Sonnenwende (eBook)
336 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-31726-3 (ISBN)
25 Jahre nach dem Verschwinden von Rebecca Maywald in Riga ist ihre Tochter durch einen anonymen Brief auf die Diplomatenfamilie von Prokhoff aufmerksam geworden. Deren Stiftung »Drei Linden« finanziert dubiose Ökodörfer in ganz Europa. Dass Rebeccas Tochter sich in den Sohn der Familie verliebt, war nicht vorgesehen - um keinen Preis darf er ihre wahre Identität erfahren. Und auch er verbirgt etwas vor ihr: Was hat es mit seinen nächtlichen Alpträumen auf sich? Wer ist 'J' in seinem Kalender? Ein weiterer Hinweis führt sie nach Lettland. Angeblich will sie sich das Ökodorf »Tris Liepas« anschauen. In Wahrheit aber muss sie endlich Klarheit gewinnen über das Schicksal ihrer Mutter. Doch die von Prokhoffs setzen alles daran, ein dunkles Geheimnis zu bewahren. Die grandiose Fortsetzung des Erfolgsromans »Kaiserwald« von SPIEGEL-Bestsellerautorin Anja Jonuleit
Anja Jonuleit, 1965 in Bonn geboren und am Bodensee aufgewachsen, arbeitete einige Jahre für die Deutsche Botschaft in Rom. Nach einer Abordnung an die Botschaft Damaskus studierte sie am Sprachen- und Dolmetscherinstitut in München Italienisch und Englisch. Zurück am Bodensee machte sie sich als Übersetzerin und Gerichtsdolmetscherin selbstständig, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Ihre seit 2007 erscheinenden Romane erreichen eine große Leserschaft und stehen regelmäßig auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Behutsam und kenntnisreich nimmt sie sich der großen Stoffe unserer Zeit an. Sie erzählt von dysfunktionalen Familien und Beziehungen, von lebensfeindlichen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und von Bedrohungen, in denen es schwer ist, sich selbst und andere zu beschützen. Ihren Romanen - darunter »Herbstvergessene«, »Der Apfelsammler«, »Rabenfrauen« und »Das letzte Bild« - folgt mit ihrer Dilogie »Kaiserwald« (Frühjahr 2024) und »Sonnenwende« (Herbst 2024) ein breit angelegtes Familiendrama.
1.
Ich weiß, was du getan hast. Geh zur Polizei. Sonst muss ich es tun. Das war die SMS von gestern Nacht. Er drückte auf die Taste und steckte das Smartphone zurück in die Tasche seiner Barbourjacke. Den Espresso vor sich auf dem Bistrotisch hatte er noch nicht angerührt. Der Gedanke an den Geschmack verursachte ihm Übelkeit. Er hatte ihn sowieso nur bestellt, weil er irgendetwas hatte bestellen müssen, während er auf sie wartete. Und derweil brannten die Worte ein Loch in sein Gehirn.
An dem hohen Sideboard hinten an der Wand saßen zwei Teenagermädchen in bauchfreien Strickpullovern und kicherten. Sie hatten ihre MacBooks vor sich auf dem Tisch stehen und schienen irgendetwas für die Schule machen zu wollen. Er bemerkte die Blicke, die sie ihm immer wieder zuwarfen, und fragte sich, ob sie über ihn lachten – oder nur seine Aufmerksamkeit erregen wollten.
Der Fenstertisch war gerade frei geworden, als er kam. Er nahm dort Platz und behielt so den Bürgersteig im Auge. Von hier würde er sie kommen sehen. Er würde jeden kommen sehen. Er selbst aber war halb verdeckt von der Säule mit der Tannengirlande, sodass man ihn von außen erst spät erblicken würde und er auf diese Weise die Gelegenheit hätte, schnell dahinter zu verschwinden. Ihm war klar, dass es leichtsinnig war, ohne Bodyguard unterwegs zu sein. Aber er konnte Brammer bei diesem Treffen nicht gebrauchen. Nicht einmal Brammer. Tatsächlich war es das erste Mal seit Jahren, dass er tagsüber ein Café betreten hatte. Für so etwas hatte er schon lange keine Zeit mehr.
Die Tür ging auf, und ein schwarz gekleideter Typ mit breiten Schultern kam mit großen Schritten in seine Richtung. Er spürte, wie sein Körper in Habachtstellung ging und sein Herz zu rasen begann. Und als sei es gestern gewesen, sah er den Mann mit dem Messer wieder vor sich, wie er aus dem Nebel direkt auf ihn zugerannt war. Seine Hand schoss in die Tasche seiner Wachsjacke, umschloss die Walther PPK, die Brammer ihm besorgt hatte, und umklammerte den Griff der Waffe. Doch dann hörte er die Mädchen gicksen. Eine von ihnen sprang auf und fiel dem Typ um den Hals, sodass ihr viel zu kurzes Oberteil hochrutschte und man ihren pinken BH sah. »Iiiiih, bist du nass!«, kreischte sie, als der Typ seine regennassen Haare in ihre Richtung ausschüttelte.
Sein Herz hämmerte weiter, als er die Hand schon längst wieder aus der Tasche gezogen hatte. Und da stand mit einem Mal Jo vor ihm. Nun hatte er sie doch nicht kommen sehen. Sie sah dramatisch aus, ganz in Schwarz, dramatisch und wie immer so schön, dass es ihm im ersten Moment den Atem verschlug, trotz all der dunklen Jahre und all der Wunden, die sie ihm geschlagen hatte. Die sie sich gegenseitig geschlagen hatten. Im Augenwinkel bemerkte er, dass die Teenager und der Typ vom Nebentisch verstummt waren und zu ihr herübersahen. Natürlich erkannten sie sie. Jo lächelte zu ihm herunter, und ihm war klar, dass sie um ihre Wirkung wusste und dass sie ihren Look mit Regenschirm und Accessoires und dem Make-up, das aussah, als sei sie ungeschminkt, bis ins kleinste Detail ausgearbeitet hatte.
Eines der beiden Mädchen trat näher. Es hatte ihr Smartphone in der Hand. Natürlich.
»Oh mein Gott! Joooo?« Ihre Stimme war mehr ein Quietschen, als sie den Wunsch mit dem Selfie vorbrachte.
Wie immer in diesen Situationen reagierte Jo souverän und so warmherzig, als lägen die beiden Mädchen ihr am Herzen. Falk rückte ein wenig mehr in die Ecke, drückte sich ganz an die Wand, er durfte auf keinen Fall im Hintergrund dieser Fotos auftauchen. Als Jo dann ebenfalls ein Selfie von sich und den beiden hübschen Mädchen machte, um diesen Fanmoment festzuhalten, spürte er, wie seine Hände sich zu Fäusten ballten. Die Erinnerung an die Jahre mit ihr steckte ihm so tief in den Knochen, dass der kleinste Reiz seine Gefühle wieder hochkochen ließ. Er hätte es besser wissen müssen. Er hätte sich woanders mit ihr treffen sollen. Das Gespräch, das er mit ihr zu führen hatte, brauchte weiß Gott keine Zuschauer.
Mit einem kleinen Seufzer schlüpfte Jo aus ihrem übergroßen Mantel, griff nach ihrem Regenschirm, den sie für das Selfie abgestellt hatte, durchmaß das ganze Café mit ihrem Laufsteg-Gang, um Mantel und Schirm an der Garderobe loszuwerden. Sie kehrte zurück und ließ sich ihm gegenüber auf dem grün gepolsterten Samtstuhl nieder. Trotz des regnerischen Wintertages trug Jo eine riesige schwarze Hollywood-Sonnenbrille, die auf dem vermeintlich nachlässig aufgetürmten blonden Haar steckte. Auch ihre restlichen Klamotten – der enge Rolli, die schmale Hose – waren schwarz. Das einzig Nichtschwarze an ihr war die Perlenkette ihrer Großmutter um ihren schlanken Hals. Einmal hatte sie ihm unter Tränen erzählt, dass sie diese Kette immer dann trug, wenn sie die ganze positive Erb-Energie ihrer siebenhundert Jahre alten Ahnen benötigte. Vielleicht traf das ja wirklich zu. Vielleicht aber spielte sie an diesem Tag auch nur wieder eine Rolle, möglicherweise die Holly Golightly aus Frühstück bei Tiffany. Und da sie wusste, dass er das mit der Erb-Energie wusste, vermutete er eher, dass die Kette ihre Rolle unterstreichen sollte.
Die Kellnerin kam, und Falk sandte ein Stoßgebet zum Himmel, dass sie offenbar kein Instagram nutzte. Nachdem Jo einen Masala Chai bestellt hatte, saß sie ihm gegenüber und rang nervös die schmalen weißen Hände, die sie vor sich auf den Tisch gelegt hatte und an denen, er glaubte es kaum, der Ring prangte, den er ihr zu ihrem zehnjährigen Jubiläum geschenkt hatte. Als sie sich das erste Mal verlobt hatten. Sein Magen zog sich zusammen. Sie würde doch wohl nicht glauben, er habe die Absicht, eine Neuauflage ihrer kranken Beziehung zu starten?
Und so kam er sofort zur Sache und schob ihr das Smartphone über den Tisch, wobei er sie keine Sekunde aus den Augen ließ.
Ich weiß, was du getan hast. Geh zur Polizei. Sonst werde ich es tun.
Er sah, wie ihr Blick den Bildschirm abtastete. Wie sie die Brauen zusammenzog und ihn dann ansah, in einer Mischung aus Irritation und Ratlosigkeit.
»Was ist das? Warum zeigst du mir das?«
»Ist die Nachricht von dir?«
Sie wich zurück, als hätte er sie geohrfeigt.
»Hast du mich deshalb angerufen?« Ihre Stimme zitterte wie ihre Lippen. Und wie auf Knopfdruck füllten sich ihre Augen mit Tränen. »Dass du mir so etwas zutraust …«
Er presste die Lippen zusammen. Er traute ihr noch ganz andere Dinge zu. Aber das würde er jetzt nicht thematisieren.
»Du hast mir schon einmal gedroht.« Er dachte an ihren Überraschungsbesuch im letzten Herbst, kurz bevor er mit Mathilda im Park joggen und der Mann mit dem Messer auf ihn losgegangen war. Zuerst war sie ganz sanft gewesen, hatte versucht, ihn zu umgarnen. Und als er nicht darauf einging, war sie ausgerastet und hatte die Drohung mit den Fotos aus der Kiste geholt.
Sie riss die Augen auf, und eine einzelne Träne kullerte ihre Wange hinunter. Sie wischte sie nicht weg.
»Wann soll das gewesen sein?«
»Ich glaube, das weißt du genauso gut wie ich.«
Sie atmete tief ein und hörbar zittrig wieder aus. Ihre Stimme war sehr leise, als sie nun sagte: »Ich war verzweifelt.«
Die Kellnerin kam, stellte den Chai auf den Tisch und verzog sich diskret. Falk bemerkte, dass die Teenager immer wieder zu ihnen herübersahen. Er konnte nur hoffen, dass diese Szene hier nicht doch irgendwie im Internet landen würde.
Er beugte sich vor, deutete auf die SMS und sagte eindringlich: »Ich muss es wissen. Ob du das warst.«
Eine zweite Träne lief Jo übers Gesicht. Und obwohl er sie so gut kannte, obwohl er all das tausendfach erlebt hatte, ihre Auftritte in allen Schattierungen kannte, sie still weinend oder dramatisch schluchzend oder schweigsam vor Schmerz und dem Zusammenbruch nahe, war er sich in diesem Moment doch wieder unsicher, ob sie nicht wirklich litt.
Plötzlich flüsterte sie, und ihr zarter, blasser Mund bebte.
»Ich hab die Hölle durchgemacht wegen dir, weißt du das? Und trotzdem dachte ich, das Herz bleibt mir stehen, als ich gestern deinen Namen auf dem Display sah.«
Er wusste nicht, was er erwidern sollte, sah sie nur an, ihr betörend schönes Gesicht, diese strahlend blauen Augen, die jetzt von Tränen glänzten.
»Warum hast du mir das angetan?«
Er holte tief Luft. Das hätte er sich ja denken können. Dass es ihr gelingen würde, auch dieses Gespräch in eine ganz falsche Richtung zu drehen. So war sie. Schon immer gewesen. Es kostete ihn seine ganze Selbstbeherrschung, als er nun sagte:
»Das mit uns hätte niemals funktioniert. Es hat nicht funktioniert. Du weißt das so gut wie ich.«
Sie schlug die Augen nieder. »Ich hasse dich«, stieß sie hervor. »Und ich liebe dich. Ist das nicht armselig?«
Als Falk vor dem ROD-Tower ankam, bemerkte er, dass er die Hände zu Fäusten ballte. Immer noch. Es war ein Fehler gewesen, sie anzurufen. Er war nun genauso schlau wie vorher. Er wusste doch, dass Jo eine hervorragende Schauspielerin war, die jede Bühne, die sich ihr bot, für ihre Ziele nutzte. Und eines dieser Ziele schien momentan tatsächlich zu sein, ihn wieder herumzukriegen. Aus dem einzigen Grund, weil er nicht mehr zu haben war.
Er betrat das Foyer, wischte sich die Regentropfen aus den Haaren und nickte den beiden Empfangsdamen zu. Vor dem Privataufzug legte er den Daumen auf den Fingerprint-Türöffner. Während der Lift sich lautlos in Bewegung setzte, um in die Führungsetage der ROD Immobilien zu fahren,...
Erscheint lt. Verlag | 23.10.2024 |
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Reihe/Serie | Die Kaiserwald-Reihe | Die Kaiserwald-Reihe |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
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ISBN-10 | 3-641-31726-6 / 3641317266 |
ISBN-13 | 978-3-641-31726-3 / 9783641317263 |
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