Goethe (eBook)
784 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-10083-1 (ISBN)
Thomas Steinfeld, geboren 1954, war Literaturchef der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung», bevor er zur «Süddeutschen Zeitung» wechselte, dort lange Jahre das Feuilleton leitete und zuletzt als Kulturkorrespondent in Italien arbeitete. Von 2006 bis 2018 lehrte er als Professor für Kulturwissenschaften an der Universität Luzern. Er ist Autor vielbeachteter Bücher, darunter «Weimar» (1998), «Der Sprachverführer» (2010), «Herr der Gespenster. Die Gedanken des Karl Marx» (2017) und «Italien. Porträt eines fremden Landes» (2020). Für seine Übersetzung von Selma Lagerlöfs Roman «Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden» war er 2015 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Zuletzt erschien «Goethe. Porträt eines Lebens, Bild einer Zeit» (2024). Thomas Steinfeld lebt in Südschweden.
Thomas Steinfeld, geboren 1954, war Literaturchef der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung», bevor er zur «Süddeutschen Zeitung» wechselte, dort lange Jahre das Feuilleton leitete und zuletzt als Kulturkorrespondent in Italien arbeitete. Von 2006 bis 2018 lehrte er als Professor für Kulturwissenschaften an der Universität Luzern. Er ist Autor vielbeachteter Bücher, darunter «Weimar» (1998), «Der Sprachverführer» (2010), «Herr der Gespenster. Die Gedanken des Karl Marx» (2017) und «Italien. Porträt eines fremden Landes» (2020). Für seine Übersetzung von Selma Lagerlöfs Roman «Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden» war er 2015 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Zuletzt erschien «Goethe. Porträt eines Lebens, Bild einer Zeit» (2024). Thomas Steinfeld lebt in Südschweden.
Einleitung Denn alles was entsteht
Im vierten Herbst nach Beginn der Französischen Revolution, im September des Jahres 1792, zog Johann Wolfgang von Goethe in den Krieg. Nur widerwillig hatte er sich auf den Feldzug eingelassen. Als bedürfte er eines besonderen Abstands und eines eigenen Gehäuses, war er den nach Westen vordringenden Soldaten in einer leichten Kutsche hinterhergefahren, bevor er ein Pferd bestieg und sich zu den Offizieren gesellte. Doch nun, an einem trüben, regnerischen Donnerstag, auf halbem Weg zwischen dem Rhein und Paris, sechshundert Kilometer von Weimar, seinem Wohnort, entfernt, ritt der Geheime Rat eines thüringischen Herzogs an die Front. Er war allein. An ausgestreckt daliegenden Toten kam er vorbei, an verendenden Pferden, zerschossenen Häusern und zerstreuten Heuhaufen. Es donnerten die Kanonen, die Erde bebte, und ein paar verirrte Geschosse klapperten die Dachpfannen herunter.
Goethe wollte nicht kämpfen. Nie wollte er kämpfen, außer gegen Isaac Newton, den Physiker, den er mithilfe intellektueller Geschütze aus dem «Ratten- und Eulennest» der Wissenschaft zu vertreiben trachtete, in dem er sich nach Ansicht Goethes zu Unrecht eingerichtet hatte.[1] Als er dem britischen Naturforscher die Feindschaft erklärte, war dieser allerdings schon fast hundert Jahre tot. Auf dem französischen Schlachtfeld, zu seiner Zeit, interessierte ihn dagegen, was es mit dem berühmten «Kanonenfieber» auf sich habe, was von den Krämpfen, Ohnmachten, Angstattacken und plötzlichen Anfällen von Diarrhö zu halten sei, von denen die Kriegsberichte und Romane jener Zeit erzählten.[2] Einige Offiziere aus dem preußischen Generalstab versuchten, den in die Kampfzone reitenden Zivilisten zurückzuhalten. Sie warnten vergeblich: Von disinvoltura, einer lässigen Mischung aus Phlegma und Todesverachtung, spricht man im Italienischen, wenn aus einer vorbereiteten Annäherung an die Gefahr Einsichten gewonnen werden sollen, und so wollte es Goethe halten.
Kurz danach, berichtete er in einem Buch mit dem Titel «Campagne in Frankreich», das er fast dreißig Jahre nach diesen Ereignissen schrieb, habe er das offene Feld erreicht, auf dem «die Kugeln herüber spielten». Fliegende Artilleriegeschosse, notierte er, gäben einen Ton von sich, der zugleich an das Brummen eines Kreisels, an das Sprudeln von Wasser und das Pfeifen eines Vogels erinnere. Bei der Visite auf dem Schlachtfeld sei ihm gewesen, als befinde er sich «an einem sehr heißen Orte». Zugleich habe die Welt einen rötlich braunen Ton angenommen. «Von Bewegung des Blutes habe ich nichts bemerken können, sondern mir schien vielmehr alles in jener Glut verschlungen zu sein.»[3] Goethe kehrte wieder ins Feldlager zurück. Von Angst ist in den Erinnerungen nicht die Rede. Bei diesem Aussparen mochte es sich um ein bewusstes Auslassen gehandelt haben, suchte Goethe doch bei ähnlichen Gelegenheiten schnell das Weite, so etwa im April 1813, als Weimar ein zwischen Franzosen und Preußen umkämpftes Gebiet wurde.
In jenem Buch erzählt Goethe, wie er an einem Feldzug teilnahm, den er wenige Wochen nach den Ereignissen als eine der «unglücklichsten Unternehmungen in den Jahrbüchern der Welt» bezeichnete.[4] Die Herrscher von Preußen und Österreich hatten, unterstützt von anderen Monarchen sowie von geflohenen französischen Aristokraten, eine Armee in das revolutionäre Frankreich einmarschieren lassen. Sie sollte Paris erobern und den zunächst nur entmachteten, bald aber auch gefangengesetzten König Ludwig XVI. wieder zum Herrscher über Volk und Land machen. Mit mehr als achtzigtausend Soldaten rückten die Alliierten Ende August in Frankreich ein, fest davon überzeugt, nicht mehr als einen «Spaziergang» nach Paris vor sich zu haben. Doch kamen sie nicht weiter als bis in den Osten der Champagne. Mit einem Artilleriegefecht in den westlichen Ausläufern des Argonner Walds, sechzig Kilometer vor Reims, endete der Feldzug: Angesichts der beweglichen und dann überraschend sicher stehenden Artillerie des Gegners, die mit den überlegenen Geschützen des Systems Gribeauval ausgerüstet war, erschien den Alliierten jeder Versuch, weiter nach Westen vorzudringen, als ein nicht mehr kalkulierbares Risiko.[5] Auch hatte sich die Bevölkerung nicht, wie erwartet, den Invasoren in die Arme geworfen. Allzu groß wurde die Gefahr, bei einem weiteren Marsch nach Westen von Deutschland abgeschnitten zu werden.
Am Abend nach der Kanonade sammelten sich, wie Goethe erzählt, einige Offiziere im Schatten einer Anhöhe. Niedergeschlagen waren sie und verlegen. Unter ihnen befand sich Carl August von Sachsen-Weimar, der die preußische Reiterei befehligte. Auch der Geheime Rat, der beinahe ständige Begleiter des Herzogs, stand unter den Soldaten. Goethe hatte sich vor dem Debakel von Valmy für eine Miete von acht Groschen pro Nacht eine wollene Decke beschafft. In dieser allgemeinen Ratlosigkeit, am 20. September 1792, will Goethe einen Satz für die geschichtsphilosophisch beseelte Nachwelt gesprochen haben: «Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus», lautete die Parole, «und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.»[6] Er sei, wie er schreibt, gebeten worden, als Dichter etwas zur Lage zu sagen. Danach, fährt er fort, habe sich ein jeder im aufgeweichten Lehmboden ein Bett gegraben und sich unter den Mantel gelegt. Er selbst habe sich über die zusätzliche Decke gefreut – und war so frei, darauf hinzuweisen, dass sich unter dem Stoff auch ein antikes Motiv verbarg: «Ulyß kann unter seinem, auf ähnliche Weise erworbenen Mantel nicht mit mehr Behaglichkeit und Selbstgenügen geruht haben.»[7] Goethe spielt an dieser Stelle auf die «Odyssee» an, auf das Ende des vierzehnten Gesangs: «Und Odysseus legte sich hin. Da bedeckte der Sauhirt / Ihn mit dem großen wollichten Mantel.»[8]
Die Tagebücher aus jener Zeit wurden vernichtet, in einem der vielen Papierfeuer, denen Goethe immer wieder seine Aufzeichnungen übergab. Abgesehen vom Urheber des angeblich gefallenen Satzes erinnerte sich später keiner der damals Anwesenden, dass an diesem Abend eine solche Äußerung gefallen sei. Und für Goethe wäre der Satz, in der überlieferten Form, zumindest ungewöhnlich. Die Gegenwart interessierte ihn, auch die Vergangenheit, niemals aber die Zukunft. In dieser Sentenz jedoch gilt die Gegenwart nur etwas, insofern sie auf das Kommende verweist: «Es hatte Sinn bekommen», erklärt der Philosoph Hans Blumenberg, «beim Sinnlosen dabeigewesen zu sein», was ein Trost für die von aller Hoffnung verlassenen und mit Schlamm bedeckten Verlierer gewesen sein mochte, aber von einem Mann vorgetragen wurde, der die «Weltgeschichte» für eine idealistische Überhöhung disparater Ereignisse hielt.[9]
«Geschichte» war damals ein neues und seltenes Wort. Zwar waren die ersten, in einem modernen Sinn historischen Werke längst erschienen, David Humes «The History of Great Britain» (1754–1762) oder Edward Gibbons «The History of the Decline and Fall of the Roman Empire» (1776–1789) zum Beispiel. Das deutsche Wort jedoch war erst wenige Jahre zuvor entstanden, als Ausdruck einer neuen Erfahrung, nämlich der Bewegtheit der Zeit.[10] Im selben Sinn und unter denselben Gegebenheiten war auch «Gegenwart» nicht nur eine neue Vokabel, sondern auch ein neuer Gedanke.[11] Goethe also vernahm die Rede von der Geschichte mit Skepsis: Wenn es für ihn eine Historie gab, dann verbunden mit der sich stets erneuernden Erkenntnis, dass Dauer und Bestand nicht zu haben seien, nicht in der Nation, nicht im christlichen Heilsgeschehen, nicht in einem sich verwirklichenden Weltgeist. Der Glaube an den Fortschritt war ihm etwas Suspektes, und in aller Geschichte lag der Tod. Er war kein Demokrat, glaubte nicht an eine Erlösung durch die Liebe und sehnte sich nicht nach einem verlorenen Paradies. Gewiss sei nur, erklärte er Heinrich Luden im August 1806, «daß es zu allen Zeiten und in allen Ländern miserabel gewesen» sei. Der Jenenser Historiker erschrak über diese Äußerung so sehr, dass er meinte, Mephistopheles habe gesprochen. «Goethe lächelte.»[12]
Goethe war kein Reaktionär. Er war konservativ von einer Art, wie es sie schon lange nicht mehr gibt: bewahrend, konservierend, in einem weiten Sinn. Ein Reaktionär verschließt die Augen vor der Gegenwart. Er glaubt an die Zukunft einer Vergangenheit, die nie eine Gegenwart war. Ein Konservativer hingegen träumt nicht von einer fiktiven Vergangenheit. Er will etwas Vergehendes behalten, etwas, das er kennt und schätzt, und zu diesem Zweck muss er den Blick öffnen. So verhielt sich Goethe. Er verteidigte Überzeugungen, die er aus der Tradition übernommen hatte, er bestand auf der Treue zum Landesherrn und Fürsten, die Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit blieben ihm fremd. Doch tat er dies in je verwandelter Form, auf der Höhe seiner Zeit und in Kenntnis widerstreitender Lehren: mithilfe der Dichtung, deren Sprache er neu erfand, mit immanenter Kritik und mit den Erfahrungen, die er in seinen Forschungen zur Natur gewonnen hatte. Wenn ihm an etwas lag, so war es der Mensch, der Einzelne, dem die Wunder der Natur und der Kunst aufgehen sollten. Diesen Goethe darzustellen, wider seine Erhebung zum ewigen Helden der deutschen Kultur, wider seine Verklärung zum Botschafter des Guten und Schönen, wider seine Verkleinerung zu einer nur aus historischen Gründen...
Erscheint lt. Verlag | 12.3.2024 |
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Zusatzinfo | Zahlr. s/w-Abb. |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | Aufklärung • Biographie • Deutsche Literaturgeschichte • Dichtung • Epochengeschichte • Epochenporträt • Französische Revolution • Geschichte • Goethe • Herder • Italien • Klassik • Kulturgeschichte • Kunst • Literatur • Literaturgeschichte • Napoleon • Napoleonische Kriege • Naturwissenschaften • Politik • Preußen • Romantik • Schiller • Sturm und Drang • Theater • Weimar • Wieland |
ISBN-10 | 3-644-10083-7 / 3644100837 |
ISBN-13 | 978-3-644-10083-1 / 9783644100831 |
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