Silence (eBook)
176 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-02002-3 (ISBN)
Albrecht Selge, geboren 1975 in Heidelberg, studierte Germanistik und Philosophie in Berlin und Wien. Sein begeistert aufgenommenes Debüt «Wach» (2011) wurde für den Alfred-Döblin-Preis nominiert und mit dem Klaus-Michael-Kühne-Preis des Harbour Front Literaturfestivals Hamburg ausgezeichnet. Die folgenden Romane «Die trunkene Fahrt» (2016), «Fliegen» (2019) und «Beethovn» (2020) wurden nicht weniger gelobt. 2022 erschien sein Jugendroman «Luyánta - Das Jahr in der Unselben Welt». Albrecht Selge lebt als freier Autor und Musikkritiker mit seiner Familie in Berlin.
Albrecht Selge, geboren 1975 in Heidelberg, studierte Germanistik und Philosophie in Berlin und Wien. Sein begeistert aufgenommenes Debüt «Wach» (2011) wurde für den Alfred-Döblin-Preis nominiert und mit dem Klaus-Michael-Kühne-Preis des Harbour Front Literaturfestivals Hamburg ausgezeichnet. Die folgenden Romane «Die trunkene Fahrt» (2016), «Fliegen» (2019) und «Beethovn» (2020) wurden nicht weniger gelobt. 2022 erschien sein Jugendroman «Luyánta – Das Jahr in der Unselben Welt». Albrecht Selge lebt als freier Autor und Musikkritiker mit seiner Familie in Berlin.
Der Karthager
Ich saß nachts im Wald, da hatte ich eine konfuse Vision. Vom Tag verbrannt, jedenfalls in der Höhe zu viel Sonne abbekommen, obwohl L mich noch gewarnt hatte (ich höre immer zu wenig auf sie), wir hatten, während die Kinder mit ihrer Tante ins Freibad gefahren waren, zu zweit eine Bergtour gemacht, und unsere Blicke waren über die atemberaubende Schönheit von Bergen und Tälern geschweift und immer wieder auch über Hänge voll abgestorbener Fichten, getötet vom Borkenkäfer, die Baumkadaver standen wie ein Schattenkriegerheer von Giacometti, gespenstischer Anblick. Dafür war dort oben außer viel Sonne auch jede Menge Ruhe gewesen, nur einzelne Vögel und fernes Brummen von Bienen oder Flugzeugen, sacht rauschende Stille, in der das Vorbeiflirren einer Fliege zum Ereignis wird. Jetzt schliefen die müdegeschwommenen, schlappgetobten Kinder bereits im Hotel (oder sie daddelten noch auf ihren Handys, wer weiß), um mich aber war ringsum Dunkelheit. Stockfinsternis, nur über den ahnbaren Wipfeln die Sterne. Wir sahen sie, weil wir auf einer schwarzen Lichtung saßen, L und ich mit zwei Freunden, in einem Rondell aus Steinen. Es war fast still, kein Tier zu hören, nur das eigene Atmen und gelegentlich ein Hauch Sommernachtwind, und etwas unter uns plätscherte leise der unsichtbare Gebirgsbach, an dem entlang wir vom Gasthaus hierherauf gelaufen waren. Man hätte die Welt für heil halten können. Die Taschenlampen auf unseren Mobiltelefonen, mit denen wir uns den Pfad durch den Wald beleuchtet hatten, waren lang wieder ausgeschaltet. Niemand sprach. Mir war, als flöge ein schwarzer Falter im Gebüsch, lautlos. Und auf einmal fühlte ich mich merkwürdig verbunden mit einem mir unbekannten Menschen, der irgendwann genau hier gesessen hatte. Nicht im Steinrondell, natürlich, nicht auf dieser Lichtung an diesem Pfad, die es beide damals nicht gegeben hatte, sondern einfach in diesem Wald (der ebenfalls ganz anders gewesen sein wird, vor langer Zeit – das war egal).
Naheliegend war natürlich ein Bauer oder ein Knecht. Aber ich dachte an einen römischen oder, besser noch, einen karthagischen Soldaten, der mit Hannibals Heer die Alpen überquert hatte (wenn auch gewiss nicht über den Brenner – auch das war egal). Der Karthager hatte hier gesessen, oder gehockt, umgeben von wildfremder Ferne. Darüber war ich in diesem Moment vollkommen sicher. Es gab gar keinen Zweifel. Der Wald war geheimnisvoller und gleichgültiger als der heutige, vielleicht war auch das Lagern des Karthagers hier ohne ein Feuer nicht denkbar. Es gab ja Wölfe, Bären, Ungeheuer. War er auf Posten, auf Kundschaft? Oder versprengt, abgehauen, gar ein entlaufener Sklave? Auch das egal. Ich bin der Wiedergänger oder Wiedersitzer dieses Karthagers, des anderen Schattenkriegers. Was ist damals wohl in seinem Kopf herumgegangen? Ob er spürte, in ebendiesem Moment, dass ich – jemand – da sein würde, irgendwann in der fernen Zukunft? Einer, der an ihn denken wird, genau an ihn?
Gemeinsam hören wir ins All, ins Nichts.
Was um alles in der Welt machen wir hier?
Ich wusste schon, ein vernünftiger Mensch würde allerlei Einwände erheben, vielleicht: dass der Karthager, der vermutlich überhaupt kein «Karthager» war, sondern ein Söldner Hannibals von Gott weiß woher, Numider oder Iberer oder Kelte, sich mehr oder weniger geborgen gewusst habe in einer mythisch geordneten Welt, zumindest eingeordnet in ihr, dergleichen halt. Die Sterne waren bekanntlich für einen Menschen der Antike etwas vollkommen anderes als für einen heutigen Menschen. Ist das so? Und wenn schon. In meiner konfusen Vision sitzt der Karthager einfach ratlos da, wie ich, ein verlorener Tropf. Im Gebüsch derselbe lautlose schwarze Falter. – Dann riss das nächtliche Taldurchdröhnen eines Motorrads mich aus dieser Verbindung. Selbst um diese Uhrzeit? Die Motorisierung ist die Pest des Alpenraums in der Sommerzeit (eigentlich auch in der Winterzeit und überhaupt nicht nur des Alpenraums). Der Falter war fort. Und ich fragte mich, was wohl der Karthager, dessen Knochen irgendwo hier in den Bergen liegen mögen, sein Tod war vermutlich ein qualvoller Graus, wie der eines in freier Wildbahn erbeuteten Tiers: was der von unserer eigenartigen Zeit dächte, der Schattenzeit weit nach ihm.
Das Kind hockte im Schneidersitz in seiner Kammer, die sich in der Luft befindet, nur manchmal durchbrach es die ewige Dunkelheit der Kammer mit seiner Taschenlampe, deren Licht über die mysteriösen Wände wanderte. Lang blieb das Kind dort oben sitzen, so lang, bis die Zeit es verloren hat.
Die Geräusche der Vögel gehören für mich quasi zur Stille. Das fiel mir bei einem Spaziergang durch den Tiergarten auf. Und auch, dass ich das Wort «Singen» nicht mag, das der Mensch taktlos den Singvögeln überzustülpen versucht. Auch all die lyrischen Verben scheinen mir verkehrt, mit denen er die Geräusche der Vögel nachdichten will: zwitschern, tschilpen, tirilieren oder trillern und piepen. Meine Gedanken streiften Olivier Messiaens Vogelstimmenkompositionen, die ich immer fürchterlich anstrengend fand, kaum je hat sich mir ihr Reiz oder gar Zauber erschlossen, und streiften die Birdnet-App zur Vogelbestimmung, streiften den lustigen Familiennamen Kleiber der großen Dirigenten Erich und Carlos.
Eilig überholte ich einen Lastkahn, der langsam auf der Spree fuhr, als triebe er bloß stromab. (Aber wo ist bei der Spree schon stromab und wo stromauf? Sie scheint beinah zu stehen, und im Süden, Richtung Spreewald, so war einmal in der Zeitung zu lesen, fließe sie bisweilen sogar rückwärts.) Bald hatte ich den Lärm und auch das beißende Stinken des lästigen Kahns, das Halskratzen und Augenjucken verursacht, in meinem Rücken, wie eine durchquerte Wand. Zuerst war ich erleichtert. Dann fiel mir ein, dass es in einem Roman von Terry Pratchett der TOD ist, der durch Wände gehen kann, und dass sein junger Helfer daran, dass er unversehens eine Wand durchquert hat, erkennt, dass er selbst zum TOD wird.
Der großglasige Berliner Hauptbahnhof in einiger Entfernung, die Backsteinmauern zu meiner Rechten über einem Grashang: das Einzige, was fest ist auf dieser weitläufigen und unsicheren Welt. All das Lockere aber, all das Lose dazwischen muss sich vorsehen, damit es nicht von der Erdkugel fällt, auch ich, den Riemen der leichten Reisetasche über der Schulter.
Da näherte sich ein Krach in meinem Rücken. Gleichzeitig rollte mir von vorn ein wuschelköpfiges Kind entgegen, es saß mit angewinkelten Knien im von der Mutter geschobenen Buggy und presste sich die Ohren zu. Auch seine Ellenbogen standen spitz ab, wie die Knie, fast verärgert wirkte das wuschlig-spitze Kind über diesen auf es zukommenden Krach, ja empört. Die Mutter ihrerseits schien ein wenig zu beschleunigen, wohl um ihr Kind möglichst schnell daran vorbeizuschieben (und damit zufällig auch an mir).
Das BSR-Reinigungsmobil auf der Fahrbahn, das diesen Krach machte, kam heran, schon war es laut saugend und brausend auf meiner Höhe, ein putziges Kastenauto, dem man so ein Inferno gar nicht zugetraut hätte. Das Kind hatte ganz recht, seine Hände auf die Ohren zu pressen und empört zu sein. Tut man das als Erwachsener, wirkt man gleich wie ein Nervenbündel, bedauernswertes Psychowrack, geschlossne Abteilung in Sicht. Noch ehe das Kind und ich uns auf gleicher Höhe befanden, bog ich also rechts ab, ein fliehender Esel, leider nicht Tauber im Gras, den Minihang hinauf und durch ein Tor in der Backsteinmauer. Dahinter liegt ein Park, der einmal ein Gefängnis war, erst preußisches Zuchthaus, später Folter- und Mordstätte der Nazis. Nach dem Krieg hatte man darüber hinweg jahrzehntelang eine Autobahn geplant, in den unermüdlichen Bemühungen, unsere Städte in Vorhöllen zu verwandeln. Zum Glück wurde diese Autobahn hier niemals gebaut, aber das in den letzten Jahren neu entstandene Viertel um den Berliner Hauptbahnhof ist trotzdem eine elende Automobilgrotte geworden. (Ich muss nur ein wenig aufpassen, was und wie ich wahrnehme und denke und sage, ich bin ständig von Autos derart genervt, dass bei diesem Thema in meiner Familie schon alle die Ohren verdrehen, gleichsam als wäre ich ein Auto und sie wären ich.) – Die Gefängnismauer um den Park ist immer noch hoch. Aber auch über sie hinweg war der Krach des Putzautos zu hören, leiser als draußen natürlich, dennoch unangenehm laut und bald, paradoxerweise, sogar deutlicher als zuvor: Denn nun lärmte es nicht mehr mit und in dem sonstigen Autoverkehrsrauschen, sondern darüber hinweg im Park. Einem eigentlich ganz hübschen Park, wenn auch etwas überkonzeptioniert und nun schon einigermaßen heruntergekommen. Denn hier lagern ja nicht nur die mannigfaltigen Gedenk- und Bauverweise auf die Vergangenheit (angedeutete Zellen, nachgebildete Hofgangwege und so weiter), sondern auch jede Nacht Menschen mit ihrer Notdurft. Obdachlose, wie es mit einem dieser Wörter heißt, die wie Kapseln sind, weil nur in ihnen ein sonst kaum mehr gebräuchlicher Begriff überdauert: Obdach. Was vielleicht tatsächlich zu metaphorisch klingt, metaphysisch gar, weshalb heute stattdessen aus gutem Grund von Wohnungslosen gesprochen wird, metafrei nackt physisch und phorisch; ein bisschen schade ist es trotzdem um das Wort, wie um die Lehrlinge, die in den nüchternen Auszubildenden oder Azubis verschwunden sind, oder die von den administrativen Kindertagesstätten oder Kitas verdrängten wundersam-blühenden Kindergärten. (Aber natürlich sind das alles Nebenempfindlichkeiten und Kleinsttraurigkeiten im Vergleich mit...
Erscheint lt. Verlag | 13.2.2024 |
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Zusatzinfo | Mit 1 s/w-Abb. |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Alter • Anfang • Angst vor dem Tod • Anspruchsvolle Literatur • Autofiktion • Autofiktionaler Roman • Berlin • bücher literatur • Bücher Neuerscheinungen 2024 • Bücher zum nachdenken • Das Liebespaar des Jahrhunderts • Deutsche Literatur • Deutsche Romane • Ende • Endlichkeit • Erwachsene Kinder • Familienroman • Gegenwartsliteratur • John Cage • Julia Schoch • Klassische Musik • Lebensfragen • Lebensmitte • Lukas Bärfuss • Midlife-Crisis • Moderne Literatur • Moderner Roman • Musik • Oper • Paarbeziehung • romane neuerscheinungen 2024 • Schweigen • Silence • Stille • Suche nach Stille • Tod • Tod des Vaters • Trost in der Musik • Vergänglichkeit • Verlust des Vaters • Zeitgenössische Literatur |
ISBN-10 | 3-644-02002-7 / 3644020027 |
ISBN-13 | 978-3-644-02002-3 / 9783644020023 |
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