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Kälte (eBook)

'Ein großer Schlüsselroman zur Gegenwart ... Weltliteratur, aus familienbiografischen Ereignissen gespeist.' Neue Zürcher Zeitung
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
432 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01757-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kälte -  Szczepan Twardoch
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Der Kampf eines Mannes, der nichts zu verlieren hat. Gegen die Welt und sich selbst. Einst war Konrad Widuch begeisterter russischer Revolutionär, kämpfte in der Reiterarmee. Unter Stalins Herrschaft verliert er alles, den Glauben an die Sowjetunion, seine junge Familie, die Zukunft. Aus den Schrecken des Gulag kann sich Widuch mit äußerster Härte befreien - und steht vor dem Nichts: in den Weiten der Taiga, einer atemberaubend schönen wie tödlichen Welt. Zusammen mit der Russin Ljubow und dem mitgeflohenen Gabaidze wird er von den Ljaudis gefunden. Bei dem archaischen Volk entdeckt Widuch ein fremdes Leben voll arktischer Exotik, ungeahnter Stille, eine Welt mit unbegreiflichen Göttern; der versehrte Gabaidze wird zum Schamanen. Als ein russisches Flugzeug landet, mu?ssen Widuch und die schwangere Ljubow sich wehren und sind bald wieder auf der Flucht, allein im höchsten Norden. Szczepan Twardoch schickt seinen Helden auf eine zum Zerreißen spannungsvolle Lebensreise, die Konrad Widuch immer wieder nur mit Gewalt bestehen kann. Russland, der hohe Norden, das 20. Jahrhundert in all seinen Abgru?nden prägen diesen Weg. Wie oft kann man sich selbst besiegen, ohne seine Menschlichkeit zu verlieren?

Szczepan Twardoch, geboren 1979, ist einer der herausragenden Autoren der Gegenwartsliteratur. Mit «Morphin» (2012) gelang ihm der Durchbruch, das Buch wurde mit dem Polityka-Passport-Preis ausgezeichnet, Kritik und Leser waren begeistert. Für den Roman «Drach» wurden Twardoch und sein Übersetzer Olaf Kühl 2016 mit dem Brücke Berlin Preis geehrt, 2019 erhielt Twardoch den Samuel-Bogumil-Linde-Preis. Zuletzt erschienen der hochgelobte Roman «Der Boxer», das Tagebuch «Wale und Nachtfalter» und der Roman «Demut», den die NZZ als «Höhepunkt seines Schreibens» bezeichnete. Im Frühjahr 2024 erscheint der Roman «Kälte». Szczepan Twardoch lebt mit seiner Familie in Pilchowice/Schlesien.

Szczepan Twardoch, geboren 1979, ist einer der herausragenden Autoren der Gegenwartsliteratur. Mit «Morphin» (2012) gelang ihm der Durchbruch, das Buch wurde mit dem Polityka-Passport-Preis ausgezeichnet, Kritik und Leser waren begeistert. Für den Roman «Drach» wurden Twardoch und sein Übersetzer Olaf Kühl 2016 mit dem Brücke Berlin Preis geehrt, 2019 erhielt Twardoch den Samuel-Bogumil-Linde-Preis. Zuletzt erschienen der hochgelobte Roman «Der Boxer», das Tagebuch «Wale und Nachtfalter» und der Roman «Demut», den die NZZ als «Höhepunkt seines Schreibens» bezeichnete. Im Frühjahr 2024 erscheint der Roman «Kälte». Szczepan Twardoch lebt mit seiner Familie in Pilchowice/Schlesien. Olaf Kühl, 1955 geboren, studierte Slawistik, Osteuropäische Geschichte und Zeitgeschichte und arbeitete lange Jahre als Osteuropareferent für die Regierenden Bürgermeister von Berlin. Er ist Autor und einer der wichtigsten Übersetzer aus dem Polnischen und Russischen, u.a. wurde er mit dem Karl-Dedecius-Preis und dem Brücke Berlin-Preis ausgezeichnet. Sein zweiter Roman, «Der wahre Sohn», war 2013 für den Deutschen Buchpreis nominiert.

Vorrede


Im Sommer 2019 hatte ich das Gefühl, ich muss weg, und damit beginnt diese Geschichte.

Die Schlinge des Lebens zog sich mit jedem Tag enger um mich zusammen, wie immer, wenn ich zu lange in der Welt verharre, zu der ich gehöre. Menschengesichter und Menschenstimmen quälten mich, Freunde und Feinde ärgerten mich gleichermaßen, ich hatte genug von der Liebe und dem Hass der Menschen, genug auch von den Städten, durch die ich kam, und von der schlesischen Provinz, in der ich wohne.

Jeden Morgen kostete das Aufstehen mich mehr Mühe, so als hätte jemand mir in der Nacht zusätzliche Gewichte auf die Last gelegt, die ich ohnehin auf meinen Schultern trug, mein Schritt wurde immer schwerer, ich selbst immer reizbarer; immer öfter stachen mir Fressen ins Auge, die dringend meine Faust zu brauchen schienen. Ich merkte einfach, dass ich dorthin flüchten musste, wohin ich seit fünfzehn Jahren immer fliehe, nach Spitzbergen – um dann nach der Rückkehr weniger wütend auf die Welt, die Menschen und mich selbst zu sein.

Also kaufte ich ein Flugticket, packte Rucksack und Gewehr und stieg bald darauf am Flugfeld in Longyearbyen aus. Die Kalte Küste grüßte mich wie üblich – mit kühlem Wind und tief hängendem, stahldunklem Wolkengewölbe. Ich schlug mein kleines Zelt auf einem Campingplatz in der Nähe des Flughafens auf, saß dann in der verfensterten Messe, trank Kaffee und schaute auf den Fjord und die Berge am anderen Ufer hinaus, sah die Schmarotzerraubmöwe den anderen Möwen nachjagen und den silbrigen Polarfuchs zwischen den Steinen schnüffeln.

Am nächsten Tag bestieg ich die Schnellfähre nach Pyramiden, dem seit den neunziger Jahren verlassenen sowjetischen Bergbaustädtchen, in dem seit einigen Jahren eine Handvoll Russen in einem renovierten Hotel den zähen Touristenstrom bedienen. Die mehrstündige Fahrt verlief ruhig, ich stieg am provisorischen Kai aus, warf mir den Rucksack über die Schulter, das Gewehr auf den Arm und marschierte durch die Gebäude des Geisterstädtchens, um ins Landesinnere zu gelangen.

Geführt wurde ich von einer russischsprachigen Ukrainerin, die am Kai auf eine Touristengruppe aus Moskau gewartet hatte, die mit demselben Schiff wie ich eintraf – es war drei Jahre vor dem Krieg, und trotz der Besetzung von Krim und Donbass durch Russland 2014 lebten Ukrainer und Russen in Pyramiden im Grunde einträchtig. Auf den ersten Blick jedenfalls.

Die Fremdenführerin war etwa fünfundzwanzig und hatte dicke Zöpfe, die sich am Tragriemen des über die Schulter gehängten alten Stutzens ringelten. Sie gefiel mir ein bisschen, und ich glaube, auch ich habe ihr gefallen, womöglich bilde ich mir das aber auch nur ein. Wir unterhielten uns im Gehen vielleicht zehn Minuten, so wie sich Leute unterhalten, die wissen, dass sie gleich getrennte Wege gehen und sich nie mehr begegnen werden. Sie komme aus Charkiw, sagte sie, wohne aber jetzt in Irkutsk, in Russland. – Dort war ich schon mal, erwiderte ich, sogar mehrere Male, aber das ist lange her, zwanzig Jahre. – Irkutsk verändert sich nicht, sagte sie und fragte dann, offenbar spöttelnd, vielleicht gar herausfordernd, ob ich keine Angst hätte, allein ins Landesinnere zu gehen, wo doch erst vor zwei Tagen hier ein Bärenweibchen mit zwei Jungen gesichtet worden sei. – Doch, Angst habe ich schon, erwiderte ich, aber das – und dabei fuhr ich mit der Hand über den Horizont – ist es wert. Sie wurde ernst: Ja, die Landschaft sei schön, aber sie sei zum Arbeiten hier, sie werde bezahlt und verstehe nie, warum jemand in seiner Freizeit hierherkommt, zum Urlaub. Urlaub mache sie immer auf Kreta.

Ich versuchte nicht, ihr etwas zu erklären. Ich sagte nur, Kreta mag ich auch, aber hier, das ist etwas ganz anderes. Wir verabschiedeten uns, sie wünschte mir Erfolg und küsste mich ungeschickt auf beide Wangen, was mir angenehm war. Weiter ging ich allein.

Ich wollte zur Skansbukta hinübergehen, am Gletscher Jotunfonna vorbei, fand aber den Weg nicht, doch war auch gar nicht die Skansbukta mein Ziel, sondern die Flucht vor der Welt und dem Leben, das ich hinter mir gelassen hatte.

So floh ich, sah eine Woche lang kein menschliches Gesicht, zog durch verzweigte Täler und Canyons, schlug mein Zelt an Bächen auf, machte ein kleines Lagerfeuer, wenn ich einige von Geologen zurückgelassene Bretter fand, und saß in den weißen Nächten an seinen Flammen, maß sorgfältig den Bourbon aus einer Plastikflasche mit Markierung ab, damit der Dreiviertelliter Alkohol mir für die ganze Reise reichte.

Ich schwieg. Meditierte nicht, dachte nicht einmal viel. Ich aß, ging, suchte mir einen Lagerplatz, schlug mein Zelt auf, schlief.

Abends stellte ich rings um den Lagerplatz Alarmstangen auf, deren Schnur bei Berührung durch einen unachtsamen Bären Knallpatronen zünden sollte, um ihn zu vertreiben, mich dagegen zu wecken, dann kroch ich in meinen Schlafsack und schlief in der weißen Nacht, unter der nicht untergehenden Sonne, voller Urangst ein, die Hand auf dem Gewehrkolben, fürchtete mich im Schlaf und stand glücklich auf, machte mir Wasser auf dem Gaskocher, goss die gefriergetrocknete Mahlzeit und löslichen Kaffee auf, aß langsam, zog mich an, packte meine Sachen und zog weiter.

Ich aß, ging und schlief. Ich schwieg, bis mir am Ende, nach sieben Tagen Wanderung, das Essen und der Alkohol ausgingen und ich nach Pyramiden zurückkehrte, dreckig, erschöpft, insgeheim und geheimnisvoll glücklich, besänftigt von der Einsamkeit.

Das Schiff, auf dem ich nach Longyearbyen zurückkehren wollte, sollte erst in zwei Tagen kommen, deshalb stieg ich in dem einzigen bewohnten Gebäude dieser verlassenen Bergbausiedlung ab, dem Hotel, das Russen aus Barentsburg renoviert hatten, als ihnen nach zehn Jahren das touristische Potenzial des früheren Städtchens bewusst wurde.

Das Hotel war ziemlich mies, immerhin hatte es eine Bar, an die ich mich nach einer Dusche und dem Wechsel der Thermounterwäsche gegen das letzte saubere Merinohemd begab, um etwas zu trinken.

Gesellschaft suchte ich nicht, nach einer Woche absoluter Einsamkeit hatte ich keineswegs das Bedürfnis danach, auch nicht nach Stimmen oder Gesichtern, deshalb setzte ich mich an eine Ecke der Bar und bestellte einen doppelten Bourbon, ohne Eis. Ich hatte vor, ihn wortlos zu trinken, dabei ein Buch zu lesen, vielleicht Notizen zu machen und mich anschließend zur Ruhe zu begeben.

Da sah ich sie das erste Mal. Sie saß mir gegenüber, an der anderen Seite des Tresens. Gedrungen und klein, sie wirkte wie siebzig, trug eine ausgeblichene, früher mal rote Fleecejacke, ihr Haar war völlig weiß, kurz geschnitten, das Gesicht gebräunt, intelligente, wachsame Augen, die Wangen gerötet von Dutzenden winziger Erfrierungen, eine Landkarte geplatzter Gefäße, die sich durch die Canyons der Runzeln schlängelten wie ein arktischer Fluss.

Sie hob ihr Glas zu einem wortlosen Toast und entblößte beim Lächeln die abgewetzten, leicht gelblichen Zähne; auch ihre Augen lächelten, klein, eng stehend, hellblau.

Das passte mir nicht. Ich wollte hier unter den Statisten der Bar sitzen, Polarreisenden, Wissenschaftlern und Touristen, und trinken, unbehelligt, wollte überhaupt ganz langsam, gleitend aus meiner Einsamkeit auftauchen. Aber da sie nun einmal Blickkontakt mit mir aufgenommen hatte, blieb mir nichts übrig, als blöde zurückzulächeln. Auch ich hob mein Glas, da kam sie schon, sichtlich gesprächsbedürftig, sofort heran, setzte sich auf den Hocker neben mir und sagte freundlich:

«English, Deutsch, по-русски …?» Dass ich kein Wort Norwegisch konnte, hatte sie offenbar sofort erraten.

Sie selbst sprach ein vorzügliches Englisch, lediglich ein kaum hörbarer fremder Akzent ließ mich vermuten, dass das nicht ihre erste Sprache war.

English oder Deutsch, erwiderte ich, but rather English. Sie fragte, was ich hier tue, also erzählte ich ihr in drei Sätzen von meiner einsamen Woche in der Einöde, davon, dass ich auf dem Weg zum Tordalenberg die Abzweigung zur Skansbukta nicht gefunden hätte, und die Wände der Canyons seien zu steil, worauf sie erwiderte: Klar, man muss über den Gletscher gehen, das sei nämlich kein abgehender Gletscher, ein breen, sondern ein fonna, eine Eismütze, die keine gefährlichen Spalten aufweist, man brauche keine Steigeisen, Ketten um die Stiefel reichten. Dann weiß ich ja nächstes Jahr Bescheid, antwortete ich lachend und fragte höflichkeitshalber, was sie hierherführe, obwohl mich das keinen Deut interessierte. Sie antwortete ohne Zögern, dass sie seit Langem schon jeden Sommer mit ihrer Jacht nach Svalbard komme und so lange bleibe, wie die Eisverhältnisse es erlauben. Dieses Jahr habe sie den ganzen Archipel umsegeln wollen, doch stellte sich bald heraus, dass das Eis im Sommer nicht gewichen war, der ganze Norden von Svalbard sei vereist, einschließlich der Meerenge von Hinlopen, deshalb treibe sie sich hier herum, zwischen Longyearbyen, Pyramiden und Ny-Ålesund.

Die Jacht interessierte mich, ich fragte sie aus und bekam umso bereitwilliger Auskunft, je detaillierter ich fragte, gewiss war sie erfreut von den elementaren Segelkenntnissen, die ihr Gegenüber verriet. Sie sagte mir, ihre Isbjørn sei eine stählerne Reise-Ketsch von fünfzig Fuß Länge, mit wasserdichten Schotten, Wasseraufbereitungsanlage, starkem Motor, Stromgenerator, fast dreitausend Litern Treibstoff, mehreren Segelgarnituren, Heizung, Kühlschrank, Satellitentelefon, verbautem Brückenhaus, sodass man im Warmen steuern kann, und so weiter. Sie erzählte lange,...

Erscheint lt. Verlag 16.4.2024
Übersetzer Olaf Kühl
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1937 • 20. Jahrhundert • Bloodlands • Bücher Neuerscheinungen 2024 • Deutsche Romane • Erster Weltkrieg • Existenzialismus • Gegenwartsliteratur • Gewalt • Gewaltgeschichte • GULAG • historienromane • historische Romane Neuerscheinungen 2024 • Historischer Roman • Historisch Romane • Kamtschatka • Karl Radek • Korjaken • Norwegen • Polen • Polnische Literatur • Polnischer Bestseller • romane neuerscheinungen 2024 • Roman historisch • Russische Revolution • Russland • Schamanismus • Sibirien • Sowjetunion • Spitzbergen • Stalin • Stalinismus • Taiga • Terror • Terrorjahr • Tundra • Überlebenskampf • Zarenreich • Zeitgenössische Literatur
ISBN-10 3-644-01757-3 / 3644017573
ISBN-13 978-3-644-01757-3 / 9783644017573
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