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Die Frauen der Familie Feuchtwanger (eBook)

Eine unerzählte Geschichte

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
336 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60706-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Frauen der Familie Feuchtwanger -  Heike Specht
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Die Familie Feuchtwanger vollzog im 19. und frühen 20. Jahrhundert einen spektakulären Aufstieg von der Fürther Provinz ins Großbürgertum der Residenzstadt München. Ein Aufstieg, der undenkbar gewesen wäre ohne vier Generationen starker Frauen, die die Familiengeschicke durch die historischen Wirren lenkten, als knallharte Geschäftsfrauen, zum Teil auch als echte Pionierinnen. Heike Specht erzählt die Geschichte der Feuchtwangers aus der weiblichen Perspektive und berichtet von außergewöhnlichen Lebensentwürfen aus fast 200 Jahren. Denn hinter großen Familien stecken oft mächtige Frauen.

HEIKE SPECHT, Jahrgang 1974, studierte Geschichte und Literaturwissenschaft in München. Sie promovierte über die Familie Lion Feuchtwangers und arbeitete mehrere Jahre als Verlagslektorin. Heute lebt sie als freie Autorin in Zürich. Zuletzt erschienen die Biografien »Lilli Palmer. Die preußische Diva« und »Curd Jürgens. General und Gentleman« sowie bei Piper »Ihre Seite der Geschichte. Deutschland und seine First Ladies von 1949 bis heute« und »Die Ersten ihrer Art. Frauen verändern die Welt«.

HEIKE SPECHT, Jahrgang 1974, studierte Geschichte und Literaturwissenschaft in München. Sie promovierte über die Familie Lion Feuchtwangers und arbeitete mehrere Jahre als Verlagslektorin. Heute lebt sie als Literaturagentin und freie Autorin in Zürich. Zuletzt erschienen die Biografien »Lilli Palmer. Die preußische Diva« und »Curd Jürgens. General und Gentleman« sowie bei Piper »Ihre Seite der Geschichte. Deutschland und seine First Ladies von 1949 bis heute« und »Die Ersten ihrer Art. Frauen verändern die Welt«.

Im Sommer 1943


Jerusalem

Die Sonne ist untergegangen, längst hat der Muezzin zum letzten Gebet des Tages gerufen. Ein weiterer heißer Sommertag ist vorbei. Die Tage werden schon spürbar kürzer, aber die Sonne hat noch nichts von ihrer Kraft eingebüßt. Es wird noch Wochen dauern, bis der erste Regen fällt. Wenn wir Glück haben, denkt Rahel, noch vor den hohen Feiertagen. Sie sehnt sich nach einem kühlen Tag mit Regen und Wind, nach richtigem Sauwädda, wie ihre Kindheitsfreundin Lore in breitestem Badisch zu sagen pflegte. Einem Tag, an dem man mit gutem Gewissen im Bett bleiben konnte. Eingekuschelt in eine dicke Decke mit einem ebenso dicken Buch.

Sie liebt Jerusalem mit seinen pastellfarbenen Abenden, die judäischen Berge eingetaucht in spektakuläres Rosa, sanftes Apricot und glühendes Gelb, den Duft der Pinien, die nimmermüden Schwalben, die sich in den blauen Himmel emporschwingen, bis die Sonne mit einem Schlag untergeht, als hätte jemand das Licht ausgeknipst. Die Sommerabende in München erscheinen im Vergleich dazu endlos. Nachdem die Arbeit in Praxis und Haushalt getan war, ist Rahel damals oft mit den Kindern in den Englischen Garten geradelt. Man spürte mehr, dass der Tag sich dem Ende entgegenneigte, als dass man es sah. Die Sonne hatte sich zwar schon auf den Weg gemacht, aber noch strahlte sie unvermindert und verabschiedete sich dann auch nur zögernd, als wollte sie den Tag auskosten bis zur letzten Minute, wohl wissend, dass der Herbst nur allzu schnell vor der Tür stand. Bis zehn Uhr abends konnte man im schwächer werdenden Licht auf den gemütlichen Bierbänken am Chinesischen Turm sitzen und eine Maß Bier und eine Brezn genießen, ohne eine Kerze zu entzünden.

Die lange Dämmerung, wie Rahel sie in Erinnerung hat, war etwas Wunderbares, die harten Konturen des Tages wurden allmählich weicher, die Feierabendstimmung tat ein Übriges. Man kam mit wildfremden Leuten ins Gespräch, prostete sich zu. Oben am dunkelblauen Himmel sammelten sich die Krähen, die den Tag in den verschiedenen Stadtvierteln verbracht hatten. In riesigen Schwärmen kreisten sie über dem königlichen Garten, um die Nacht im Schutz der Gemeinschaft zu verbringen. Wenn es dann endgültig dunkel war, fuhr man kichernd mit dem Radl heim, holperte über Wurzeln und Steine und suchte die richtige Abzweigung. Stockduster war es schließlich, aber Rahel hätte den Weg nach Hause auch blind gefunden. Die nahe Isar und die großen dunklen Bäume verströmten angenehme Kühle, und Rahel mahnte die Mädchen, ihre Strickjoppen anzuziehen, über die sie zu murren begannen, sobald sie den Park verließen und die Pflastersteine der Stadt die tagsüber gespeicherte Wärme freigiebig ausströmten. »Ihr erkältet euch!«, rief Rahel, wenn ihre Töchter sich die Jacken vom Leib rissen, und kam doch auch selbst ins Schwitzen.

Natürlich hatte es auch in Oberbayern Sauwädda gegeben. Bei Regen im Bett bleiben mit einem Buch, war aber meist nicht drin gewesen. München war meine erfüllteste Zeit, denkt Rahel. Die Kinder waren klein, Eli rund um die Uhr beschäftigt in Kanzlei oder Gemeinde, die Praxis war gut besucht, mehrmals im Monat hielt sie Vorträge über Empfängnisverhütung, über die Gesundheit von Babys und Kleinkindern, über die Rechte von Frauen, über den Zionismus. Heute weiß Rahel nicht mehr, wie sie all das unter einen Hut gebracht hat. Der Tag muss achtundvierzig Stunden gehabt haben.

Und dann die Familie, dieser Feuchtwanger-Clan! Sie wird nie vergessen, wie sie damals nach München gezogen ist, frisch verheiratet. Sie hatte sich auf einen ruhigen Schabbat mit ihrem Ehemann gefreut. Als dieser, kurz nachdem sie die Augen aufgeschlagen hatte, die Liste aller Anverwandten runterrasselte, die man an diesem Samstag besuchen musste, hat sie sich die Decke übers Gesicht gezogen und wäre am liebsten liegen geblieben.

Nicht wenige der alten Tanten und Onkel Elis hatten sich vermutlich gewundert angesichts der Wahl ihres Neffen. Eine Ärztin! Noch dazu eine Zionistin! Aber dann hatten sie Rahel doch mit offenen Armen aufgenommen. Vor allem Elis Vetter August, Hausarzt und Geburtshelfer alter Schule, hatte ihr zu Beginn wirklich geholfen, beruflich Fuß zu fassen. Nur zwei weitere Ärztinnen hatte es in München gegeben, als Rahel 1905 an die Isar gekommen war, dementsprechend skeptisch reagierten die männlichen Chefs und Kollegen. Aber Rahel war seit der Universität an kritische Blicke und bissige Kommentare gewohnt.

Dank Vetter August bekam Rahel bald eine Stelle in der Poliklinik, Sprechstunde von acht bis eins, danach Hausbesuche. Sie muss lächeln, wenn sie an August denkt. Er sang von Herzen gern, war ein frommer Mann. Wenn er am Schabbat zu einem Kranken gerufen wurde oder zu einer schweren Geburt, fuhr er mit der Droschke oder dem Auto, auch wenn er damit gegen die Feiertagsruhe verstieß, denn es ging darum, schnell Hilfe zu leisten. Den Rückweg aber, wenn es keine Eile mehr hatte, legte er zu Fuß zurück. »Das ist Pikuach Nefesch, Rahele«, sagte er und sah sie ernst an. Vor die Wahl gestellt, die Schabbat-Ruhe zu halten oder ein Leben zu retten, war das Leben zu retten. Keine Frage.

August lag jetzt auch schon seit fünf Jahren in seinem Grab am Zionsberg, ganz in der Nähe des alten König David. Es ist Rahel ein Trost, dass August mit seinen Kindern und Enkeln noch rechtzeitig nach Jerusalem gelangte und sie ihm seine Freundlichkeit von damals vergelten konnte. Sie, die schon länger im Land war, konnte bei vielen Kleinigkeiten behilflich sein und über das erste, schlimmste Heimweh hinwegtrösten. August war freilich zu alt, glich zu sehr einer riesigen Münchner Rosskastanie in den Isarauen, als dass er noch zwischen all den Zedern und Pinien Jerusalems Wurzeln hätte schlagen können.

Rahel stellt ihre Teetasse auf die Spüle. Zeit, ins Bett zu gehen. Bevor sie das Licht im Wohnzimmer löscht, wirft sie einen letzten Blick auf die vielen Schwarz-Weiß-Fotografien, die auf dem zierlichen Kirschholztischchen stehen, das sie aus München gerettet hat. Aus kleinen und großen Rahmen blicken die Vorfahrinnen und Vorfahren sie an – ernst, frisch frisiert und im guten Anzug beziehungsweise besten Kleid. Nackte Babys auf plüschigem Schaffell, Jungs im Matrosenanzug, kleine Mädchen mit großen Hüten. Bildet sie sich das ein, oder schauen einige von ihnen sie fragend an, als wüssten sie sich keinen rechten Reim darauf zu machen, wie sie hierhergekommen sind, in dieses merkwürdige Stückchen Land, das eine so große Bedeutung hat und doch so provinziell wirkt, so ärmlich, so improvisiert. Was soll das hier sein, eine jüdische Heimstatt? Wer hat hier überhaupt das Sagen? Die Briten? Oder die vornehmen muslimischen Familien Jerusalems oder Jaffas in ihren prächtigen Villen im maurischen Stil? Oder diese Pionierinnen und Pioniere mit ihren braun gebrannten Gesichtern und kurzen Hosen?

Wenn Rahel das Foto ihres Vaters ansieht, ist sie sich fast sicher, dass er Antworten von ihr fordert. Die Haare mit Pomade gebändigt, der Bart ordentlich gestutzt, dunkler Anzug, weißes Hemd mit Vatermörderkragen und großer dunkler Schleife, die goldene Uhr in der Westentasche, steht er da, ein Buch in der Hand, und blickt an ihr vorbei. Gabor Goitein hat Erez Israel geliebt, seit er denken konnte. Aber Erez Israel und Yerushalajim blieben für ihn spirituelle Sehnsuchtsorte – »Vergesse ich dein, Jerusalem …«

Rahel kann sich nicht an ihren Vater erinnern, er starb plötzlich und unerwartet, bevor sie Erinnerungen von ihm speichern konnte. Nur sechs Jahre hatte der Vater Zeit gehabt, um die Adass-Jeschurun-Gemeinde in Karlsruhe zu prägen, um den Gemeindemitgliedern den Weg zu weisen in diesen verrückten neuen Zeiten, in denen Rauch speiende Eisenbahnen plötzlich weit entfernte Städte verbanden, in denen des Nachts elektrische Leuchten selbst finsterste Gässchen erhellten, in denen man...

Erscheint lt. Verlag 3.5.2024
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte 19. Jahrhundert • 1. Weltkrieg • 20. Jahrhundert • 2. Weltkrieg • Amerika • Anna Feuchtwanger • Antisemitismus • assimilation • Aufsteigerinnen • Aufstiegsgeschichte • Auguste Feuchtwanger • Ausbrechen • Befreiung • Berühmte Frauen • Bürgerlich • Bürgertum • Die Jüdin von Toledo • Emanzipation • Emanzipationsgeschichte • Emigration • Exil • Exilliteratur • Exilschriftsteller • Familie Feuchtwanger • Feuchtwanger-Brüder • Feuchtwanger-Frauen • Flucht • Frauenleben • Frauenschicksale • früher Feminismus • Fürth • gesellschaftlicher Aufstieg • große Frauen • Große Frauen der Geschichte • Gründerzeit • Heldin • Johanna Feuchtwanger • Josephus-Trilogie • Juden • Judentum • Judenverfolgung • Jüdin • Jüdinnen • Jüdische Frauen • Jüdische Kultur • jüdischer Romanautor • Jüdische Schriftsteller • Jud Süß • Kulturgeschichte • Lion Feuchtwanger • Marta Feuchtwanger • Matriarchinnen • München • NS-Diktatur • Orthodox • Orthodoxes Judentum • Pionierinnen • Protagonistin • Rabbiner • Rahel Feuchtwanger • Räterepublik • Rebekka Feuchtwanger • Revolution • Rosl Feuchtwanger • Salonkultur • Salonnière • Sozialer Aufstieg • Starke Frauen • Synagoge • Unternehmerinnen • Verbürgerlichung • weiblicher Aufstieg • Wirtschaftsbürgertum
ISBN-10 3-492-60706-3 / 3492607063
ISBN-13 978-3-492-60706-3 / 9783492607063
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