Nahe dem wilden Herzen (eBook)
272 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-31846-8 (ISBN)
»Es ist eigenartig, dass ich nicht sagen kann, wer ich bin.« In der Ehe mit Rechtsanwalt Otávio findet Joana keine Antwort auf ihre Fragen. Auch ihr drängender Wunsch, nahe dem »wilden Herzen« des Lebens zu sein, sich durch die Liebe zu befreien, bleibt unerfüllt. Joana sucht im Rückblick auf die eigene Kindheit und Jugend nach Träumen und frühen Zielen, stößt auf inneren Reichtum und die Gewissheit zu leben. Lispectors autobiografisch gefärbter Roman gleicht einer Reise ins Innere des Verstehens einer Frau. Im Alter von nur 19 Jahren verfasst, machte er die Autorin in Brasilien mit einem Schlag berühmt. Noch heute staunt man über die kühnen Bilder, die radikale Ehrlichkeit und philosophische Tiefe, mit denen Lispector das junge, hungrige Leben einer Frau auslotet.
Clarice Lispector, geboren 1920 in der Ukraine, gelangte mit ihrer Familie auf der Flucht vor Pogromen in den ländlichen Norden Brasiliens und lebte später in Rio de Janeiro. Aus ärmlichen Verhältnissen stammend, studierte sie Jura und begann eine Karriere als Journalistin. Im Alter von dreiundzwanzig Jahren wurde sie Schriftstellerin. Sie schrieb Romane, Erzählungen, Kinderbücher sowie literarische Kolumnen und wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet.
JOANAS TAG
Die Gewissheit, dass ich einen Hang zum Bösen habe, dachte Joana.
Was sonst war dieses Gefühl geballter Kraft, das nur darauf wartete, sich in Gewalt zu entladen, dieses Verlangen, sie mit geschlossenen Augen einzusetzen, ganz und gar, mit der unbesonnenen Sicherheit eines Raubtier? Konnte man denn nicht nur im Bösen furchtlos atmen, indes man die Luft und die Lungen akzeptierte? Nicht einmal das Vergnügen würde mir so viel Vergnügen bereiten wie das Böse, dachte sie überrascht. In sich spürte sie ein vollkommenes Tier, durchdrungen von Ungereimtheiten, Egoismus und Vitalität.
Sie dachte an ihren Mann, der sie in diesem Gedanken wahrscheinlich gar nicht erkennen würde. Sie versuchte sich ins Gedächtnis zu rufen, wie Otávio aussah. Doch jedes Mal, kaum nahm sie wahr, dass er das Haus verlassen hatte, verwandelte sie sich, konzentrierte sich auf sich selbst; und als hätte er sie nur unterbrochen, spann sie langsam den Faden ihrer Kindheit weiter, vergaß ihn und ging in tiefster Einsamkeit durch die Zimmer. Kein Geräusch drang aus der ruhigen Wohngegend mit den weit auseinanderliegenden Häusern zu ihr.
Und nun, da sie frei war, kannte nicht einmal sie ihre eigenen Gedanken.
Ja, in sich spürte sie ein vollkommenes Tier. Die Vorstellung, dieses Tier eines Tages loszulassen, stieß sie ab. Vielleicht aus Angst vor einem Mangel an Ästhetik. Oder fürchtete sie eine Offenbarung … Nein, nein, sagte sie sich, du darfst keine Angst davor haben, etwas zu erschaffen. Tief innen stieß das Tier sie vielleicht ab, weil sie immer noch den Wunsch verspürte, zu gefallen und von jemandem geliebt zu werden, der so mächtig war wie die verstorbene Tante. Nur um sie dann zu treten, rücksichtslos zu verachten. Denn der beste Satz, und immer noch der jüngste war: Güte verursacht mir Brechreiz. Die Güte war lauwarm und leicht, sie roch nach rohem, lange gelagertem Fleisch. Das aber nicht ganz verdorben war. Ab und zu frischte man es auf, würzte es ein bisschen, gerade so viel, dass es als ein Stück lauwarmes und stilles Fleisch erhalten blieb.
Eines Tages, noch vor ihrer Heirat, als ihre Tante noch lebte, hatte sie einen gierigen Menschen essen sehen. Sie hatte seine weit aufgerissenen, glänzenden, blöden Augen betrachtet, die versuchten sich nicht die geringste Geschmacksempfindung entgehen zu lassen. Und die Hände, die Hände. Eine Hand hielt eine Gabel mit einem blutigen Fleischstück darauf gespießt – kein lauwarmes, stilles, sondern sehr lebendiges, ironisches, unmoralisches Fleisch –, die andere klammerte sich um das Tischtuch und packte es ungeduldig, voller Gier nach dem nächsten Bissen. Die Beine unter dem Tisch schlugen den Takt einer unhörbaren Musik, einer Teufelsmusik von reiner, ungehemmter Gewalt. Die Wucht, die Fülle seiner Farbe … Rötlich auf den Lippen und um die Nase, blass und bläulich unter den kleinen Augen. Joana war vor ihrem armseligen Kaffee erschauert. Aber später hätte sie nicht zu sagen gewusst, ob aus Widerwillen oder aus Faszination und Wollust. Sicher beides. Sie wusste, dass der Mann eine Kraft war. Sie fühlte sich unfähig, so wie er zu essen, sie war von Natur aus genügsam, aber die Vorführung verwirrte sie. Auch traf es sie, wenn sie diese schrecklichen Geschichten las, in denen die Gemeinheit kalt und durchdringend war wie ein Eisbad. Als sähe sie jemanden Wasser trinken und würde entdecken, dass sie Durst hatte, einen tiefen, alten Durst. Vielleicht war es nur ein Mangel an Leben: sie lebte weniger, als sie konnte, und glaubte, dass ihr Durst nach Überschwemmungen verlangte. Vielleicht nur ein paar Schluck … Oh, das sei dir eine Lehre, das sei dir eine Lehre, würde die Tante sagen: Nie losgehen, nie stehlen, bevor du nicht weißt, ob das, was du stehlen willst, nicht irgendwo ganz ordnungsgemäß für dich bereitsteht. Oder etwa nicht? Stehlen lässt alles wertvoller werden. Der Geschmack des Bösen – Rot kauen, süßliches Feuer verschlucken.
Mich nicht anklagen. Die Grundlage des Egoismus suchen: alles, was ich nicht bin, kann mich nicht interessieren, es ist unmöglich, viel mehr als das zu sein, was man ist – ich aber gehe auch ohne Delirium über mich hinaus, ich bin eigentlich normalerweise schon mehr als ich –, ich habe einen Körper, und alles, was ich tue, ist die Fortsetzung meines Anfangs; wenn die Kultur der Maya mich nicht interessiert, dann liegt es daran, dass nichts in mir sich ihren Bas-Reliefs verbunden fühlt; ich nehme alles an, was von mir kommt, weil ich die Ursachen nicht kenne, und möglicherweise trete ich auf Lebenswichtiges, ohne es zu wissen; das ist das Demütigste an mir, ahnte sie.
Das Schlimmste war, dass sie alles, was sie gedacht hatte, auslöschen konnte. Einmal gedacht, waren ihre Gedanken wie Statuen im Garten, sie sah sie an, während sie durch den Garten schritt, und folgte weiter ihrem Weg.
An diesem Tag war sie fröhlich, und auch schön. Ein bisschen Fieber hatte sie auch. Warum diese Romantisierung: ein bisschen Fieber? Aber ich habe wirklich Fieber: die Augen glänzen, diese Kraft und diese Schwäche, unregelmäßige Herzschläge. Wenn die leichte Brise, die Sommerbrise, sie umstrich, erzitterte sie am ganzen Körper vor Kälte und Hitze. Und dann überstürzten sich ihre Gedanken, sie konnte das Phantasieren nicht mehr aufhalten. Das ist weil ich noch so jung bin, überlegte sie, und immer, wenn ich berührt oder nicht berührt werde, spüre ich, dachte sie. Jetzt zum Beispiel an blonde Bäche denken. Eben gerade weil es keine blonden Bäche gibt, verstehst du? so flieht man. Ja, aber die Goldstreifen der Sonne, die sind in gewisser Weise blond … Also habe ich mir das in Wirklichkeit gar nicht ausgedacht. Immer der gleiche Sturz: weder das Böse noch die Phantasie. Im ersten, im endgültigen Mittelpunkt ein einfaches Gefühl ohne Eigenschaften, so blind wie ein rollender Stein. In der Phantasie – und nur sie hat die Kraft des Bösen – bloß die vergrößerte, verwandelte Vision: darunter die gleichmütige Wahrheit. Man lügt und stürzt in die Wahrheit. Selbst wenn sie sich in ihrer Freiheit fröhlich für neue Wege entschied, erkannte sie sie später wieder. Frei sein hieß am Ende doch, sich selbst zu folgen, und da kam man wieder auf den vorgezeichneten Weg. Sie würde nur das sehen, was sie schon in sich trug. Verloren also war die Lust am Phantasieren. Und der Tag, an dem ich weinte? – auch da gab es ein gewisses Bedürfnis zu lügen –, ich machte Mathematikaufgaben und plötzlich spürte ich die erschreckende, kalte Unmöglichkeit des Wunders. Ich sehe durch dieses Fenster, und die einzige Wahrheit, die Wahrheit, die ich diesem Mann, wenn ich ihn anspreche, nicht sagen könnte, ohne dass er vor mir die Flucht ergriffe, die einzige Wahrheit ist, dass ich lebe. Ich lebe einfach. Wirklich, ich lebe. Wer bin ich? Nun, das ist schon zu viel. Ich erinnere mich an die chromatische Studie von Bach und verliere den Verstand. Sie ist kalt und klar wie Eis, und dennoch kann man auf ihr schlafen. Ich verliere das Bewusstsein, aber das macht nichts, denn die größte Gelassenheit finde ich in der Täuschung der Sinne. Es ist eigenartig, dass ich nicht sagen kann, wer ich bin. Besser gesagt, ich weiß es nur zu gut, aber ich kann es nicht sagen. Vor allem habe ich Angst, es zu sagen, weil in dem Augenblick, in dem ich es auszusprechen versuche, ich nicht nur nicht ausdrücke, was ich empfinde, sondern, was ich empfinde, langsam zu dem wird, was ich sage. Oder wenigstens ist das, was mich zum Handeln treibt, nicht das, was ich empfinde, sondern das, was ich sage. Ich spüre, wer ich bin, und dieses Gefühl sitzt oben im Gehirn und auf den Lippen – vor allem auf der Zunge –, auf der Oberfläche der Arme und auch in meinem Körper, tief innen durchströmt es mich, aber wo, wo genau, kann ich nicht sagen. Es schmeckt grau, ein bisschen rötlich, in den alten Teilen ein bisschen bläulich und bewegt sich zähflüssig wie Gelatine. Manchmal wird es scharf und verletzt mich, wenn es mit mir zusammenstößt. Also gut, jetzt zum Beispiel an den blauen Himmel denken. Aber vor allem, woher kommt diese Gewissheit zu leben? Nein, es geht mir nicht gut. Niemand stellt sich doch diese Fragen und ich … Aber man muss nur schweigen, um, unter allen Wirklichkeiten liegend, die einzige, unbeugsame zu erkennen, die der Existenz. Und unter allen Ungewissheiten – die chromatische Studie – weiß ich, dass alles vollkommen ist, denn von Tonleiter zu Tonleiter ist sie dem vorbestimmten Weg in Bezug auf sich selbst gefolgt. Nichts entgeht der Vollkommenheit der Dinge, das ist mit allem so. Aber das erklärt doch nicht, warum es mich so bewegt, wenn Otávio hustet und die Hand so auf die Brust legt. Oder wenn er raucht und die Asche auf seinen Schnurrbart fällt, ohne dass er es merkt. Ach, Mitleid empfinde ich dann. Mitleid ist meine Form der Liebe. Des Hasses und der Verständigung. Es hält mich aufrecht gegen die Welt, so wie einer getrieben vom Begehren lebt, ein anderer von der Angst. Mitleid mit den Dingen, die ohne mein Wissen geschehen. Aber ich bin müde, trotz meiner Freude heute, einer Freude, deren Grund ich nicht kenne, so wie die Freude an einem Sommermorgen. Ich bin müde, jetzt ganz unvermittelt! Lass uns leise miteinander weinen. Weil wir gelitten haben und ganz sachte weitermachen. Der ermüdete Schmerz in einer vereinfachten Träne. Aber jetzt ist es schon das Verlangen nach Dichtung, das gestehe ich, Gott. Lass uns Hände halten im Schlaf. Die Welt dreht sich, und irgendwo gibt es Dinge, die ich nicht kenne. Lass uns auf Gott und dem Geheimnis schlafen, ein ruhiges, zerbrechliches Schiff, das auf dem Meer schwimmt, hier kommt der Schlaf.
Warum glühte...
Erscheint lt. Verlag | 10.7.2024 |
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Übersetzer | Ray-Güde Mertin, Corinna Santa Cruz |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Perto do coracào selvagem |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 2024 • Annie Ernaux • Avantgarde • Brasilien • eBooks • Emanzipation • Feminismus • helen cixous • Lucia Berlin • Miranda July • Neuer Feminismus • Neuerscheinung • Roman • Romane • Virginia Woolf • Weiblicher Literaturkanon • Weibliche Selbstbestimmtheit |
ISBN-10 | 3-641-31846-7 / 3641318467 |
ISBN-13 | 978-3-641-31846-8 / 9783641318468 |
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Größe: 4,2 MB
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