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Die Welt und alles, was sie enthält (eBook)

Roman | »Ein atemberaubender Roman von ebenso großer Schönheit wie Brutalität.« Douglas Stuart
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
400 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2856-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Welt und alles, was sie enthält -  Aleksandar Hemon
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Der lang erwartete neue Roman von Aleksandar Hemon Als Erzherzog Franz Ferdinand an einem Junitag des Jahres 1914 in Sarajevo eintrifft, ist Rafael Pinto damit beschäftigt, hinter dem Tresen der Apotheke, die er von seinem Vater geerbt hat, Kräuter zu zerkleinern. Es ist nicht ganz das Leben, das er sich während seiner Studententage im libertären Wien vorgestellt hatte, aber es ist nichts, was ein Schuss Laudanum, ein Spaziergang und Tagträumereien nicht in Wohlgefallen auflösen könnten. »Als Schriftsteller ist sich Hemon bewusst, wie trickreich man Erinnerungen verfälschen kann, damit sie literaturtauglich werden. Für die Leser sind sie ein Geschenk.« NZZ  Und dann explodiert die Welt. Der Krieg verschlingt alles, was er kannte, und das Einzige, worauf Pinto hinlebt, ist die Zuneigung von Osman, einem Kameraden, einem Mann der Tat, der Pintos poetische Seele komplementiert. Ein charismatischer Geschichtenerzähler und Pintos Beschützer und Liebhaber. Gemeinsam entkommen Pinto und Osman den Schützengräben und geraten in die Fänge von Spionen und Bolschewiken. Während sie über Berge und durch Wüsten reisen, von einer Welt in die andere, bis nach Shanghai, ist es einzig Pintos Liebe zu Osman, die überleben wird. Die große, zärtliche, mitreißende Geschichte umspannt Jahrzehnte und Kontinente  -  und wird Sie erschüttern, wie es die Bücher von Hanya Yanagihara und Douglas Stuart vermögen. 

Aleksandar Hemon wurde 1964 in Sarajevo geboren. 1992 hielt er sich im Rahmen eines Kulturaustauschs in den USA auf, als er von der Belagerung seiner Heimatstadt erfuhr. Er beschloss, im Exil zu bleiben. Seit 1995 schreibt er auf Englisch und veröffentlicht regelmäßig unter anderem in «The New Yorker», «Granta» und «The Paris Review». Sein Erzählband «Die Sache mit Bruno» erschien 2000, 2002 folgte der Roman «Nowhere Man», der für den «National Book Critics Circle Award» nominiert war. Die MacArthur Foundation zeichnete Hemon 2004 mit dem «Genius Grant» aus. Spätestens seit seinem international gefeierten Roman «Lazarus», der in Deutschland auf der Shortlist des Internationalen Buchpreises 2009 stand, gehört er zu den meist beachteten Stimmen der amerikanischen Gegenwartsliteratur. 2013 erschien «Das Buch meiner Leben». Hemon lebt mit seiner Familie in Chicago.

Aleksandar Hemon wurde 1964 in Sarajevo geboren. 1992 hielt er sich im Rahmen eines Kulturaustauschs in den USA auf, als er von der Belagerung seiner Heimatstadt erfuhr. Er beschloss, im Exil zu bleiben. Seit 1995 schreibt er auf Englisch und veröffentlicht regelmäßig unter anderem in «The New Yorker», «Granta» und «The Paris Review». Sein Erzählband «Die Sache mit Bruno» erschien 2000, 2002 folgte der Roman «Nowhere Man», der für den «National Book Critics Circle Award» nominiert war. Die MacArthur Foundation zeichnete Hemon 2004 mit dem «Genius Grant» aus. Spätestens seit seinem international gefeierten Roman «Lazarus», der in Deutschland auf der Shortlist des Internationalen Buchpreises 2009 stand, gehört er zu den meist beachteten Stimmen der amerikanischen Gegenwartsliteratur. 2013 erschien «Das Buch meiner Leben». Hemon lebt mit seiner Familie in Chicago.

Sarajevo, 1914


Der Geheiligte erschuf Welten und vernichtete sie, erschuf Welten und vernichtete sie, und zu guter Letzt, Er wollte schon aufgeben, erschuf Er diese. Und sie könnte schlechter sein, diese Welt und alles, was sie enthält – immerhin weiß ich, wo die interessanten Substanzen stehen. Mal schauen: Lapis infernalis, Laudanum, direkt daneben Lavendel.

Pinto nahm das Laudanum vom Regal, wobei die Lavendel-Dose zu Boden fiel, wundersamerweise sprang sie nicht auf. Er tropfte etwas Laudanum auf einen Zuckerwürfel, beobachtete, wie dieser bräunlich anlief, und schob ihn sich in den Mund. Während die bittersüße Mixtur auf seiner Zunge zerging, öffnete er die Dose mit Lavendel und sog den Duft in sich auf – in seinem Inneren dehnten sich mediterrane Blumenfelder, das blaue Meer, überwölbt von einem türkisblauen Himmel voller Schwalben, schwappte an seine Seele, das Laudanum segelte auf seinem Blut den ganzen weiten Weg bis zu seinem Geist und darüber hinaus. In seiner Weisheit hatte der Herr alles, was Er bis in die Dämmerung am Vorabend des Schabbats erschuf, durch Laudanum bereichert, auf dass es noch schöner und erträglicher sei.

Rafael Pinto war nun weit besser vorbereitet auf Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich-Este, Thronfolger des Habsburgerreichs und Generalinspektor der gesamten bewaffneten Macht, und damit auf das Spektakel, das sich in Sarajevo anbahnte, weil sich der Erlauchte nach unserem Befinden erkundigen will. Wir befinden uns wohl, Eure Hoheit, durchaus, vorausgesetzt, es gibt genügend Laudanum und Lavendel, untertänigsten Dank für Eure gnädige Anteilnahme. Dieses Geschäft bietet Arzneien sowohl für den Körper als auch für die Seele, alles, was wir benötigen, ist also reichlich vorhanden, lang lebe der Kaiser, gelobet sei Gott, und möget auch Ihr gesegnet sein.

Dies war der erste sonnige Morgen nach einer grauen, verregneten Woche, endlich fiel wieder Licht durch die Fenster und arrangierte das Schachbrettmuster des Fußbodens immer wieder überraschend neu. Der Zucker hatte sich aufgelöst, doch der bittere Nachgeschmack ließ seine Zunge kribbeln. Gott hüllte sich in weiße Gewänder, die Herrlichkeit Seiner Majestät ließ die Welt erstrahlen, und just hier, auf dem Fußboden der Apotheke Pinto, gewahren wir nun einen Ausschnitt eines dieser weißen Gewänder. Dieses Spiel des Lichts, das alles Sichtbare verändert, wäre ein Gedicht wert. Der Titel könnte »Gottes Gewänder« lauten. Nur stellt sich die Frage, für wen ein solches Gedicht von Interesse wäre. Niemand schert sich um das Licht und dessen Wirkung auf die Seele, nicht hier, in diesem Kuhkaff in Gottes Windschatten.

Seit seiner Zeit in Wien dichtete Pinto auf Deutsch; wenn er auf Bosnisch schrieb, dann nur über Sarajevo. Er versuchte es sogar auf Ladino, nur fühlte sich das stets an, als stammten die Verse von seinem Nono, sie klangen nach abgedroschenen Sprichwörtern wie Bonita de mijel, koransiko de fijel; Kazati i veras al anijo mi lo diras. Im Gegensatz dazu ist das Licht überall und nirgends. Es existiert nicht um seiner selbst willen, wird erst als Gewand manifest, wie auch Gott sich nur in den Makeln Seiner Schöpfung offenbart. Sogar die Finsternis ist in Licht gewandet; in seiner Abwesenheit ist es präsent. Bei unserem Tod geben wir die Finsternis, die wir in uns tragen, dem Licht zurück.

Er stellte Laudanum und Lavendel wieder ins Regal. Auf dem Fußboden waren die Schatten der Schaufensterbeschriftung zu sehen, »Apotheke Pinto«, und während er sie betrachtete, wurde er von zuversichtlicher Leichtigkeit erfüllt wie Lungen von frischem Sauerstoff. Er musste unbedingt die Sammlung alberner Kräuter aussortieren, die Padri Avram über Jahrzehnte auf dem Land erworben hatte. Padri hatte darauf bestanden, den ganzen Mist aus der ehemaligen drogerija in der čaršija mitzunehmen und hier neben den richtigen Arzneien einzuordnen, die er stets als patranjas verächtlich gemacht hatte. All diese vorsintflutlichen, obskuren Kräuter waren inzwischen strohtrocken und wirkungslos, ihre sperrigen türkischen Namen, etwa Amber Kabugi, Bejturan oder Logla-ruhi, Fremdkörper in Pintos penibler alphabetischer Ordnung. Welche Wirkung diesen Zauberkräutern zugeschrieben wurde, entzog sich seiner Kenntnis. Im ehemaligen Laden hatte nur Padri das Klassifizierungssystem gekannt und gewusst, wo sich was befand. Die drogerija war die Manifestierung dessen gewesen, was sich in Padris Kopf befunden hatte – all die Bücher und prikantes, die segula und basme in den Regalen, das nach angebranntem Zucker riechende Halva, das er stets zum Kaffee aß, dazu die unter der Decke wabernden Tabakschwaden, kompakt wie seine Gedanken. Bis heute verirrten sich manche von Padris Landleuten in die Apotheke, sie trugen Kleidung aus stinkendem Schaffell und grobe Lederstiefel, litten an überreifen Furunkeln, die ihre kernigen Gesichter entstellten, an obskuren Gebrechen, deformierten Knochen und fauligen Zähnen. Nach dem Eintreten sahen sie sich um, als wären sie einer schrottreifen Zeitmaschine entstiegen, verwirrt durch den Kampfergeruch, die heitere medizinische Stille und den Marmorfußboden, eingeschüchtert vom barocken Backenbart von Kaiser Franz Joseph, dessen Konterfei sofort ins Auge stach. Einzig das aus dem vergangenen Jahrhundert stammende Porträtfoto Nono Solomons, das gegenüber an der Wand hing, gab ihnen die Gewissheit, am richtigen Ort zu sein: Sie erkannten Nonos Fez, seine gefurchte Stirn, seinen weißen Rauschebart und den Kaftan mit dem Orden, der ihm von keinem Geringeren als Sultan Abdul Hamid an die Brust geheftet worden war. Die Landleute erkundigten sich jedes Mal nach dem alten hećim, und Pinto musste stets erklären, der alte hećim sei tot und begraben und er – Doktor Rafo für sie – der legitime Erbe dieses kleinen Arznei-Imperiums, und er werde ihnen nur eine einzige Pflanze abkaufen, nämlich Lavendel. In den unwirtlichen Bergen rings um Sarajevo gedieh dieser aber kaum, also kehrten die Provinzler ohne Erlös in die dichten, uralten Wälder zurück, in denen sie hausten und mit wilden Tieren kopulierten, und suchten die Apotheke Pinto nie mehr auf, aber das war ihm nur recht. Denn dies war ein nagelneues Jahrhundert, der Fortschritt hielt überall Einzug, und die Zukunft schien so endlos weit zu sein wie ein Meer – niemand vermochte ihr Ende abzusehen. Niemand interessierte sich mehr für Bejturan. Amber Kabugi diente vermutlich dazu, Geister zu beschwören, eine Hexe oder Vila zu bannen, jemandem die Zähne ausfallen zu lassen oder für eine anhaltende Erektion zu sorgen. Letzteres wäre gewiss das kleinere Übel.

Gleich morgens war ein Salut von Kanonenschüssen ertönt, der den Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich-Este, Thronfolger des Habsburgerreichs und Generalinspektor der gesamten bewaffneten Macht, sowie Ihre Hoheit, die Herzogin, in unserer geliebten, von Gott verlassenen Stadt begrüßte. Nun ertönte ein weiteres Krachen, ein zusätzlicher Willkommensgruß für Ihre Hoheiten. (Pinto sollte erst im späteren Verlauf des Tages erfahren, dass es die Explosion einer Handgranate gewesen war, die ein glückloser, junger Attentäter auf den Wagen des Erzherzogs geschleudert hatte. Ich kann aus eigener Erfahrung bestätigen, dass wir den Zäsuren unserer Gegenwart stets hinterherhinken.) Gegenüber hatte Hadži-Besim, wie vom Gouverneur befohlen, die kaiserliche Fahne über seinem Tabakladen gehisst und stand nun darunter, die Daumen in die Westentaschen gehakt. Sein bordeauxroter Fez streifte fast den schwarz-gelben Lumpen mit dem habsburgischen Doppeladler, aber die Farben harmonierten freundlich, und ebenso freundlich war der Anblick seines wohlgerundeten Bauchs. Laudanum sorgt dafür, dass Gottes Gewänder der Welt wie angegossen passen. Pinto fiel siedend heiß ein, dass auch er die Fahne hätte hissen müssen; er hatte es vorgehabt, war jedoch nicht dazu gekommen, aber wem fiele das schon auf, in der Stadt hingen so viele Fahnen. Nono Solomon und der Kaiser starrten ihn stirnrunzelnd an, als wollten sie ihn für das Versäumnis und vieles andere mehr rügen; die zwei altersweisen Greise ließen ihn nicht aus den Augen. Dies war das Jahrhundert des Fortschritts; Großes kündigte sich an. Gedenket der Zukunft! Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich-Este, Thronfolger des Habsburgerreichs, erschien höchstselbst in Sarajevo, um sich ein Bild davon zu machen, wie wir leben, um uns zu erläutern, wie wir noch besser leben können.

Und da stand er nun, der Erzherzog, wie ein Prinz, einem Märchen entsprungen, und pochte gegen die Tür der Apotheke, genauer: gegen das A des Schriftzugs »Apotheke Pinto«, obwohl ein Schild darauf hinwies, dass geschlossen war. Man gewahre das berühmte Stahlblau seiner Augen und den gezwirbelten Husarenschnurrbart, den Er, hineinspähend, gegen die Scheibe presst! Was mag Seine Hoheit vom nichtswürdigen Pinto wollen? Was hätte Rafael Pinto dem Thronfolger, abgesehen von immerwährender, unbegrenzter Loyalität oder der Freude, die ihn beim Anblick des hoheitlichen Antlitzes erfüllte, schon zu bieten? Er eilte zur...

Erscheint lt. Verlag 1.2.2024
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte dicht • Erster • Erzähler • Freundschaft • Geflecht • Graben • historisch • Homosexuell • international • Krieg • Liebe • List • Literatur • Paar • Preis • Reise • Roman • Sarajevo • Schmerz • Schützen • Short • Welt
ISBN-10 3-8437-2856-9 / 3843728569
ISBN-13 978-3-8437-2856-0 / 9783843728560
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