Kate Golden lebt in Los Angeles und arbeitet hauptberuflich in der Filmindustrie. Mit »A Dawn of Onyx«, dem Auftakt zu ihrer großen Edelstein-Saga begeisterte sie auf TikTok bereits Millionen von Fans. In ihrer Freizeit liebt Kate Golden es, ins Kino zu gehen, zu lesen, knifflige Puzzles zu lösen, zu wandern und auf Flohmärkten herumzustöbern.
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Ryder und Halden waren wahrscheinlich tot.
Ich war mir nicht sicher, weswegen ich mich scheußlicher fühlte – weil ich mir die Wahrheit endlich eingestand, oder weil meine Lungen so brannten und schmerzten. Die körperliche Qual hatte ich mir immerhin selbst zuzuschreiben, denn dieser Teil meiner morgendlichen Laufstrecke war immer der härteste, aber heute war es ein Jahr her, dass der letzte Brief gekommen war. Zwar hatte ich mir geschworen, nicht vom Schlimmsten auszugehen, solange es dafür keine Beweise gab, aber das postalische Schweigen war zweifelsohne ein böses Zeichen.
Um diese Gedanken zumindest in die tiefsten Tiefen meines Verstands zu verbannen, konzentrierte ich mich darauf, den Rand der Lichtung zu erreichen, ohne mich zu übergeben. Ich stieß mich kräftig mit den Beinen ab, ließ die Ellenbogen weit nach hinten schwingen und spürte, wie mein Zopf so rhythmisch wie ein Trommelschlag zwischen meine Schulterblätter tippte. Nur noch ein kleines Stück …
Dann hatte ich es bis auf die weite, kühle Rasenfläche geschafft und kam stolpernd zum Stehen, stützte die Hände auf die Knie und holte tief Luft. Es roch, wie es in Amber, dem Bernsteinkönigreich, immer roch – nach Morgentau, dem Holzrauch einer Feuerstelle in der Nähe und dem strengen, erdigen Aroma langsam verrottender Blätter.
Aber tiefe Atemzüge reichten nicht, mein Blickfeld verschwamm trotzdem. Also ließ ich mich auf den Rücken fallen und zerdrückte dabei das Laub, das unter meinem Körpergewicht ein befriedigendes Knistern von sich gab. Die ganze Lichtung war mit Blättern übersät, den letzten Zeugnissen des Winters.
Vor eineinhalb Jahren, am letzten Abend bevor alle Männer unserer Stadt zum Kriegsdienst einberufen worden waren, hatte sich meine Familie auf dem grasbewachsenen Hügel hinter unserem Haus versammelt. Ein letztes Mal hatten wir gemeinsam beobachtet, wie die Sonne hinter unserer Heimatstadt Abbington versank und ihr rosa angehauchter Schimmer zu dunklerem Blau verblich. Dann waren Halden und ich heimlich zu dieser Lichtung hier geschlichen und hatten so getan, als sei alles gut und als ob er und mein Bruder Ryder nicht am nächsten Tag in den Krieg ziehen würden.
Oder als ob sie ganz sicher zurückkehren würden.
Die Glocken erklangen auf dem Marktplatz, entfernt zwar, aber doch deutlich genug, um mich aus meinen melancholischen Erinnerungen zu reißen. Mit Blättern und Zweigen im verworrenen Haar setzte ich mich auf. Ich würde zu spät kommen. Schon wieder.
Steinverdammt noch mal.
Oder … Scheiße. Während ich aufstand, verzog ich das Gesicht. Eigentlich versuchte ich mich beim Fluchen nicht immer auf die neun heiligen Edelsteine zu beziehen, die das Herz unseres Kontinents bildeten. Nicht, weil es mich gestört hätte, die gesegnete Schöpfung Evendells zu verfluchen. Ich hasste viel mehr, dass sich an dieser Angewohnheit so deutlich zeigte, wie sehr mich meine Heimat Amber geprägt hatte, denn im Bernstein-Königreich wurden die Steine besonders glühend verehrt.
Dann lief ich zurück, über die Lichtung und den Pfad, der sich hinter unserem kleinen Haus entlangschlängelte, bis zur Stadt, die gerade erst erwachte. Ich eilte durch Gässchen, die kaum breit genug für zwei Leute waren, und ein deprimierender Gedanke drängte sich mir auf: Abbington hatte früher wirklich mehr Charme.
Zumindest in meiner Erinnerung waren die gepflasterten Straßen früher einmal sauber gefegt gewesen, und hier und da hatten Straßenmusiker gespielt oder fliegende Händler ihre Waren feilgeboten. Jetzt lag überall Abfall herum, und es war kein Mensch zu sehen. Die uneinheitlichen Backsteinhäuser, mit Kletterpflanzen überwachsen und vom warmen Licht flackernder Laternen erhellt, waren jetzt dem Verfall preisgegeben – leer, verbrannt, zerstört oder gleich alles zusammen. Es war, als beobachtete man, wie das Kerngehäuse eines Apfels verfaulte, wie die Frucht immer weniger frisch und lebendig erschien, bis sie eines Tages einfach ungenießbar war.
Mich überkam ein kleiner Schauer, was sowohl an meinen Gedanken als auch am Wetter lag. Hoffentlich hatte die kühle Luft die Feuchtigkeit auf meiner Stirn ein wenig getrocknet; Nora mochte es nicht, wenn ihre Auszubildende verschwitzt zur Arbeit erschien. Als ich die knarrende Tür aufstieß, fuhr mir der Geruch von Ethanol und adstringierender Minze in die Nase – mein Lieblingsduft.
»Arwen, bist du das?«, rief Nora schallend über den Flur der Krankenstation. »Du bist spät dran. Der Wundbrand von Mr. Doyle hat sich verschlimmert. Er wird vielleicht den Finger verlieren.«
»Ich werde was?«, drang eine krächzende Männerstimme hinter einem Vorhang hervor.
Ich warf Nora einen vernichtenden Blick zu und trat in den provisorisch mit Leintüchern abgeteilten kleinen Raum.
Steinverdammt noch mal.
Mr. Doyle, ein ältlicher, kahlköpfiger Mann, dessen Kopf nur aus Stirn und Ohrläppchen zu bestehen schien, lag in seinem Bett und umklammerte seine verletzte Hand, als sei sie eine gestohlene Leckerei, die ihm jemand wegnehmen wollte.
»Nora macht nur Spaß«, sagte ich und zog mir einen Stuhl heran. »Das ist ihre Art von Humor, den bringt der Beruf so mit sich. Ich werde schon dafür sorgen, dass alle Finger dranbleiben, versprochen.«
Mr. Doyle stieß ein skeptisches Schnaufen aus, streckte mir aber nun seine Hand hin, sodass ich mich daranmachen konnte, die Schichten verfaulter Haut vorsichtig abzulösen.
Meine Gabe zuckte mir in den Fingerspitzen und drängte ihre Hilfe auf. Allerdings war ich mir nicht sicher, ob ich sie überhaupt brauchen würde; genauso gern verließ ich mich darauf, einfach sorgfältig zu arbeiten, und Wundbrand war eine ziemliche Routineangelegenheit.
Aber ich hätte es mir nie verziehen, wenn ich mein Versprechen gegenüber dem griesgrämigen Mr. Doyle gebrochen hätte.
Ich bedeckte eine Hand mit der anderen, als ob ich ihn nicht sehen lassen wollte, wie schlimm es um seine Verletzung stand; inzwischen hatte ich viel Übung darin, meine Gabe auf die Patienten wirken zu lassen, ohne dass sie etwas davon mitbekamen. Mr. Doyle schloss die Augen und ließ den Kopf zurücksinken, und ich ließ ein kurzes Flackern reinen Lichts aus meinen Fingern dringen, so wie Saft aus einer Zitrone quillt.
Das verfaulte Fleisch wurde warm und wieder rosig. Es heilte vor meinen Augen.
Ich war eine gute Heilerin. Ich hatte eine ruhige Hand und blieb unter Druck belastbar, und beim Anblick von bloßliegenden Eingeweiden wurde mir auch nicht schlecht. Aber davon abgesehen, verfügte ich über Heilkräfte, die man nicht erlernen konnte. Meine Gabe war ein pulsierendes, flackerndes Licht, das aus meinen Händen strömte und in andere Menschen eindrang, um sich durch ihre Blutgefäße im Körper zu verteilen. Ich konnte gebrochene Knochen zusammenwachsen lassen, einem von der Grippe gezeichneten Gesicht seine gesunde Farbe zurückgeben und eine Schnittwunde ohne Nadel zusammenfügen.
Dennoch handelte es sich nicht um normale Hexenkunst. In meinem Stammbaum gab es keine Hexen oder Zauberer, und selbst, wenn dem so gewesen wäre – wenn ich meine Gabe einsetzte, dann geschah das ohne einen geraunten Spruch, dem ein Windstoß und statisches Knistern gefolgt wären. Stattdessen rann meine Kraft aus meinem Körper und saugte mir dabei Energie und Geisteskraft aus. Hexen konnten endlos viel Magie wirken, wenn sie über die richtigen Zauberbücher und Lehrwerke verfügten. Meine Kraft verließ mich, wenn ich sie zu sehr beanspruchte, und ließ mich völlig ausgelaugt zurück. Manchmal dauerte es Tage, bis die Gabe vollständig zurückkehrte.
Beim ersten Mal, als ich mich bei der Heilung eines besonders übel zugerichteten Brandopfers völlig verausgabt hatte, glaubte ich zunächst, meine Heilkräfte dauerhaft verloren zu haben, was eine unerklärliche Mischung aus Erleichterung und Entsetzen in mir auslöste. Als sie dann doch zurückkehrten, redete ich mir ein, dafür dankbar zu sein. Dankbar, dass ich als Heranwachsende die Striemen und die in schiefen Winkeln stehenden Gliedmaßen selbst heilen konnte, bevor meine Mutter oder meine Geschwister mitbekamen, was mein Stiefvater mir antat. Dankbar, dass ich helfen konnte, wenn jemand in meiner Nähe litt. Und dankbar, dass ich als Heilerin gerade in diesen harten Zeiten recht gutes Geld verdienen konnte.
»Seht nur, Mr. Doyle, es ist alles schon wieder so gut wie neu.«
Der ältliche Mann bedachte mich mit einem zahnlosen Grinsen. »Danke schön.« Dann beugte er sich verschwörerisch zu mir herüber. »Ich hätte nicht gedacht, dass Ihr ihn retten könntet.«
»So ein Mangel an Vertrauen tut weh«, scherzte ich.
Er verließ das kleine Abteil leichten Schrittes, und ich folgte ihm in den Korridor. Nachdem er gegangen war, sah Nora mich kopfschüttelnd an.
»Was denn?«
»Viel zu gute Laune«, sagte sie, aber auch auf ihren Lippen lag ein Lächeln.
»Es ist doch schön, zur Abwechslung einmal einen Patienten zu versorgen, der nicht an der Schwelle des Todes steht.« Kaum hatte ich das ausgesprochen, war es mir peinlich. Mr. Doyle war tatsächlich schon ziemlich alt.
Nora schnaubte nur und beschäftigte sich dann wieder mit den Mullverbänden, die sie gerade zusammenlegte. Ich ging zu den Krankenbetten hinüber und begann, einige der chirurgischen Instrumente zu sterilisieren. Es hätte mich in gute Laune versetzen sollen, dass wir heute nur so wenige Patienten hatten, aber gerade diese Ruhe sorgte dafür, dass sich mir der Magen umdrehte.
Die Arbeit als Heilerin half mir, nicht dauernd an meinen...
Erscheint lt. Verlag | 1.8.2024 |
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Reihe/Serie | Die Edelsteinsaga | Die Edelstein-Saga-Trilogie |
Übersetzer | Kirsten Borchardt |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | A Dawn of Onyx |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Fantasy |
Schlagworte | 2024 • Abenteuer • Booktok • eBooks • enemies to lovers • Fantastische Welten • Fantasy • good girl bad boy • High Fantasy • Liebe • Magie • Neuerscheinung • Romantasy • starke Heldin • TikTok |
ISBN-10 | 3-641-31746-0 / 3641317460 |
ISBN-13 | 978-3-641-31746-1 / 9783641317461 |
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