Ein glückliches Tal (eBook)
304 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491991-1 (ISBN)
Polly Morland ist Dokumentarfilmerin, Autorin und Journalistin. 2013 erschien ihr erstes Buch, »The Society of Timid Souls or How To Be Brave«, das mit einem Jerwood Award ausgezeichnet wurde und auf der Longlist für den Guardian First Book Award stand, es folgte »Risk Wise. Nine Everyday Adventures«, das das BBC Focus Magazin zum Buch des Monats März kürte. Polly Morland lebt mit ihrem Mann und drei Söhnen an der Grenze zu Wales.
Polly Morland ist Dokumentarfilmerin, Autorin und Journalistin. 2013 erschien ihr erstes Buch, »The Society of Timid Souls or How To Be Brave«, das mit einem Jerwood Award ausgezeichnet wurde und auf der Longlist für den Guardian First Book Award stand, es folgte »Risk Wise. Nine Everyday Adventures«, das das BBC Focus Magazin zum Buch des Monats März kürte. Polly Morland lebt mit ihrem Mann und drei Söhnen an der Grenze zu Wales.
[...] das perfekte Geschenk in diesem Jahr: politisch, poetisch und macht gute Laune!
Diese unglaubliche Landschaft, die auch in den Bildern, die diesem Band beigegeben sind, [...] klar macht, dass es sich da um etwas handelt, was ganz besonders ist [...].
Prolog
Eine Landschaft weiß nicht, wer sich in ihren Falten und Hügeln ein Leben baut, wer auf ihren Wegen geht, ihre Luft in Atem verwandelt.
Es ist der Landschaft gleichgültig, wer hier geboren wird oder, mit Vogelgesang vor den Fenstern, stirbt. Wer auch immer sich in den Duft des Waldes nach dem Regen verliebt oder seine Hoffnung im Sonnenaufgang, der über die Flanken des Tals seine Schatten streut, findet – das bleibt seine Angelegenheit und gehört ihm allein. Eine Landschaft ist ein Buch, das nicht wissen kann, wer es lesen wird oder wie seine Geschichten Lebensläufe prägen.
Ich habe ein Buch gefunden, das über fast fünfzig Jahre niemand aufgeschlagen hat. Vor einem halben Leben war es hinter das Bücherregal meiner Eltern gerutscht, aber nie auf dem Boden angekommen, stattdessen hing es, von einer Metallstrebe aufgefangen, wie das angehaltene Bild eines Zeichentrickfilms in der Luft. Eine alte Penguin-Taschenbuchausgabe von John Bergers A Fortunate Man, ausgepreist mit 45 New Pence oder 9 Shillings.
Es war der Sommer 2020, und ich räumte das Haus meiner Eltern. Mein Vater war schon lange tot, und meine Mutter, damals in ihren Achtzigern, litt an Alzheimer. Ihr letztes Jahr hier war furchterregend und chaotisch gewesen, eine lange Folge von Ärzten und Notfallmedizinern, Krankenschwestern und Sozialarbeitern, die alle professionell nur ihr Bestes wollten, doch niemand von ihnen hatte meine Mutter gekannt, bevor das alles begann, oder war lang genug geblieben, um sich ihren Namen zu merken. Eine Reihe von Krankenhausaufenthalten schloss sich an, dann als Höhepunkt Covid-19. Schließlich wurde sie von der geriatrischen Intensivstation, in der sich das Virus eingenistet hatte, in ein Pflegeheim verlegt. Und so musste das Haus, das sie mit meinem Vater gemeinsam bewohnt hatte, geräumt und verkauft werden.
Umringt von Kartons, Umzugskisten und dem ganzen Strandgut eines langen Lebens, fischte ich das Taschenbuch hinter den Bücherbrettern hervor und strich den Staub ab. 1967 zum ersten Mal erschienen, stammte diese Ausgabe von 1971, was mir klarmachte, dass meine Mutter A Fortunate Man gekauft haben musste, als sie mit mir schwanger war. »Die Geschichte eines Landarztes« hieß es auf dem Umschlag. Darunter befand sich ein durch die Bewegung verwischtes Schwarzweißfoto von einem Mann mit hochgekrempelten Hemdsärmeln, ein Paar langer, gebogener Zangen in Händen, hinter ihm in einem Bett der Umriss einer Patientin.
Ich blätterte zur ersten Seite und staunte über eine Fotografie, die sich über eine Doppelseite erstreckte. Sie zeigt einen Fluss, sein Ufer steht voll dichtem, struppigem Gras und steigt zu einer weiten, von Hecken eingefassten Weide an. Eine schöne, einzeln stehende Eiche in vollem Laub zieht den Blick zu den Talhängen, die unter dem blassen englischen Himmel mit ihrem dichten Wald wie hingetuscht scheinen. Die Silhouette zweier in einem schmalen Kahn fischender Männer ist zu erkennen, einer an den Rudern, der andere mit der Angel in der Hand. Im Fluss steht ihr Spiegelbild gestochen scharf zwischen den Stromschnellen und unruhigen Partien, die eine Ahnung von der Strömung im Wasser geben.
Ich kannte den Fluss, das Feld. Ich kannte diesen Baum. Als ich an diesem Morgen in der Frühe losgefahren war, um die einhundertfünfzig Meilen zum Haus meiner Mutter in den Midlands hinter mich zu bringen, hätte ich eine solche Aufnahme glatt selbst machen können.
Bis zu den Knien in den Erinnerungsstücken meiner Familie, überflog ich die Seiten auf der Suche nach einem vertrauten Namen, aber ich fand keinen. So tippte ich den Titel des Buches in mein Handy. Mit Sicherheit spielte A Fortunate Man in dem gleichen abgelegenen ländlichen Tal, in dem ich die letzten zehn Jahre zu Hause war. Das Buch berichtet von sechs Wochen im Jahr 1964, die der Kritiker und Schriftsteller John Berger und der Fotograf Jean Mohr darauf verwandten, die Arbeit des damals hier ansässigen Arztes zu dokumentieren.
Und genau das ließ mein Herz kurz aussetzen. Nicht nur war das mein Zuhause, mein Tal, sondern ich kannte auch den Arzt und seine Nachfolgerin, die Frau, die heute in der gleichen Gemeinde Dienst tut. Ich wusste, dass wir fast gleich alt sind und beide ungefähr so alt wie das Buch, das ich in Händen hielt. Ich wusste, dass sie ungefähr zwei Jahrzehnte auf der Stelle mit den beiden Zwillingspraxen, auf jeder Schulter des Tales eine, verbracht hatte. Ich wusste, dass die Leute ihr vertrauten, sie ihren Beruf liebte und sie sich selten einen Tag freinahm. Ich wusste, dass die Leute hervorhoben, wie selten es heutzutage ist, eine solche Familienärztin zu haben, fast so, als stamme sie aus einer vergangenen Zeit. Ein glücklicher Mensch wie ihr Vorgänger, vielleicht, doch mein Gott – so mein nächster Gedanke –, was für eine Zeit, um Ärztin zu sein.
Denn ich war mir sicher: etwas musste dringend und unwiderruflich zurechtgerückt werden; etwas verband diese merkwürdig unpersönlichen Monate voll starker Medikamente im Leben meiner geliebten Mutter mit dem Buch, das ich durch Zufall in dem Haus, das sie verlassen musste, gefunden hatte: etwas, das den Autor mit mir, mit einem Ort, einer Landschaft und einer Geschichte verband; und vor allem etwas, das den auf dem Umschlag des Taschenbuchs in meiner Hand abgebildeten Arzt mit der Frau verband, die ich kannte, die Allgemeinmedizinerin, die in seine Fußstapfen getreten war. Ich wusste nicht genau, wie und warum, aber diese Dinge schienen miteinander verknüpft – wie durch einen Fluss, der sich durch die Landschaft windet.
A Fortunate Man benennt niemals die Ortschaften, in denen es spielt, noch führt es die Namen der Patienten des Doktors an, deren Geschichten es erzählt. »Keine der Geschichten«, heißt es im Copyright, »bezieht sich auf eine bestimmte Person; sie wurden aus verschiedenen Fällen zusammengestellt.« Sogar der Name, »Dr. John Sassall« ist ein Pseudonym. Statt einem journalistischen Ansatz zu folgen, untersuchte Berger die sprechenden Details im Leben des Landarztes und der Gemeinschaft im Tal – als siebte er Flussschlamm, um Gold zu gewinnen. Die daraus entstandene Meditation über den Charakter der Beziehung zwischen Arzt und Patient machte »Sassall« zum Inbegriff der Empathie und Hingabe, und das Buch zu einem Klassiker, wenn auch einem verborgenen. Bis heute wird A Fortunate Man von vielen Ärzten geliebt, in der medizinischen Fachliteratur oft zitiert und taucht immer wieder auf den Lektürelisten für angehende Krankenpfleger auf.
Doch bei all seiner ursprünglichen Bedeutung, hat sich die Welt in dem halben Jahrhundert, seit A Fortunate Man geschrieben wurde, weitergedreht. Die Medizin ist eine andere. Das Landleben ist kaum wiederzuerkennen. Gesellschaft, Klasse, Geschlecht haben sich seit den 1960er Jahren vollkommen verändert. Das Gleiche gilt auch für die Ärzteschaft, nicht allein weil mittlerweile, vor allem im Bereich der Erstversorgung, über die Hälfte der Ärzte Frauen sind. Einmal abgesehen von der Pandemie, die sich auf ihrem Höhepunkt befand, öffnete mir diese Zufallsentdeckung, dieses unbeabsichtigte Geschenk meiner Mutter, nicht die Gelegenheit, ja die Verpflichtung, der Geschichte dieses Landarztes mit einem frischen Blick zu begegnen?
Ich legte das Buch zur Seite, schrieb der Ärztin eine E-Mail, und innerhalb einer Stunde hatte ich ihre Antwort. Ja, sie kenne das Buch, und ja, es habe für ihre eigene Geschichte eine große Rolle gespielt; welche würde sie mir erklären. Und ja, ja, wir sollten uns treffen. Wenn das Wetter gut wäre, schrieb sie, könnten wir uns auf die alte Kirchenbank, die der Küster bei der Renovierung der alten Kirche gerettet hätte, setzen und reden. Die Bank stehe nun auf dem Hügel in der feuchten Wiese hinter der Arztpraxis. Und so hat alles angefangen, die Ärztin und ich, zwischen Sumpforchideen, Buschwindröschen und Vogelgesang.
Die folgende Geschichte kam in den nächsten zwölf Monaten zusammen. Unser erstes Treffen auf der Wiese fand während der Windstille nach der ersten Corona-Welle statt, aber es dauerte nicht lange und die nächste Welle rollte heran. Aus reiner Notwendigkeit musste der Blick über die Schulter das Gespräch ersetzen. Allgemeinmedizinern wird beigebracht, genau hinzuhören, deshalb ist es, sagte sie, unüblich, viel zu sprechen. Doch es war genau das, was die Geschichte über die Not der Stunde hinaus öffnete. Manchmal spazierten wir stundenlang im Tal durch Wälder, unter uns die winterdüsteren Pfade im Schein der Stirnlampen, oder der Waldboden wurde im Lauf der Monate von der Frühlingssonne gefleckt, während der Hund der Ärztin zwischen unseren Füßen herumwuselte. Im Gehen erzählte sie mir aus ihrem Leben, wie es ist und was es bedeutet, an einem solchen Ort Landärztin zu sein, in einer solchen Zeit.
An ihr war nichts ungewöhnlich; und sie brauchte mich, um das zu erkennen. In vielen Aspekten glich sie anderen hart arbeitenden Allgemeinmedizinerinnen – abgesehen von dem Glück, das sie in dieses Tal, zu dieser Praxis und in diese Gemeinschaft geführt hat. Denn die Landschaft hier und die Menschen, die in ihr leben, prägen und erfordern eine Art der medizinischen Versorgung, die überall im Verschwinden ist, wie meine Mutter und ich nur allzu sehr erfahren mussten. Einfach gesagt: Sie ist eine Ärztin, die ihre Patienten kennt. Über Jahre und Generationen hütet sie ihre Geschichten und ist Zeugin der...
Erscheint lt. Verlag | 24.4.2024 |
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Illustrationen | Richard Baker |
Übersetzer | Hans Jürgen Balmes |
Zusatzinfo | Mit zahlreichen s/w-Abbildungen |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Anspruchsvolle Literatur • Arzt • Bewegende Geschichte einer Landärztin • Buch über Begegnungen und menschliche Nähe • Dorf • England • Fotografie • Geschenk • Gesundheit • Gesundheitssystem • John Berger • Landarzt • Liebeserklärung an das einfache Leben Roman • Liebeserklärung an das Landleben • Literatur über das Leben in ländlichen Gegenden • Medizin • Natur • Romane über Natur und Gemeinschaft • Roman über das Wesen einer guten Ärztin |
ISBN-10 | 3-10-491991-7 / 3104919917 |
ISBN-13 | 978-3-10-491991-1 / 9783104919911 |
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Größe: 14,7 MB
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