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ruh - Şehnaz Dost

ruh (eBook)

Roman | Die literarische Neuentdeckung

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
272 Seiten
Ecco Verlag
978-3-7530-0101-2 (ISBN)
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»Zwischen besonderen familiären Banden, einer noch zarten Liebesbeziehung und der Härte des Alltags schwankt Cemals Bewusstsein. ?ehnaz Dosts Roman nimmt uns inmitten einer Gegenwart der Fokussierung auf Körper und alles Körperliche mit auf eine Seelenwanderung, die leichthin alle Zeiten überwindet.« - Julia Franck

Cemal ist Ende 30, Deutschlehrer an einer Grundschule und Vater der kleinen Ekin. Für sie möchte er ein stabiles Umfeld schaffen - was ihm aber zunehmend schwerfällt. Sein Alltag voller Herausforderungen der Diaspora wird nachts immer häufiger durch Träume von seiner verstorbenen Urgroßmutter Süveyde aufgebrochen. Sie zeigt ihm darin Szenen aus ihrem Leben, und versetzt ihn wie beiläufig an den Ort seiner Kindheit: Ein arabisches Dorf in der Südtürkei, wo Cemal bei den Großeltern gelebt hat, bis er als Achtjähriger seinen Eltern nach Deutschland gefolgt ist - zu einer Familie, die ihm fremd war, die er nun aber lieben sollte.
Cemal watet immer tiefer in dunklen Gewässern, die ihn zunehmend auch im Wachzustand umgeben. In Georg hat er, nach seiner Exfrau Gül, zum ersten Mal einen Partner gefunden, der ihn in seinem Innersten erreicht. Doch Cemal bleibt verschlossen und somit ewiger Zuschauer seiner eigenen Geschichte - dabei muss er endlich lernen, auf sein Innerstes zu hören, um diese Geschichte selbst zu bestimmen.

Ein sprachlich beeindruckender Roman, der sanfte Erschütterung hinterlässt und eine wichtige Erzählung aus der Realität unserer Gesellschaft. Ein Roman wie eine Familienfotografie.



?ehnaz Dost hat Germanistik, Komparatistik und Medienkulturanalyse studiert. 2019 belegte sie den ersten Platz beim Förderpreis der Kölner Literaturtage, 2020 war sie Stipendiatin der Autor*innenwerkstatt Prosa im Literarischen Colloquium Berlin. Ihre Prosa ist in den Zeitschriften Literarische Diverseund Yallah Salon sowie im PodcastLet's call it a Comebackerschienen. ruh ist ihr erster Roman.

1/


»Meine Urgroßmutter war eine Gelehrte. Sie konnte nicht lesen, aber sie war eine Gelehrte. Sie sagte immer, man darf nicht die Sterne zählen. Sie starb, eine Woche bevor ich auf die Welt kam.«

Es ist dunkel, und er meint Georgs Blick noch deutlicher an seiner Schläfe zu spüren als im Hellen.

»Das war wie ein Erbe von ihr, ich bin damit aufgewachsen. Zähl nicht die Sterne, sonst bekommst du Warzen auf den Händen! Jedes Mal, wenn ich in den Himmel geschaut habe. Meine Schwester hat das ständig gesagt«, fügt er nach einer kleinen Pause hinzu.

»Die kannte sie noch?«

»Ja, die ist ja viel älter als ich. Beide meine Schwestern«, antwortet er und pult am Etikett seiner Bierflasche herum, bis er die Musik wahrnimmt, die von einem anderen, kaum noch sichtbaren Wiesenfleck zu ihnen herüberdröhnt.

Georg hebt seine rechte Hand, er ist wie immer links von ihm, und legt sie ihm zwischen die Schulterblätter. Warm und schwer unterdrückt sie alle Geräusche, und er fühlt sich kurz taub.

»Auf deine Uroma«, sagt Georg und nimmt einen Schluck Bier. Cemal trinkt auch und lässt den Kopf im Nacken. Keine Sterne heute, wie zu jeder Nacht in der Stadt. Aber so auch keine Warzen.

In seinem Kopf trägt Cemal das Lied aus dem Park mit heraus, immer weiter bis zu Georgs Haustür. Can’t Stop. Georg schaut ihn an, was er fühlen, aber nicht wissen kann. Er sieht nicht auf.

»Und?«

»Heute nicht.«

»Das war nicht die Frage.«

So ist das immer mit den klaren Sachen. Müssen nicht ausgesprochen werden, weil sie sich von allein auf überdimensionalen Silbertabletts präsentieren. Noch eine gehäkelte Zierdecke darauf, und man kann an ihrer teeigen Bittersüße verzweifeln. Klar ist es klar. Es geht seit einem Monat – in des einen Zeitgefühl schon und in des anderen nur – nicht mehr bloß um die jeweils heutige Nacht. Stattdessen geht es um alle zukünftigen Nächte. Was für ein Widerspruch, denn alle bisherigen zukünftigen Nächte sind ja mal heutige Nächte und nun auch noch vergangene Nächte gewesen. Cemal ist gut darin, solche Unstimmigkeiten im Universum aufzuspüren. Er tut praktisch den ganzen Tag nichts anderes. Beobachtet, stellt fest, behält für sich. So hat er gelernt, dass die wenigsten Menschen ihre liebevoll arrangierten Konflikte aufbrechen wollen, alles soll bleiben, wie es ist, er kann sich davon ja selbst nicht freisprechen. Aber wer hätte schon mit Georg rechnen können.

Er starrt auf die längst zugefallene Glastür. Das Licht im Treppenhaus geht aus und wieder an, ein Menschenumriss taucht auf. Georg vielleicht nochmals? Nein, eine Nachbarin. Cemal nickt ihr leicht zu, sie schaut mit zusammengeschnürten Augenbrauen an ihm vorbei, er setzt sich in Bewegung. Er weiß, dass Georg jetzt oben seine Stan Smiths auszieht, sich ein weiteres Bier aufmacht und zum Grübeln und ihm Nachblicken auf den Balkon geht. Vielleicht wie an ihrem ersten Abend, als sie sich vor der Tür nach einer Ewigkeit des Schweigens verabschiedeten, Cemal sich schließlich in Richtung U-Bahn losbewegte und nach einigen Schritten einen schrillen Laut hörte, ein Pfeifen. Ging weiter, hörte es noch mal. Blieb stehen, richtete den Blick in einer Ahnung auf die Balkonfront des Hauses. Im ersten Stock nahm Georg seine Fingerspitzen aus den Mundwinkeln und grinste breit.

Nun vögeln sie seit einem halben Jahr, und er fragt sich, manchmal, ernsthaft, womit er sein Leben vorher verbracht hat. Stimmengewirr im Herzen, nach innen gerichtete Bilder, schön und beunruhigend, zu mächtig, seine Wangen röten sich, als hätte ihm die Wahrheit höchstpersönlich eine verpasst. Unsicherheit macht üblicherweise seinen Heimweg aus. So lange, bis er, immer mit dem rechten Fuß zuerst, in seine Wohnung eintritt und der Rosavibe ihn wieder einlullt. Ekin ist inzwischen sechs Jahre alt und im Schnitt auch nur einmal die Woche oder sogar nur alle vierzehn Tage da, aber ihre frühlingsblumige Aura hat sie mit ihrem ersten Wochenende in den viel zu kühlen Altbau mitgebracht und seither nicht mehr ausziehen lassen.

Er hatte damals aus Nervosität den Schlüssel zweimal fallen lassen, bevor er es endlich zustande brachte, die Wohnungstür aufzuschließen. Gül behielt Ekin so lange geduldig auf dem Arm, die kleinen Tochterarme um ihren Hals unter dem haselnussigen hochgesteckten Haar geschlungen. Es roch frisch renoviert. Seine Prinzessin war nicht begeistert. Ihre Füße tapsten vorsichtig über den Dielenboden, als sie sich von ihren Eltern ermutigt auf das kleine Zimmer links vom Wohnungseingang zubewegte. Cemal hatte eine Fähnchenkette gekauft und  E K İ N  mit einem aus der Schule geliehenen Glitzerstift darauf geschrieben. Die Reviermarke hing nun über dem Kinderbett, welches exakt dasselbe Modell wie in Güls Wohnung war. Darauf eine rosa Wolke aus Kissen und Decken, darauf ein neues Stofftier. Bisschen Bestechung kann nicht schaden, hatte Cemal sich gedacht. Während die Kleine schüchtern einen Zeigefinger in die Gesichtsmitte des Oktopus drückte, blickte er zu seiner Ex hinüber.

»Tamam mı«, fragte er tonlos.

Sie atmete ebenso tonlos, aber dafür sehr geräuschvoll durch den Mund aus.

Wie bei allen Stadtmenschen schien ihre gesamte Beziehung hauptsächlich unter dem Vorzeichen von Wohnungsfragen gestanden zu haben. Ihr Unwohlsein in seiner WG, sein zugewiesener Platz auf der Couch im Wohnzimmer ihrer Eltern, das Aufspüren eines beobachtungsfreien Orts zur richtigen Zeit. Platzangst bei Massenbesichtigungen, stets ein neues Stechen bei Absagen, weil da immer so ein Gefühl zurückblieb, Stadtteildiskussionen. Letzten Endes hatte Güls Vater über Bekannte eine gepflegte Wohnung in direkter Familiennähe klargemacht. Nachdem die Mitglieder ebendieser Familie sich wieder und wieder den samstäglichen Streifzügen durchs Einrichtungshaus angeschlossen hatten, die Schwiegermutter in der Küchenplanungshölle, die Schwägerinnen ein Sofa nach dem anderen testend, der Schwiegervater unter den UV-Pflanzenlampen in der Gartenabteilung, sah sich das junge Paar einen Monat vor der Hochzeit gezwungen, auf Heimlichkeit beim Möbelkauf zu setzen. Mittwochs, wenn Gül früher aus dem Büro konnte, fuhr sie nun entgegen aller zu Hause aufgestellter Behauptungen nicht mehr direkt ins Fitnessstudio, sondern zu Cemals Arbeit, wo sie in ihrem dunkelblauen VW Golf im Halteverbot gegenüber dem Schulhof ausharrte, bis ihr Verlobter mit schnellen Schritten und ordnerschwerer Tasche auf sie zukam. Dann schnippte sie ihre Zigarette aus dem Fenster und räumte die CD-Hüllen vom Nebensitz ins Handschuhfach. Alles Gekaufte entluden sie in der neuen Wohnung, deren Schlüssel sie bereits ihr Eigen nennen konnten, auch das war dem Schwiegervater zu verdanken.

Am Tag der Wohnungsübergabe hatten sie diesen sehr süßen Moment, nachdem der Vermieter gegangen war. Sie schlenderten durch die Wohnung, helle, riesige Fenster überall außer im Bad, dort blieben sie vor dem hässlichen Waschtisch, der unbedingt ausgetauscht werden musste und es laut Vereinbarung auch durfte, stehen und strahlten einander Reflexionen im Spiegel an. Sie waren glücklich, sie hatten eine Ahnung von der bevorstehenden guten Zeit, es war das perfekte Setting für eine kleine Nummer. Wenn also an all den Möbelkaufmittwochen nach dem Verräumen und Abmessen und gedanklich Einrichten noch Zeit war, vögelten sie wieder im Bad, um diesen sehr süßen Moment zu reproduzieren, danach fuhr Gül zum Sport, um die Passform ihres Hochzeitskleides nicht dem Zufall zu überlassen, und Cemal baute vor der Geräuschkulisse dessen, was der gigantische neue Fernseher an Programm ausspuckte, Möbel auf. Alles, was seine Hände zusammenschusterten, war ihm gleich. Die Wohnwand, die Schlafzimmerkommoden, der Couchtisch und der Schuhschrank. Alles entsprach Güls Geschmack, denn man war sich einig, dass er selbst keinen hatte. Nicht wegen der Möbel also, aber wegen allem anderen formten diese allein verbrachten Abende die neue Wohnung nach und nach zu einem Zuhause für Cemal. Rückblickend hätte er es vielleicht als dunkles Omen erkennen sollen, dass er seine erste Nacht als verheirateter Mann nicht mit Gül verbrachte. In einem Fußgängerkonvoi bestehend aus dem Brautpaar, den drei jüngeren Schwestern der Braut, dem Trauzeugen des Bräutigams und dessen jüngerem Bruder torkelte man laut flüsternd durch die Nacht auf Güls Elternhaus zu. Zum Abschied hob Gül ihr Kinn für einen Kuss an, die durch den Alkohol noch helleren Mädchen- und noch dunkleren Jungsstimmen machten Publikumsgeräusche, und im nächsten Moment fand Cemal sich allein in der Mittwochabendwohnung wieder, die er nach der Hochzeitsfeier mit Gül gemeinsam bewohnen würde. Metin und Mesut waren offenbar schon weg, wenngleich er sich nicht erinnern konnte, sich verabschiedet zu haben. Er streckte sich mittelschwer betrunken auf dem kilim im Wohnzimmer aus. Dieser Teppich war sein Lieblingsstück in der Wohnung. Die Zukunft winkte ihm wohlgesonnen zu. Die Decke drehte sich. Cemal schloss die Augen.

Im Dorf war alles, auf das er sich gelegt hatte, hart gewesen. Die karyola: die schmale Liege im Wohnzimmer der Großeltern. Der nackte Steinboden, auf dem er sich manchmal zur Kühlung ausstreckte, immer nur für zwei Sekunden, bis auch schon jemand mit ihm schimpfte, er solle nicht auf dem Boden liegen. Er verstand nie, warum. Und sein Bett, die Matratze, die einfach nur aus Härte zu bestehen schien, darauf weitere, kleinere Härtepolster als Kissen. In der Hoffnung, es könne die Ungemütlichkeit vergessen machen und ihn zum Einschlafen bewegen, sang...

Erscheint lt. Verlag 20.2.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Aydemir • Debüt • Deutsch-Türkisch • Diaspora • Einwanderung • Gümüsay • Hengameh • Homosexualität • literarischer Roman • männlicher Protagonist • Migration • Preisgekrönt • Transgenerationell • Trennung • Zugehörigkeit
ISBN-10 3-7530-0101-5 / 3753001015
ISBN-13 978-3-7530-0101-2 / 9783753001012
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