Nostromo (eBook)
560 Seiten
Manesse (Verlag)
978-3-641-31421-7 (ISBN)
Im späten 19. Jahrhundert ist das südamerikanische Costaguana zerrissen von politischen Konflikten in- und ausländischer Mächte. Zwangsherrschaften, Putsche, Revolutionen wechseln einander ab: Doch egal, welche Clique gerade die Oberhand hat, am grundlegenden System von Unterdrückung und Ausbeutung ändert sich nichts. Der titelgebende Held des Romans, Nostromo, eigentlich Giovanni Battista Fizanda, Exil-Italiener, einer aus dem Volk, Kraftnatur und Tatmensch, «ein Mann von Charakter» (Joseph Conrad über seinen Helden), ist einer jener nützlichen Idioten, der sich von den Herrschenden instrumentalisieren lässt.
In einem seiner politischsten Romane, angesiedelt in einer fiktiven Bananenrepublik, zeigt der Modernist Conrad, wie Profitgier und Machtwille einiger weniger ein Land zugrunde richten. In der Hauptfigur Nostromo wird auf faszinierend exemplarische Weise vorgeführt, dass der Einzelne in einem korrupten, ausbeuterischen System auf verlorenem Posten steht. Faszinierend modern ist an «Nostromo» nicht nur die Thematik von Machtmissbrauch und politischer Willkür, sondern auch die multiperspektivische Erzählweise, die Leserinnen und Leser zwingt, Identifikation und Parteinahme für die handelnden Figuren permanent zu hinterfragen.
«In seiner Mischung von Liebe und Verachtung für das Leben und in der wirren Überzeugung, verraten worden zu sein, verraten zu sterben, ohne zu wissen, von was oder von wem, ist er immer noch einer aus dem Volk, ihr unbestrittener Großer Mann - mit einer eigenen privaten Geschichte», so charakterisiert Joseph Conrad seinen Helden im Vorwort zum Roman.
Joseph Conrad (1857-1924) war polnischer Herkunft und erlernte erst im Erwachsenenalter die englische Sprache. Im Dienst der britischen Handelsmarine und ab 1886 als Kapitän bereiste er die Weltmeere, den afrikanischen Kontinent und den Fernen Osten. Erst spät begann er zu schreiben. Conrads Romane, die um das Thema der menschlichen Einsamkeit und des Ausgeliefertseins kreisen, zählen zu den berühmtesten Werken der englischen Literatur.
Kapitel 1
Zur Zeit der spanischen Herrschaft3 und noch viele Jahre danach war die Stadt Sulaco – deren Orangengärten in ihrer üppigen Schönheit vom Alter des Orts zeugen – aus kommerzieller Sicht nie mehr gewesen als ein Hafen für den Küstenhandel und ein mittelgroßer lokaler Umschlagplatz für Rindsleder und Indigo. Die plumpen Hochsee-Galeonen der Eroberer, die kräftigen Wind brauchten, um sich überhaupt in Bewegung zu setzen, und träge dümpelten, wo moderne Klipper mit einem bloßen Flattern ihrer Segel stramme Fahrt aufnehmen, konnten Sulaco wegen der im großen Golf meist vorherrschenden Flaute kaum erreichen. Mancher Hafen auf der Welt lässt sich wegen tückischer Felsen und stürmischer See nur schwer ansteuern. Sulaco aber hatte in der feierlichen Stille des tiefen Golfo Plácido4 unantastbare Zuflucht vor den Versuchungen des Welthandels gefunden, als läge die Stadt in einem gewaltigen halbrunden Tempel ohne Dach, zum Ozean hin offen und eingerahmt von erhabenen Bergen, in denen die Wolken hingen wie Trauerflor.
Auf der einen Seite dieser ausladenden Einbuchtung im sonst geraden Gestade der Republik Costaguana bildet der letzte Sporn des Küstengebirges ein unbedeutendes Kap namens Punta Mala5. Aus der Mitte des Golfs ist diese Landspitze selbst gar nicht zu sehen; nur die Flanke der steilen Anhöhe im hinteren Teil lässt sich schwach wie ein Schatten am Himmel ausmachen.
Auf der anderen Seite schwebt auf dem gleißenden Horizont leicht etwas, das aussieht wie ein einzelner Fleck aus blauem Nebel. Das ist die Halbinsel Azuera, ein wildes Chaos aus gezackten Felsen und steinernen Terrassen, zerklüftet von senkrechten Schluchten. Sie liegt weit draußen im Meer wie ein grober Steinkopf, der sich auf einem schlanken Hals aus Sand und Dornbüschen aus der grün gewandeten Küste reckt. Sie ist ganz ohne Wasser, denn aller Regen fließt sogleich von den Flanken ins Meer ab, und der Boden reicht – sagt man – nicht aus, um auch nur einen Grashalm zu tragen, als wäre die Gegend durch einen Fluch verdorben. Die Armen, die aus einem dumpfen Trostbedürfnis die Konzepte des Bösen und des Reichtums miteinander verknüpfen, erzählen einem, Azuera sei todbringend wegen der dort versteckten Schätze. Die einfachen Leute aus der Gegend, meist peones6 auf den estancias, vaqueros der Küstenebene oder zahme Indios7, die mit einem Bündel Zuckerrohr oder einem Korb voll Maiskolben im Wert von etwa drei Pennys meilenweit zum Markt kommen, sind sich ganz sicher, dass Berge aus glänzendem Gold in der Düsternis der tiefen Schluchten liegen, die die Steinterrassen von Azuera kerben. Es ist überliefert, dass schon in alten Zeiten viele Abenteurer auf der Suche nach diesen Schätzen untergegangen sind. Auch erzählen einige Alte, dass sich noch zu ihren Lebzeiten zwei fahrende Seeleute – americanos vielleicht, irgendeine Art gringos aber ganz sicher – beim Kartenspiel mit einem nichtsnutzigen mozo unterhielten, und die drei stahlen einen Esel, der ein Bündel Reisig, einen Wasserschlauch und Vorräte für mehrere Tage tragen sollte. Derart ausgerüstet und mit Revolvern am Gürtel hatten sie begonnen, sich mit ihren Macheten einen Weg durch das Dornengestrüpp am Hals der Halbinsel zu schlagen.
Am zweiten Abend war zum ersten Mal seit Menschengedenken schwach eine gerade Rauchfahne (sie konnte nur von ihrem Lagerfeuer aufsteigen) vor dem Himmel über einer messerscharfen Klippe auf dem Steinkopf auszumachen. Die Besatzung eines Schoners, drei Meilen vor der Küste in einer Flaute, starrte dieses Schauspiel verblüfft bis in die Abenddämmerung an. Ein schwarzer Fischer, der unweit davon in einer einsamen Hütte in einer kleinen Bucht lebte, hatte sie aufbrechen sehen und hielt Ausschau nach irgendeinem Lebenszeichen. Als die Sonne gerade unterging, rief er seine Frau, und gemeinsam betrachteten sie voll Neid, Ungläubigkeit und Furcht dieses seltsame Omen.
Die gottlosen Abenteurer gaben kein weiteres Zeichen von sich. Die Seeleute, den Indio und den gestohlenen burro sah man nie wieder. Der mozo – der immerhin aus Sulaco stammte und dessen Frau einige Messen lesen ließ – und das arme vierbeinige Wesen, das ohne Sünde war, hatten vermutlich sterben dürfen, die beiden gringos aber hausen angeblich bis zum heutigen Tag als Geister zwischen den Felsen, unter dem unheilvollen Bann ihres Erfolgs. Ihre Seelen können sich nicht von den Leibern losreißen, die den gefundenen Schatz bewachen. Sie sind nun reich und hungrig und durstig – eine seltsame Vorstellung, diese hartnäckigen gringo-Geister, die als sture Ketzer ausgedörrt in ihren verhungerten Hüllen leiden, wo ein Christenmensch8 entsagt hätte und erlöst worden wäre.
Dies also sind die legendären Bewohner von Azuera, die ihren unrechtmäßigen Reichtum hüten; und der Schatten am Himmel auf der einen und der runde Fleck aus blauem Dunst, der dort den hellen Saum des Horizonts verschwimmen lässt, auf der anderen Seite sind die beiden Endpunkte des Bogens, der den Namen Golfo Plácido trägt, weil noch nie ein Sturm sein Wasser zerfurcht hat.
Sowie sie die imaginäre Linie zwischen Punta Mala und Azuera überqueren, versagt den Schiffen aus Europa mit Kurs auf Sulaco augenblicklich der starke Wind des Ozeans. Sie werden zum Spielball kapriziöser Lüfte, die sich manchmal bis zu dreißig Stunden nacheinander mit ihnen vergnügen. Der Kopf des stillen Golfs vor ihnen ist an den meisten Tagen von einem mächtigen Gebilde aus reglosen, undurchsichtigen Wolken verhangen. In den seltenen klaren Morgenstunden fällt ein anderer Schatten auf den weiten Golf. Die aufgehende Sonne bricht hoch hinter der zerklüftet aufragenden Mauer der Kordilleren hervor, gestochen scharf erheben die dunklen Gipfel ihre steilen Hänge über das erhabene Podest des Waldes, der gleich am Strand beginnt. Inmitten dieser Gipfel hebt sich das weiße Haupt des Higuerota majestätisch in das tiefe Blau. Kahle Haufen gewaltiger Steine sprenkeln die weichen Kuppeln aus Schnee wie winzige schwarze Punkte.
Wenn dann die Mittagssonne die Schatten der Berge aus dem Golf abzieht, beginnen die Wolken aus den tieferen Tälern heranzurollen. Sie hüllen die nackten Felswände über den bewaldeten Hängen in triste Fetzen, verbergen die Gipfel, ziehen als stürmische Rauchpfade über den Schnee des Higuerota. Schon sind die Kordilleren verschwunden, als hätten sie sich in große Haufen aus grauschwarzem Rauch verwandelt, die langsam hinaus aufs Meer wandern und sich entlang der Küste in der blendenden Hitze des Tages auflösen. Immer versucht der schwindsüchtige Rand der Wolkenbank, die Mitte des Golfs zu erreichen, meist jedoch ohne Erfolg. Die Sonne frisst ihn auf, wie die Seeleute sagen. Falls sich nicht durch Zufall ein dunkler Gewitterturm vom Wolkenleib trennt, einmal quer durch den Golf segelt und schließlich aufs offene Meer jenseits von Azuera entkommt, wo er plötzlich in Flammen und Donner aufgeht wie ein unheimliches fliegendes Piratenschiff, das über dem Horizont beidreht und den Ozean mit einer Breitseite bestreicht.
Nachts strebt der Wolkenleib höher hinauf in den Himmel und erstickt den ganzen stillen Golf mit undurchdringlicher Finsternis, in der Regengüsse zu hören sind, die jäh einsetzen und wieder abbrechen – mal hier, mal dort. Tatsächlich sind diese Wolkennächte bei den Seeleuten der gesamten Westküste des ausgedehnten Kontinents längst sprichwörtlich. Himmel, Land und Meer schwinden gemeinsam aus der Welt, wenn sich – wie man sagt – der Plácido unter seinem schwarzen Poncho schlafen legt. Die wenigen unter dem seewärts gerichteten Stirnrunzeln dieses Gewölbes noch verbliebenen Sterne scheinen schwächlich wie in die Öffnung einer dunklen Höhle. In ihrer unermesslichen Weite gleitet das Schiff, auf dem man sich befindet, ungesehen unter den Füßen dahin, seine Segel flattern unsichtbar in der Höhe. Selbst Gottes Augen – so fügen die Seeleute in grimmiger Blasphemie hinzu – könnten nicht erkennen, was die Hand eines Mannes dort tut; man könnte ungestraft den Teufel zu Hilfe rufen, würde nicht sogar seine Bosheit in solch blinder Finsternis zunichte.
Die Ufer des Golfs steigen zu allen Seiten steil an; die unbewohnten Inselchen, die sich knapp außerhalb des Wolkenschleiers direkt gegenüber der Einfahrt zum Hafen von Sulaco sonnen, werden «die Isabellen» genannt.
Da gibt es die Große Isabel; die Kleine Isabel, die ganz rund ist; und Hermosa9, die kleinste. Letztere ist kaum mehr als einen Fuß hoch und etwa sieben Schritt im Durchmesser, die bloße flache Oberseite eines grauen Felsens, der wie Schlacke nach einem Regen in der Sonne dampft, und kein Mensch hätte es je gewagt, vor Sonnenuntergang eine nackte Sohle daraufzusetzen. Auf der Kleinen Isabel steht eine zottige alte Palme mit einem prallen Stamm voller Stacheln, eine wahre Palmenhexe, die über dem groben Sand mit einem trostlosen Bündel toter Blätter raschelt. Auf der Großen Isabel entspringt aus der überwucherten Seite einer Schlucht eine Süßwasserquelle. Die Insel ähnelt einem smaragdfarbenen Keil von etwa einer Meile, liegt flach auf dem Meer und trägt nur zwei große Bäume, die ganz nah beieinanderstehen und zu Füßen ihrer glatten Stämme gemeinsam einen großen Schatten werfen. Eine Schlucht, die sich über die ganze Länge der Insel zieht, ist voller Buschwerk; auf der hohen Seite zeigt sie sich tief zerklüftet, auf der anderen läuft sie als seichte Vertiefung in den schmalen Sandstreifen...
Erscheint lt. Verlag | 19.6.2024 |
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Nachwort | Robert Menasse |
Übersetzer | Gisbert Haefs, Julian Haefs |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Nostromo |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 2024 • Abenteuer • Ausbeutung • Clique • eBooks • Gewalt • Gisbert Haefs • Herz der Finsternis • Klassiker der Weltliteratur • Kolonialismus • Kolumbien • Korruption • Kultautor • Machtmissbrauch • Moderne • Neuerscheinung • Neuübersetzung • Robert Menasse • Südamerika |
ISBN-10 | 3-641-31421-6 / 3641314216 |
ISBN-13 | 978-3-641-31421-7 / 9783641314217 |
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