Nochmal von vorne (eBook)
240 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30444-2 (ISBN)
Dana von Suffrin wurde 1985 in München geboren. Studium in München, Neapel und Jerusalem. 2017 Promotion mit einer Arbeit zur Rolle von Wissenschaft und Ideologie im frühen Zionismus. Ihr Romandebüt »Otto« wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Klaus-Michael-Kühne-Preis (2019), dem Ernst Hoferichter-Preis (2020) und dem Förderpreis des Friedrich-Hölderlin-Preises (2020). Sie lebt in München.
Dana von Suffrin wurde 1985 in München geboren. Studium in München, Neapel und Jerusalem. 2017 Promotion mit einer Arbeit zur Rolle von Wissenschaft und Ideologie im frühen Zionismus. Ihr Romandebüt »Otto« wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Klaus-Michael-Kühne-Preis (2019), dem Ernst Hoferichter-Preis (2020) und dem Förderpreis des Friedrich-Hölderlin-Preises (2020). Sie lebt in München.
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Mein Handy klingelt, und ohne auf die Nummer zu schauen, weiß ich sofort, um was es geht. Alles ist wie in einer Folge Gute Zeiten, Schlechte Zeiten aus den frühen Neunzigern: Jemand nimmt einen Anruf entgegen, und die Umgebung sieht plötzlich anders aus, nur ein bisschen verwandelt, ohne dass man sagen könnte, wie genau, die Weltkugel verheddert sich für einen Augenblick in ihrer Umlaufbahn, und meine Kollegen im Büro sehen mich fragend an, und dann werden auch sie zu einem Standbild, so als wären wir in einem Werbeprospekt für ergonomische Büromöbel, nur dass niemand lächelt (und dass unsere Bürostühle gar nicht ergonomisch sind, die Universität hat für solche Späße kein Geld), und während ich der russischen oder ukrainischen Frau aus dem Klinikum Harlaching verspreche, ihr gleich den Reisepass meines Vaters zu bringen (sie hat sich schon dreimal dafür entschuldigt, dass seine Unterlagen in der Patienteninformation einfach verschwunden sind, und ich habe schon dreimal gesagt, schon gut, Frau Doktor, obwohl die Krankenschwester oder Oberschwester oder Todesengelschwester sicher kein Doktor ist, und wenn doch, dann so einer wie mein Vater, dessen Zertifikate und Zeugnisse und Urkunden nicht anerkannt wurden vom deutschen Staat). Ich sehe das Telefon an, als hätte es mir noch eine wichtige Mitteilung zu machen, und ich weiß, dass meine Kollegen mich anstarren. Wir alle hassen das Viererbüro, und ich könnte schwören, dass wir nur noch ein Drittel oder ein Viertel von dem arbeiten, was wir vorher erledigt haben in unseren Einzelbüros, denn bei niemandem von uns funktioniert soziale Kontrolle, wir sind auch Monate später noch empört, dass man uns hier eingesperrt hat wie Kinder auf Zimmerarrest, und Natascha isst aus Protest den ganzen Tag Puffreis, den sie in einer Schublade aufbewahrt und der bunte Schlieren auf ihrer grauen Tastatur hinterlässt, und Doktor Magen hat permanent irgendwelche Verabredungen, und Raphi kommt gar nicht mehr, wozu auch, und auch meine Tage hier sind gezählt. Ich halte den Hörer noch ein bisschen in der Hand, bevor ich auflege, denn ich habe überhaupt keine Lust auf die Fragen, die Natascha und Magen mir jetzt stellen werden, sobald sie aus ihrer Büromöbelkatalog-Starre erwachen. Nach ein paar Sekunden lege ich dann doch auf, gehe wortlos zu meinem halben Tisch, packe meine Sachen, überprüfe, ob in meiner Handtasche noch die Unterlagen meines Vaters sind, die ich seit Wochen mit mir herumtrage. Ich gehe zur Tür, und Natascha ruft mir noch wie ein Kind hinterher: Rosa, ist er tot?, ich laufe zur U-Bahn, und unten studiere ich dann die Werbeanzeigen sehr genau, Kieferorthopäden, Pizzerien und Brillengeschäfte, und all diese Werbeanzeigen werden von der einfahrenden U6 Richtung Großhadern eingesaugt wie bei einem großen Reinemachen, erst werden sie zu langen bunten Linien und dann zu einer flatternden Schwärze, denn ich blicke aus dem U-Bahn-Fenster, aus dem es wirklich nichts zu sehen gibt, aber ich benehme mich, als wäre ich auf dem Weg in die Sommerfrische nach Sils Maria, und erst später werde ich begreifen, dass ich in dem Zustand war, den ich mir immer gewünscht habe: an gar nichts denkend, vollkommen leer. Fünfzehn Minuten später in der Trambahn fällt mir ein, dass ich irgendwo gehört habe, dass es nicht ungewöhnlich ist, nach einem Schock in eine Art Unbeweglichkeit zu verfallen, und als ich das denke, ist die Starre natürlich schon vorbei, und ich bin sogar kurz erleichtert, weil die normalen Tricks, mit denen wir uns unsere Existenz zu erleichtern versuchen, bei mir nicht funktionieren oder eben nur ein oder zwei Minuten lang, und wenn das kein Beweis für meine Überlebensfähigkeit ist, dann weiß ich auch nicht.
Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und suche Nadjas Nummer, abgespeichert unter »Nadja Jeruscher« sind genau sechs: drei deutsche, eine slowenische, eine israelische und sogar eine österreichische, und natürlich funktioniert keine einzige davon, und das ist typisch für Nadja, die das Telefonieren immer gehasst hat und sich von jeder Nachricht belästigt fühlt und die ihr Handy nur dazu braucht, um sich in unbekannten Städten zurechtzufinden. Nadja verachtet jedes unsinnige Gespräch, und unsinnig ist für sie alles, was keinen Informationsgehalt hat, und wenn ihr ein Anruf nicht interessant genug vorkommt, dann schweigt sie einfach lächelnd und wühlt in ihrer Jackentasche einhändig nach ihren Zigaretten. Sie ist auch eine dieser Personen, die nie fragen würden, wie es einem geht, denn sie wüsste selbst einfach keine Antwort darauf, und sie würde minutenlang nachdenken und schließlich seufzen, dass sie dazu leider nichts sagen könne, denn um zu wissen, wie es einem geht, muss man ihrer Meinung nach nicht nur die individuelle Stimmungslage und den gesundheitlichen Zustand berücksichtigen, sondern auch die eigene und die globale sozioökonomische Situation und weitere Parameter, die mir nicht einfallen wollen, und plötzlich werde ich fast wütend, weil ich denke, dass Nadja mich wieder einmal mit allem alleinlässt, denn während sie immer so tut, als würde alles, womit wir nichts zu tun haben, sie etwas angehen, zum Beispiel irgendwelche destabilisierten politischen Systeme in Südmittelamerika oder der Krieg zwischen Palästinensern und Israelis, den wirklich niemand begreifen kann; aber unser kleiner, grotesker, sicherlich einer Vielzahl psychoanalytischer Studien würdiger Familienkosmos hingegen, der aus nichts weiter als ein paar neurotischen, höchst bedürftigen Individuen bestand, ist für sie schon immer die größte Zumutung gewesen. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass sie nicht einmal wusste, wie krank unser Vater wirklich war, und das bringt mich wirklich ein bisschen auf gegen sie, denn Nadja ist in der letzten Zeit nie auf die Idee gekommen ist, einmal bei mir anzurufen oder meinem Vater eine Frage zu stellen, und wenn man die ganze Sache aus dieser Perspektive betrachtet, dann war Nadja diejenige, die unsere Familie endgültig ruiniert hat, und wie immer schlägt meine Wut sofort in eine Art Schuldgefühl um, und ich fühle sogar etwas wie Mitleid, denn Nadja ist zwar verantwortungslos und irgendwie auch ein Arsch, aber komplett abgestumpft ist sie nicht, ganz im Gegenteil, und der Tod unseres Vaters wird sie so schwer treffen wie alle Ereignisse, mit denen wir rechnen, über die wir aber lieber nie nachdenken. Und weil Nadja eine so unberechenbare große Schwester ist und ich eine kleine Schwester, die immer auf ein Happy End hofft und deswegen allen ständig vergibt, habe ich nicht ein-, sondern dreimal den Kontakt zu ihr abgebrochen: vor sieben Jahren, als sie auf der Beerdigung unserer Mutter wie eine Psychopathin ganz in Dolce & Gabbana gekommen ist und mit niemandem sprechen wollte, dann ein weiteres Mal, als sie ein Jahr später plötzlich bei David und mir auftauchte, mich beleidigte (kritisierte, wie sie sagte) und nach drei oder vier Tagen wieder abrauschte, und schließlich nach unserem letzten Telefonat vor zwei Jahren, als sie gerade, wenn ich mich richtig erinnere, kiffend mit viel zu jungen Studenten aus der Bezalel-Akademie im Uganda stand, im Hintergrund der Verkehr und die Shabbat-Sirenen, und mir sagte, dass sie auf keinen Fall kommen könne, sie würde mir zwar gerne helfen, und die Krankheit unseres Vaters sei gewiss ernst, aber kommen könne sie wirklich unter keinen Umständen, und die Gründe würde sie mir noch erklären, und sie sei sicher, dass ich sie eines Tages verstehen würde, usw. usf. Sie war jedenfalls nicht ein einziges Mal auch nur in der Nähe, wenn ich versuchte, Arzttermine zu organisieren oder für meinen Vater Obst kaufte (das er gar nicht wollte und dann trotzdem aß) oder die streng arische Physiognomie seines Onkologen bewunderte oder mit meinem Vater die Krankenhausabrechnungen kontrollierte, und erstaunlicherweise beschwerte er sich nie über das Verhalten seiner Erstgeborenen.
Im Krankenhaus laufe ich natürlich zuerst in den arischen Onkologen, der die Arme nach oben reißt, als würde er einen Angriff abwehren, dabei bin ich nur in Gedanken, ich will ihm nichts tun, obwohl er es verdient hätte. Er starrt mich an, aber es sieht nicht so aus, als würde er mich wiedererkennen, was schade ist, denn in meiner Gedankenwelt hat er in den letzten Monaten unverhältnismäßig viel Platz eingenommen, und sofort fällt mir ein, dass das nicht der richtige Zeitpunkt ist, an so etwas zu denken, und ich fühle mich gleich ein bisschen schuldig, denn immer, wenn etwas Schreckliches passiert, muss ich sofort an etwas Lustiges denken, ich lüfte jedem Gespenst das Leintuch und entdecke darunter etwas unendlich Witziges, und es ist fast so wie bei meiner Mutter, die auch nie den Schrecken für sich stehen lassen konnte. Bei fast jedem Besuch habe ich heimlich ein Handybild von dem Onkologen gemacht und es dann an David nach Amerika geschickt, und obwohl (oder weil?) David Deutscher ist, fand er nichts lustiger als die Bilder des Doktors, und manchmal zoomten wir sogar in seine perfekten weißen Zähne oder einen sich unter dem gestärkten Arztkittel abzeichnenden Bizeps, während er meinen Vater über seine Metastasen aufklärte, und David photoshoppte gelegentlich Adler und Stahlhelme auf den verstellbaren Schreibtisch, und nur ganz selten schloss er eine besorgte Frage nach meinem Vater an, und mich ärgerte das natürlich, schließlich kannte David meinen Vater gut, denn in den Jahren, in denen wir zusammen waren, waren wir mindestens alle zwei Wochen bei ihm zu Besuch gewesen.
Der Onkologe ist schon weitermarschiert, und ich klopfe an das Schwesternzimmer, die ukrainische Pflegerin kommt heraus, und ich gebe ihr die Papiere meines Vaters. Sind Sie ganz alleine, fragt sie und schaut...
Erscheint lt. Verlag | 7.3.2024 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Dana Vowinckel • Familiengeschichte • Familienkonflikt • Humor • Israel • Judentum • Jüdin • Jüdisch • Junge deutsche Literatur • Longlist Deutscher Buchpreis • Longlist Deutscher Buchpreis 2024 • Schwesterbeziehung • Shoah • Transgenerationelles • Trennung |
ISBN-10 | 3-462-30444-5 / 3462304445 |
ISBN-13 | 978-3-462-30444-2 / 9783462304442 |
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