Das Buch der tausend Türen (eBook)
528 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-30854-4 (ISBN)
Gareth Brown wurde in Falkirk, Schottland, geboren und träumte schon als kleiner Junge davon, später Romane zu schreiben. Nach dem Studium begann er, im öffentlichen Dienst zu arbeiten, gab jedoch seinen Traum von der Schriftstellerei nie auf. Wenn er nicht gerade schreibt, liebt Gareth Brown neue Länder und Städte zu erkunden. Seine vielen Reisen inspirierten ihn zu seinem Debütroman »Das Buch der tausend Türen«. Der Autor lebt mit seiner Frau in der Nähe von Edinburgh.
Das Lieblingsspiel
Als Cassie zu Hause ankam, ging sie als erstes in ihr Zimmer und stellte Mr. Webbers Exemplar des Grafen von Monte Christo zu den Taschenbüchern in das Regal am Kopfende ihres Betts.
Dieses Regal spiegelte ihr Leben wider: Hier standen die Bücher, die sie als Kind verschlungen hatte, die Bücher, die sie auf ihren Reisen durch Europa gekauft oder gefunden hatte, und die Bücher, die sie gesammelt hatte, seit sie in New York lebte. Hier stand schon ihr eigenes zerfleddertes Exemplar von Der Graf von Monte Christo, ein altes Taschenbuch, das früher einmal ihrem Großvater gehört hatte. Cassie erinnerte sich, wie sie es damals in Myrtle Creek in der Tischlerwerkstatt ihres Großvaters gelesen hatte, in einen Sitzsack in der Ecke versunken, während ihr Großvater seiner Arbeit nachging. Draußen war ein heftiger Regenguss niedergegangen, aber drinnen hatte die Luft nach Holz und Öl geduftet. Als Cassie das Buch aus dem Regal nahm und darin blätterte, wehte sie der Hauch der Vergangenheit an und weckte so viele Gefühle und Erinnerungen an die behagliche Geborgenheit jener Kindheitstage, dass es ihr das Herz abschnürte.
Sie stellte das Buch zurück und ging ins Bad. Dort zog sie ihren alten Pullover aus und ließ ihn auf den Haufen schmutziger Wäsche fallen. Als sie sich im Spiegel auf der Rückseite der Tür erblickte, versuchte sie sich einmal ganz unvoreingenommen zu betrachten. Sie war immer ein wenig enttäuscht, wenn sie sich im Spiegel oder auf Fotos sah. Für ihren Geschmack war sie zu groß und zu dünn. Sie fand ihre Hüften zu schmal und ihren Busen zu flach, und ihre großen Augen waren immer etwas zu weit aufgerissen, wie bei einem verschreckten Reh. Sie trug nie Make-up, weil sie nicht gelernt hatte, wie man sich richtig schminkte, und ihr blondes Haar war nicht zu bändigen, ganz gleich, wie gründlich sie es bürstete.
»Bis du wieder da?«, rief Izzy aus dem Wohnzimmer.
»Ja«, erwiderte Cassie. Als sie die Badtür öffnete, verschwand ihr Spiegelbild aus ihrem Blickfeld. Sie ging ins Wohnzimmer. Izzy saß in einem weiten T-Shirt und Pyjamahosen mit untergeschlagenen Beinen auf dem Sofa.
»Wie lief es in der Arbeit?«, fragte Cassie. »Offenbar gut, weil du schon daheim und im Pyjama bist.«
Izzy verdrehte müde die Augen. »Wir sind noch ein bisschen um die Häuser gezogen. In der letzten Bar haben ein paar Typen versucht, uns aufzureißen. So ein großer Kerl wollte mich mit seinem Charme rumkriegen. Er war schrecklich, so ein Muskelprotz mit zusammengewachsenen Augenbrauen. Schlug einen Spaziergang zum Times Square vor, um die Lichter anzuschauen.«
»Wow«, sagte Cassie.
»Genau«, stimmte Izzy zu. »Die einzigen Leute, die sich für den Times Square interessieren, sind Touristen und Terroristen.«
Cassie lächelte, weil es so guttat, die Stimme ihrer Freundin zu hören, die sie von ihrer Traurigkeit ablenkte. Der Heimweg in der leeren U-Bahn und durch schneebedeckte Straßen hatte sich so lang und einsam angefühlt.
»Das habe ich ihm auch gesagt«, fuhr Izzy fort, während Cassie sich zu ihr auf die Couch gesellte. »Niemand interessiert sich für den Times Square, außer Touristen und Terroristen. Er war gekränkt, als hätte ich etwas Schreckliches gesagt.« Sie verzog das Gesicht und ahmte eine Männerstimme nach. »Das ist widerlich! Du weißt doch, dass Terroristen Menschen töten!«
»Sehr speziell«, meinte Cassie grinsend.
»Danach war die Stimmung futsch und wir haben uns verabschiedet. Ein Glück.« Sie nickte zum Fenster hin, vor dem immer noch Schnee fiel.
Izzy arbeitete in der Schmuckabteilung bei Bloomingdale’s und ging alle paar Wochen nach Feierabend mit ihren Kolleginnen etwas trinken. Ihre Welt bestand aus teuren Produkten und reichen Menschen und Touristen, die große Augen machten. Es war eine Welt, für die Cassie weder Verständnis noch Sympathie aufbrachte, aber Izzy liebte ihren Job. Früher wollte sie Schauspielerin werden und hatte davon geträumt, am Broadway zu schauspielern und zu singen. Kurz nachdem sie von Florida nach New York gezogen war, hatte sie Cassie kennengelernt. Sie waren sich bei Kellner Books begegnet, wo Izzy damals jobbte, während sie an kleinen Theatern Castingtermine und Auftritte absolvierte. Doch als ihr nach einigen Jahren klargeworden war, dass sie nicht weiterkam, hatte sie ihren Traum begraben. »Kannst du dir was Schlimmeres vorstellen?«, hatte sie eines Abends bei einem Drink in der Rooftop-Bar des Library Hotels zu Cassie gesagt. »Du bist dreißig plus und siehst all diese schönen jungen Frauen, die zu den gleichen Castings kommen wie du und dich mit den gleichen Blicken betrachten wie du jetzt ältere Frauen? Ich sag dir, Cassie, die Welt hält einen endlosen Vorrat an schönen Frauen parat, immer wieder kommt eine neuere, jüngere daher. Und ich bin keine so gute Schauspielerin, dass mein Aussehen keine Rolle spielen würde.«
Cassie und Izzy hatten über ein Jahr lang zusammen bei Kellner Books gearbeitet und rasch Freundschaft geschlossen. Obwohl sie ganz verschiedene Menschen waren und sich für völlig andere Dinge interessierten, hatten sie sich auf Anhieb gut verstanden. Es war eine natürliche, lockere Beziehung, eine dieser Freundschaften, die ganz spontan entstanden und das eigene Leben veränderten. Als Cassie auf der Suche nach einer Wohnung gewesen war, hatte Izzy ihr vorgeschlagen, zusammenzuziehen, um Geld zu sparen. Seitdem teilten sie sich ein Zwei-Zimmer-Apartment in Lower Manhattan. Ihre Wohnung lag am Rand von Little Italy über einem Cheesecake-Laden und einer Reinigung. Im Winter war es kalt, im Sommer heiß, und wegen der Unterteilungen, die der Vermieter vorgenommen hatte, passten ihre Möbel nicht richtig in die Zimmer, aber Cassie und Izzy fühlten sich wohl. Auch als Izzy bei Kellner Books gekündigt hatte, um bei Bloomingdale’s zu arbeiten, war ihre Freundschaft weiter bestehen geblieben. Izzy arbeitete gern tagsüber, Cassie hingegen lieber am Nachmittag oder an Wochenenden. Deshalb sahen sie einander manchmal tagelang nicht, kamen sich dafür aber auch nicht in die Quere. Wenn sich ihre Wege alle drei bis vier Tage kreuzten, erzählte Izzy Cassie alles, was sich in ihrem Leben ereignet hatte, und Cassie hörte zu. War Izzys Redefluss dann versiegt, blickte sie Cassie mit mütterlicher Miene an und erkundigte sich: »Und wie geht es dir, Cassie? Was tut sich in deiner Welt?«
Auch jetzt betrachtete Izzy, deren wirre Locken zu einem lockeren Dutt gebunden waren, sie mit diesem Gesichtsausdruck. Sie war eine schöne Frau mit hohen Wangenknochen und großen braunen Augen. So attraktiv, wie Kaufhäuser sich ihre Verkäuferinnen wünschen, so attraktiv, dass sie das Zeug zum Filmstar gehabt hätte, wenn sie eine gute Schauspielerin gewesen wäre. Im Vergleich zu ihr fühlte sich Cassie wie ein Mauerblümchen, auch wenn Izzy ihr dieses Gefühl niemals vermittelt hatte. Das war bezeichnend für Izzy.
»Was sich in meiner Welt tut?«, kam Cassie Izzys Frage zuvor.
»Okay, was tut sich in deiner Welt?«
»Nichts«, sagte Cassie. »Kaum was.«
»Komm schon«, sagte Izzy. Sie entknotete ihre Beine, sprang auf und schlenderte zur Küchenanrichte. »Ich hol dir erst mal einen schönen Schluck Wein, und dann erzählst du mir von deinem Nichts und Kaum was.«
Als Izzy den Deckenfluter hinter der Tür anschaltete, ergoss sich sanftes Licht sich über die Wände.
»Mr. Webber ist heute gestorben«, sagte Cassie. Sie blickte in ihren Schoß und merkte, dass sie immer noch sein Buch in den Händen hielt. Eigentlich hatte sie es auch in das Regal im Schlafzimmer stellen wollen.
»Oh, wie schrecklich!«, meinte Izzy. »Und wer ist Mr. Webber?«
»Ein älterer Herr«, meinte Cassie. »Er kommt gelegentlich in den Laden. Trinkt einen Kaffee und liest.«
»Mein Gott, es ist so kalt – was ist denn das für ein Wetter?«, murmelte Izzy und schloss die Tür zum Flur, als sie mit den Tassen zum Sofa zurücktappte. Sie tranken Wein nämlich nicht aus Gläsern, jedenfalls nicht hier in der Wohnung.
»Ich glaube, er war einsam. Und er mochte den Buchladen.«
»Und was ist passiert?«, fragte Izzy und schenkte Wein ein. »Ist er gestolpert und hingefallen? Mein Onkel Michael ist so gestorben. Er ist gestürzt, hat sich die Hüfte gebrochen und kam nicht mehr hoch. Ist auf dem Wohnzimmerboden gestorben.« Sie schauerte.
»Nein, nichts dergleichen«, erwiderte Cassie. Sie nahm die Tasse entgegen, obwohl sie keine Lust auf Wein hatte. »Er ist einfach gestorben. Er saß nur da, als wäre es an der Zeit gewesen.«
Izzy nickte, schien aber enttäuscht.
»Jedenfalls haben das die Polizisten gesagt«, sagte Cassie nachdenklich. »Leute sterben eben.«
Izzy machte es sich auf dem Sofa bequem und schlug die Beine unter. Cassie trank einen Schluck Wein und so saßen sie eine Weile schweigend nebeneinander.
»Schau dir das an«, murmelte Izzy und starrte aus dem Fenster. Die Gebäude auf der gegenüberliegenden Straßenseite waren im dichten Schneegestöber kaum zu sehen. Der Wind hatte sich gelegt, aber die Flocken waren jetzt größer und weicher und sanken langsam, aber stetig vom Himmel herab.
»Wie schön das aussieht!«, sagte Cassie.
»Was ist denn das?« Izzy deutete auf das Notizbuch in Cassies Schoß. Cassie reichte es ihr und erklärte, von wem das Geschenk stammte.
»Leder«, bemerkte Izzy. Sie klappte das Buch auf und blätterte darin. »Wow. Das sieht aus, als hätte irgendein Verrückter Buchstabensuppe gekotzt. Ob es viel wert ist?«
»Wahrscheinlich nicht«, erwiderte Cassie. Es...
Erscheint lt. Verlag | 14.8.2024 |
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Übersetzer | Sabine Hübner |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Book of Doors |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Fantasy |
Schlagworte | 2024 • Bibliothek • Buch über Bücher • eBooks • Fantasy • Magie • Magische Reise • magisches Geheimnis • Neuerscheinung • Verschwörung |
ISBN-10 | 3-641-30854-2 / 3641308542 |
ISBN-13 | 978-3-641-30854-4 / 9783641308544 |
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