Die Tür zum Hinrichtungsraum steht jeden Tag weit offen, das macht es fast leichter, diesen Raum zu betreten, denn er soll ja einladend sein für alle Besucher. Nicht auszudenken, wie es wohl wäre, wenn man in den Schuppen ginge und die Pforte hinter einem ins Schloss fallen würde.

Stille zieht wieder auf und doch dringt ein entlegenes Stimmengewirr näher und näher in Richtung des Gebäudes. Eine Schulklasse steigt vor der Gedenkstätte aus einem Bus und macht sich auf den Weg.

Jeder Schritt von uns auf dem Betonboden knirscht und hallt, weil außer den Stahlträgern an der Decke nichts an diesem Ort ist, das ein Geräusch aufhalten könnte. Und so beginnt auch irgendwann jeder Atemzug zu tönen.

Nicht weit entfernt steht die Gedenkkirche Maria Regina Martyrium. Dieses Gotteshaus, das in den 1960er-Jahren errichtet wurde, um an die Opfer von Plötzensee zu erinnern. Dort werden sich ein paar der »Kinder« gleich noch bei Tee und Plätzchen mit den Schwestern treffen, die im Kloster leben. Und die für die Erinnerung einstehen, jeden Tag. Denn das tröstet sie immer.

»Wir Kinder des 20. Juli« – schon der Titel des Buches deutet an, wie uns die Menschen in diesen Kapiteln bisher vor allem bekannt sind: erst einmal in...

Erscheint lt. Verlag 15.5.2024
Zusatzinfo mit Bildteil und Fotos im Buch
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte 2024 • 20. Juli 1944 • Attentat auf Adolf Hitler • Biografie • Biographien • Bonhoeffer • Drittes Reich • eBooks • graf schwerin von schwanenfeld • helmtrud von hagen • helmuth caspar graf von moltke • Klaus von Dohnanyi • Nationalsozialismus • Neuerscheinung • Sippenhaft • Stauffenberg • Verschwörung
ISBN-10 3-641-31704-5 / 3641317045
ISBN-13 978-3-641-31704-1 / 9783641317041
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