Was die Toten bewegt (Eine packende und atmosphärische Nacherzählung von Edgar Allan Poes Klassiker 'Der Untergang des Hauses Usher') (eBook)
192 Seiten
Cross Cult (Verlag)
978-3-98666-458-9 (ISBN)
T. Kingfisher ist das Pseudonym von Ursula Vernon. Die in North Carolina lebende mehrfach preisgekrönten Autorin und Illustratorin ist vor allem für ihre Kinderbücher bekannt. Sie wurde bereits für den Ursa Major Award und den Eisner Award nominiert und gewann 2015 den Nebula Award für die beste Kurzgeschichte und 2017 den Hugo Award für die beste Novelle. Ihr Debüt-Horrorroman wiederum wurde 2020 mit dem Dragon Award für den besten Horrorroman ausgezeichnet. 2023 erschien von ihr in Deutschland 'Wie man einen Prinzen tötet'.
T. Kingfisher ist das Pseudonym von Ursula Vernon. Die in North Carolina lebende mehrfach preisgekrönten Autorin und Illustratorin ist vor allem für ihre Kinderbücher bekannt. Sie wurde bereits für den Ursa Major Award und den Eisner Award nominiert und gewann 2015 den Nebula Award für die beste Kurzgeschichte und 2017 den Hugo Award für die beste Novelle. Ihr Debüt-Horrorroman wiederum wurde 2020 mit dem Dragon Award für den besten Horrorroman ausgezeichnet. 2023 erschien von ihr in Deutschland "Wie man einen Prinzen tötet".
KAPITEL
1
Die Pilzlamellen waren dunkelrot, fast schon violett. Sie hatten die Farbe durchtrennter Muskeln, die in so schauderhaftem Kontrast zum Blassrosa von Eingeweiden steht. Bei totem Wild oder sterbenden Soldaten hatte ich sie schon oft beobachtet, hier dagegen erschreckte sie mich.
Womöglich wäre es weniger beunruhigend gewesen, hätten die Pilze nicht so sehr an rohes Fleisch erinnert. Die beigen Hüte glänzten feucht und wölbten sich aufgedunsen über den roten Lamellen. Sie wuchsen aus den Steinspalten des kleinen Bergsees wie Krebsgeschwüre aus der Haut eines Kranken. Ich verspürte den überwältigenden Drang, davor zurückzuweichen, mehr noch juckte es mich jedoch in den Fingern, mit einem Ast darin herumzustochern.
Dumpf meldete sich mein schlechtes Gewissen, weil ich die Reise unterbrochen hatte und abgestiegen war, um mir die Pilze genauer anzusehen, aber ich war müde. Und wichtiger noch: Mein Pferd war müde. Madelines Brief hatte über eine Woche bis zu mir gebraucht. Ganz gleich wie dringlich er formuliert war, fünf Minuten mehr oder weniger würden keinen Unterschied machen.
Hob, mein Hengst, war dankbar für die Pause, die Umgebung schien ihn allerdings verdrießlich zu stimmen. Er blickte zuerst auf das Gras und dann zu mir auf, als wollte er mir zu verstehen geben, dass es nicht seinen gewohnten Standards entsprach.
»Du könntest hier einen Schluck trinken«, sagte ich. »Nur einen kleinen vielleicht.«
Wir blickten auf den See. Dunkel und totenstill lag er da, ein schwarzer Spiegel, der die grotesken Pilze und die schlaffen Riedgräser am Uferrand reflektierte. Er mochte zwei oder zwanzig Meter tief sein.
»Oder auch nicht.« Ich verspürte mit einem Mal auch keine große Lust, von diesem Wasser zu trinken.
Hob seufzte, wie Pferde es zu tun pflegen, wenn ihnen die Welt nicht passt, und ließ den Blick in die Ferne schweifen.
Hinter dem See erhob sich das Haus. Ich betrachtete es und seufzte ebenfalls.
Es war kein vielversprechender Anblick: ein altes, düsteres Gutshaus, erbaut in ebenso altbackenem, düsterem Stil, ein steinernes Monstrum, dessen Unterhalt selbst den reichsten Mann Europas an den Rande des Ruins getrieben hätte. Ein ganzer Flügel war eingestürzt, nur ein Schutthaufen war davon noch übrig, aus dem ein paar Dachsparren ragten. Hier lebte Madeline Usher mit ihrem Zwillingsbruder Roderick, der das genaue Gegenteil des reichsten Mannes Europas war. Selbst für Ruraviens dürftige, etwas rückständige Verhältnisse galten die Ushers als völlig verarmt. Gemessen an der übrigen europäischen Adelsschicht konnte man sie sogar als arm wie Kirchenmäuse bezeichnen, was man dem Haus auch deutlich ansah.
Von Gärten war nirgends etwas zu sehen. In der Luft lag ein süßlicher Duft – vielleicht blühte da etwas im Gras –, doch er war zu schwach, um die düstere Atmosphäre zu vertreiben.
»Davon würde ich an Ihrer Stelle die Finger lassen«, rief jemand hinter mir.
Ich wandte mich um. Hob blickte kurz auf, befand die Besucherin aber als so enttäuschend wie Gras und See und ließ den Kopf gleich wieder hängen.
Sie stellte sich als »Dame eines gewissen Alters« heraus, wie meine Mutter zu sagen pflegte. In diesem Fall betrug dieses wohl um die sechzig. Sie trug Herrenstiefel und eine Reitmontur aus Tweed, die durchaus älter als das Haus selbst sein könnte.
Außerdem war sie groß und stämmig und ihr ausladender Hut ließ sie noch größer und stämmiger wirken. Sie hatte ein Notizbuch und einen großen Lederrucksack dabei.
»Wie bitte?«
»Die Pilze.« Sie blieb vor mir stehen. Ihr Akzent klang britisch, doch sie schien nicht aus London zu stammen – womöglich eher aus den ländlichen Gebieten. »Die Pilze, mei…« Sie stockte auf der Suche nach der korrekten Anrede. Ihr Blick glitt nach unten und blieb an dem Abzeichen an meinem Jackenkragen hängen, woraufhin ein Ausdruck der Erkenntnis über ihr Gesicht huschte: Aha!
Nein, Erkenntnis ist der falsche Begriff. Klassifizierung trifft es eher. Ich wartete ab, ob sie sich kurzfassen oder weitersprechen würde.
»Die würde ich an Ihrer Stelle lieber in Ruhe lassen, Soldat.«
Ich betrachtete den Ast in meiner Hand, als gehöre er mir nicht. »Ach so? Sind die etwa giftig?«
Sie hatte ein lebhaftes Gesicht und schürzte theatralisch die Lippen. »Das sind stinkende Rotschirmlinge. A. foetida, nicht zu verwechseln mit A. foetidissima – aber das wäre wohl in diesem Teil der Welt eher unwahrscheinlich, nicht?«
»Ähm, ja?«, erwiderte ich zögerlich.
»Natürlich. Die foetidissima kommen vor allem in Afrika vor. Und die hier sind nur in diesem Teil Europas heimisch. Sie sind nicht wirklich giftig, allerdings … na ja …«
Sie streckte die Hand aus. Irritiert übergab ich ihr meinen Ast. Offensichtlich eine Naturkundlerin. Das erklärte auch meinen Eindruck, von ihr klassifiziert zu werden. Nun, da sie mich kategorisiert und der richtigen Klade zugeordnet hatte, konnten die angemessenen Höflichkeiten ausgetauscht werden, während wir uns den wesentlichen Angelegenheiten zuwandten – wie beispielsweise der Pilztaxonomie.
»Ich schlage vor, Sie halten Ihr Pferd fest«, warnte sie, »und sich die Nase zu.« Dann griff sie in ihren Rucksack und kramte ein Stofftaschentuch heraus. Sie hielt es sich vors Gesicht und tippte den stinkenden Rotschirmling mit dem Astende an.
Ganz leicht nur, dennoch nahm der Hut sofort das fleischige Rotviolett der Lamellen an. Einen Augenblick später schlug uns ein unbeschreiblicher Gestank entgegen: Verwesung gepaart mit einem Schuss ranziger Milch, der ein pelziges Gefühl auf der Zunge hinterließ – und dazu eine entsetzliche Note von frisch gebackenem Brot. Der Geruch verdrängte alles Süße aus der Luft. Mir drehte sich der Magen um.
Hob schnaubte und riss an den Zügeln. Ich konnte es ihm nicht verdenken.
»Bah!«
»Und das war nur ein kleiner«, erklärte die Dame gewissen Alters, »dem Himmel sei Dank noch nicht ganz reif. Bei den großen rollen sich Ihnen die Fußnägel hoch, da kippen Sie aus den Latschen.« Sie setzte den Ast ab, das Taschentuch hielt sie sich mit der anderen Hand noch immer vor Mund und Nase. »Daher auch das ›stinkend‹ in der landläufigen Bezeichnung. Der ›Rotschirmling‹ dürfte wohl selbsterklärend sein.«
»Ist ja widerwärtig!« Ich hielt mir den Arm vors Gesicht. »Dann sind Sie also Mykologin?«
Ihre Lippen konnte ich hinter dem Tuch nicht erkennen, doch ihre Augenpartie verriet ein ironisches Lächeln. »Leider nur eine Laiin, fürchte ich, wie es sich ja angeblich für Menschen meines Geschlechts gehört.«
Sie sprach klar und abgehackt und wir tauschten einen vorsichtigen, verständnisvollen Blick aus. Man hatte mir schon erzählt, dass es in England keine Eidsoldaten gab – und selbst wenn, hätte sie vermutlich einen anderen Weg eingeschlagen. Das ging mich allerdings nichts an, ebenso wenig wie meine Angelegenheiten sie zu interessieren hatten. In dieser Welt ging jeder seinen eigenen Weg. Oder eben nicht. Dennoch konnte ich durchaus erahnen, mit welchen Hindernissen sie möglicherweise zu kämpfen gehabt hatte.
»Ich bin Illustratorin von Beruf«, erklärte sie knapp. »Aber das Studium der Pilze fasziniert mich schon mein ganzes Leben.«
»Und das führt Sie auch hierher?«
»Oh!« Sie gestikulierte mit dem Taschentuch. »Ich weiß ja nicht, wie gut Sie sich mit Pilzen auskennen, aber dieser Ort hier ist wirklich außergewöhnlich. So viele seltene Exemplare! Hier gibt es Röhrlinge, die man bisher nur in Italien gesichtet hat, und einen Amanita, der eine ganz neue Art zu sein scheint. Sobald ich meine Zeichnungen fertiggestellt habe, wird der Gesellschaft für Mykologie nichts anderes übrig bleiben, als meine Entdeckung anzuerkennen – Laiin hin oder her.«
»Und wie wollen Sie den Pilz nennen?«, fragte ich. Obskure Leidenschaften, egal wie ausgefallen, begeistern mich. Zu Kriegszeiten hatte ich mich einmal in der Hütte eines Schäfers verschanzt und darauf gelauscht, dass der Feind den Hügel heraufkam. Da war der Schäfer in eine hitzige Tirade über die Schwierigkeiten der Schafzucht verfallen, die sämtlichen Predigten, die ich in meinem Leben schon gehört hatte, in nichts nachstand. Am Ende seines Monologs nickte ich nur eifrig und wäre durchaus willens gewesen, einen Kreuzzug gegen alle kränkelnden,...
Erscheint lt. Verlag | 6.8.2024 |
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Übersetzer | Elena Helfrecht |
Verlagsort | Ludwigsburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Fantasy |
Schlagworte | Albtraum • Edgar Allan Poe • Klassiker • Neuerzählung • reimagining • Retelling • Ruritanien • Trauma • Usher • Weird Tales |
ISBN-10 | 3-98666-458-0 / 3986664580 |
ISBN-13 | 978-3-98666-458-9 / 9783986664589 |
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