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Den Wind in den Haaren (eBook)

Auf den Spuren freiheitsliebender Frauen

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024
384 Seiten
btb Verlag
978-3-641-25413-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Den Wind in den Haaren - Annabel Abbs
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In diesem inspirierenden Buch stellt Annabel Abbs Künstlerinnen vor, die ein tiefes Bedürfnis nach Freiheit und Unabhängigkeit hatten. Und sie geht der Frage nach, warum das Unterwegssein in der Natur gerade für Frauen so beglückend ist.

Sie eroberten sich eine Freiheit, die bislang Männer vorbehalten war. Sie besaßen den Mut, einsame Landschaften zu durchwandern. Sie gingen allein zu Fuß, um ihre Unabhängigkeit zu behaupten. Simone de Beauvoir war als junge Frau stundenlang auf den einsamen Küstenwegen bei Marseille unterwegs. Die Malerin Georgia O'Keeffe durchschritt mit ihrem Skizzenbuch die schier endlose Ebene bei Amarillo. Die schottische Schriftstellerin Nan Shepherd lief barfuß und oft bei Nacht durch die Cairngorm Mountains und nahm die Schönheit der Natur mit allen Sinnen auf.

Annabel Abbs ist Schriftstellerin und Journalistin. Nach einem Unfall entdeckt sie ihre Liebe zu langen Wanderungen in der einsamen Natur wieder. Annabel Abbs wurde für ihre historischen Frauenstoffe bereits mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. Die Romanbiografie »Frieda«, in der sie das spektakuläre Leben der Frieda von Richthofen nachzeichnet, war u.a. »Times Book of the Year«. Annabel Abbs lebt mit ihrer Familie in London und Sussex.

EINLEITUNG:
WO SIND DIE FRAUEN?


»Endlich fühlte ich mich wirklich frei.«

Mathilda Blind (1841–1896), unveröffentlichte private Notiz über eine Wanderung allein in den Alpen, 1860

Ich wandere über einen grünen Hügel, folge meinem Schatten, der lang und blau und unscharf ist. Zu meiner Rechten der Ozean, der im Sonnenlicht glitzert. Zu meiner Linken, bis ins Tal hinunter, von Hecken eingefasste Vierecke in Senf- und Safrangelb und Rotbraun. Der Wind zerzaust mir die Haare und zupft an meinen Schattenbeinen, die im hohen Gras unwirklich lang sind. Meine Gedanken kreisen, versuchen, die Landschaft einzuordnen. Wo bin ich?

Dann ist das Bild weg, und ich bin woanders, kauere an einer Felswand. Der Himmel über mir ist schwarz und zerfranst. Ein riesiger orangefarbener Mond faulenzt in der Dunkelheit. Jemand packt mich an der Hand, zieht mich hoch. Ich stehe auf und gehe über einen steinigen, in Mondlicht getauchten Pfad. Ich spüre einen Stein unter meiner Schuhsohle, er bohrt sich in meine Blasen. Immer noch hat mein Gehirn große Mühe zu begreifen, wo sich mein losgelöster Körper befindet. Wo bin ich?

Stundenlang gleite ich von einer Wildnis in die nächste: von grellem Licht in tiefe Finsternis, aus feuchter Schwüle in eisige Kälte, aus Eichenwäldern in sandige Moore in das hohe, reife Gras von … Wo genau bin ich? Geräusche erreichen mich: das Knirschen von Kies unter meinen Füßen, das Seufzen von Pappeln im Wind, das dumpfe Krachen, das entsteht, wenn Schafszähne Gras rupfen, das Krächzen von Krähen, der Gesang einer Drossel. Ich halte mich an den Geräuschen fest, speichere sie in meinen Gehörgängen in der Hoffnung, dass sie mir eröffnen, wo ich bin, wo ich war, wohin ich gehe.

Als ich die Augen öffne, bin ich umgeben von blendendem Weiß. Eine Krankenschwester in blauer Uniform kurbelt mein Bett hoch. Unzählige Schläuche führen von meinem Handrücken zu einem Tropf mit Kochsalzlösung, an dem ein rotes Lämpchen blinkt. Die Drossel singt leise in meinem Kopf, aber das eindringliche Piepen des Geräts ist lauter. Ich wandere nicht über einen Hügel, die Haare im Wind. Und ich balanciere auch nicht auf einem Felsvorsprung an einer Bergwand entlang. Ich liege in einem Krankenhausbett. Ganz langsam verblasst die Wildnis in meinem Kopf. Das elektronische Stottern des Tropfs wird lauter, übertönt die krächzenden Krähen, die singende Drossel. Jetzt weiß ich wieder, wo ich bin: im Charing Cross Hospital in London. Ich bin gestürzt und mit dem Kopf auf dem Pflaster aufgeschlagen, so hart, dass meine Nachbarin mir später berichtet, es habe sich angehört, als hätte der Lieferant vom Supermarkt einen Stapel Paletten auf der Straße fallen gelassen.

Mit meinen Beinen ist alles in Ordnung, aber ich kann nicht gehen. Übelkeit überkommt mich in Wellen. Es ist, als würde die Erde unter mir schwanken. Als wäre ich so betrunken wie noch nie in meinem Leben – und wie ich es nie wieder sein möchte.

»Gleich kommt Ihr Abendessen«, sagt die Schwester und schiebt die Vorhänge auseinander, die mein Bett umgeben.

»Wann kann ich wieder gehen?« Ich will nichts essen und auch nichts trinken. Ich will nur eins – gehen.

»Bald«, antwortet die Schwester. Aber ich höre ihr nicht zu. Durch die offene Tür sehe ich den Flur und das Zimmer gegenüber. Leute gehen vorbei, sie balancieren Tabletts und tragen Taschen, ein Kind zieht einen Plastikroller hinter sich her, ein Mann schiebt einen Rollator vor sich her. Einige gehen schnell, laufen beinahe. Andere schlendern, humpeln oder schlurfen langsam in Pantoffeln über den Linoleumboden.

Ich sehe den Leuten zu, bin ganz fasziniert von ihren Bewegungen. Dann, ich weiß nicht, woher – aus meinen Füßen, aus meinen Eingeweiden, aus meinem Kopf? –, steigt ein tiefer innerer Schmerz in mir auf. Ich versuche, den Schmerz zu lokalisieren, ihn mit meiner Verletzung zu verbinden. Aber er hat nichts mit dem Hämmern in meinem Kopf gemein. Und er ist auch nicht so dumpf wie eine pochende Prellung oder eine stechende Schnittwunde. Während ich die Leute beobachte, die an der offenen Tür vorbeigehen, breitet der Schmerz sich in mir aus, lässt meine Augen brennen, schnürt mir die Kehle zu, dreht mir den Magen um.

In dem Augenblick kommen mir zwei Gedanken:

Ich habe es nie wirklich wertgeschätzt, was es bedeutet, gehen, ausschreiten, schlurfen, humpeln, rennen zu können. Zweibeinig zu sein.

Ohne meine Beine bin ich gefesselt. Eine Gefangene.

Mein innerer Schmerz fühlt sich an wie ein Verlangen, die Sehnsucht danach, meine kostbaren Beine wiederzubekommen. Aber in das Sehnen mischt sich Bedauern – das Bedauern, all die Jahre so unachtsam gegangen zu sein. Das Bedauern, dass ich so viele Jahre sitzend vergeudet habe – in Autos, vor Bildschirmen, an Tischen und Schreibtischen und Kneipentresen, in Liegestühlen und Betten und Badewannen.

Die Schwester schaut mir in die Augen. »Ach du je … Kopf hoch! Kommen Ihre Verwandten Sie heute Abend besuchen?«

Ich blinzle und nicke, während ich mir gelobe: Sobald ich wieder gehen kann, werde ich es bei jeder Gelegenheit tun. Und ich werde meine Beine hegen und pflegen, als wären sie mein kostbarster Besitz.

»In null Komma nichts laufen Sie hier im Zimmer herum«, sagt die Schwester, als könnte sie meine Gedanken lesen.

Etwas benebelt betrachte ich das Plastik und den Beton in meinem Zimmer, blicke durch das Fenster auf die Mauer aus Porenbetonsteinen. Alles ist grau und weiß. Es riecht nach … Waschmittel? Bleichmittel? Das Dröhnen des Straßenverkehrs dringt durch das doppelt verglaste Fenster – Polizeisirenen, Hupen, das Kreischen eines Motorrads. Hier herumzugehen, erscheint mir nicht richtig.

»Ich muss zurück«, krächze ich.

Die Schwester runzelt die Stirn, dann lächelt sie. »Ich bringe Ihnen Schmerztabletten und fülle Ihren Tropf nach.«

»Ich muss in der Natur wandern … nicht in Städten und Krankenhäusern …«, lalle ich hinter ihr her.

Ich schließe die Augen und gelobe mir noch etwas – von jetzt an werde ich nur noch Wanderurlaube machen. Unser jüngstes Kind ist sieben. Das älteste ist vierzehn. Von jetzt an wird nicht mehr am Strand herumgelegen. Oder am Pool gefaulenzt. Von jetzt an werden wir über Zäune klettern und auf Berge steigen, über Hügel und durch Täler, an Klippen entlang- und durch Wälder wandern … Von jetzt an werden meine wunderbaren autofanatischen, tempobegeisterten und bildschirmfixierten Kinder wandern.

Ich bin ohne Auto aufgewachsen. Meine Eltern konnten nicht Auto fahren und haben sich konsequent geweigert, den Führerschein zu machen. Wir sind also notgedrungen zu Fuß gegangen. Aber wir sind auch jeden Tag nur zum Vergnügen zu Fuß gegangen.

Als junge Frau verliebte ich mich in einen Bergsteiger, und aus den Spaziergängen meiner Kindheit wurden Wanderungen in den abgeschiedensten Gegenden des Himalaja, in den Alpen, im Peak District, im Lake District, in den Brecon Beacons und in den Black Mountains. Der Bergsteiger ist aus meinem Leben verschwunden, und dann kam Matthew, ein begeisterter Wanderer, den ich geheiratet habe. Wir verbrachten unsere Wochenenden und unsere Urlaube mit Wandern: in Snowdonia und in den South Downs, über den Devon Coastal Path, in Dartmoor, in den Yorkshire Moors und auf dem Kilimandscharo.

Nach der Geburt unseres ersten Kindes war es mit dem Wandern vorbei. Nach der Geburt unseres dritten Kindes habe ich meinen geliebten Beruf an den Nagel gehängt und mich der Tyrannei der Hausarbeit unterworfen. Meine Welt ist immer mehr geschrumpft.

Während ich meine Kinder in einer engen Stadtwohnung großzog, sehnte ich mich nach Grün, nach Ferne, nach frischer Luft. An manchen Vormittagen war die Sehnsucht nach Bäumen so unerträglich, dass ich das Gefühl hatte, mir platzt der Kopf, und ich dachte, ich drehe durch.

Dann bin ich mit den Kindern in den Park gegangen. Was ein sehr bescheidener Ersatz war für die weiten Ebenen und die langen Wanderungen, nach denen ich mich verzehrte. Schließlich habe ich angefangen, Bücher über das Wandern und über die Natur zu lesen, am Ende hatte ich permanent ein Buch in der Hand, während ich einhändig die Waschmaschine befüllte, Schniefnasen putzte, aufgeschlagene Knie versorgte und Legohäuser baute. Selbst abends im Bett habe ich gierig noch ein paar Absätze verschlungen, bevor ich erschöpft in einen unruhigen Schlaf gesunken bin.

Eine Zeitlang reichte mir das Lesen. In meiner Fantasie bin ich über schneebedeckte Berge gewandert, durch uralte Wälder, in denen das Sonnenlicht durch das hohe Blätterdach sickerte, über bunte, von blassgrünen Weiden gesäumte Frühlingswiesen, ich bin an schäumenden Bächen und reißenden Flüssen entlang-, durch Moore, weite Täler und Sümpfe gewandert, während über mir Falken und Bussarde kreisten.

Und doch nagte etwas an mir. Etwas, das ich nicht in Worte fassen konnte. Das vage Gefühl, dass die Bücher nicht wirklich für mich gedacht waren, sondern nur zu meiner Beruhigung dienten. Ich habe versucht, dieses immer drängender werdende Gefühl des Abgekoppeltseins abzuschütteln, aus Angst, ohne meine Bücher unter dem Druck des Daseins als Hausfrau und Mutter zusammenzubrechen.

Als ich eines Abends meine Nachttischlampe ausschalten wollte, fiel mein Blick auf den Bücherstapel auf meinem Nachttisch, und ich bemerkte etwas, das mir bis dahin komplett entgangen war: Auf jedem Buchrücken stand ein Männername. Ich war total verblüfft darüber, dass ich, obwohl ich mich als Feministin betrachtete, beim Kauf oder beim Ausleihen eines Buchs nie darauf achtete, ob es von einem...

Erscheint lt. Verlag 14.8.2024
Übersetzer Charlotte Breuer, Norbert Möllemann
Sprache deutsch
Original-Titel Windswept: Walking in the footsteps of remarkable women
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte 2024 • Biografie • Biographien • Cheryl Strayed • eBooks • Emanzipation • Frankreich • Frauen • Frieda von Richthofen • Georgia O'Keefe • Gwen John • Kreativität • nan shepherderd • Natur • Nature writing • Neuerscheinung • Olivia Laing • Provence • rebecca solnit • Robert Macfarlane • Schottland • Simone de Beauvoir • unabhängig sein • Wandern
ISBN-10 3-641-25413-2 / 3641254132
ISBN-13 978-3-641-25413-1 / 9783641254131
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