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Mein Leben unter den Großen (eBook)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
224 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31181-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mein Leben unter den Großen -  Madame Nielsen
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Vor langer Zeit, als Madame Nielsen vielleicht noch ein junger Mann war, kommt er aus der Provinz nach Kopenhagen, um Künstler zu werden und den großen Autorinnen und Autoren seines Landes zu begegnen. Doch aus der Nähe zeigen auch die Großen ihre allzu menschlichen Seiten ... Dieser Roman mit seiner unnachahmlichen Mischung aus Hans Christian Andersen, Samuel Beckett und Buster Keaton zementierte Madame Nielsens Ruf als eine der bedeutendsten dänischen Autorinnen der Gegenwart und war für den wichtigsten gesamtskandinavischen Literaturpreis nominiert. Im Lauf von zwölf skurrilen, peinlichen, ergreifenden, ganz und gar unmöglichen und hinreißend zärtlichen Begegnungen formt sich allmählich das Bild eines dreizehnten Schriftstellers.

Madame Nielsen, Autorin, Sängerin, Künstlerin, weltweite Performerin. Ihre Romane wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, und sie war mehrfach für den Nordic-Council-Preis nominiert. Ihr Roman »Der endlose Sommer« erschien 2017 auf Deutsch und wurde ein großer Erfolg. Die Autorin spricht fließend Deutsch.

Madame Nielsen, Autorin, Sängerin, Künstlerin, weltweite Performerin. Ihre Romane wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, und sie war mehrfach für den Nordic-Council-Preis nominiert. Ihr Roman »Der endlose Sommer« erschien 2017 auf Deutsch und wurde ein großer Erfolg. Die Autorin spricht fließend Deutsch. Hannes Langendörfer, geboren 1975 in Heidelberg, studierte in Freiburg und Uppsala Skandinavistik und Germanistik. Er lebt als Übersetzer aus dem Dänischen, Schwedischen und Englischen in Berlin.

Die Geschichte unserer Zeit


Als ich mit neunzehn zum ersten Mal nach Kopenhagen kam, war ich noch nie im Leben einem berühmten Menschen begegnet. Am ehesten noch, als der westdeutsche Handball-Gott Hansi Schmidt mir Mitte der Siebziger nach einem Kampf gegen die Lokalhelden vom HC Stjernen ein Autogramm in mein Turnierheft kritzelte, kurz den Kopf hob und mich sogar sah, ehe ich von der Menge der Fans verschluckt und fortgespült wurde. Menschen, die etwas Außergewöhnliches waren, kannte ich nur aus der Zeitung, den Illustrierten und dem Fernsehen. Nie hatte ich jemand Berühmtes auf der Straße oder zufällig in der Stadt im Kaufhaus gesehen, und dass ich jemals mit einem bedeutenden Menschen reden würde, konnte ich mir einfach nicht vorstellen. Mit sechsundzwanzig zog ich nach Kopenhagen. Ein paar Wochen vor dem Umzug hatte meine erste und bis dahin einzige Freundin mit mir Schluss gemacht, und ich war allein in einem Sommerhaus an der Nordsee. Es war März, die Landschaft farblos und verlassen, und ich wusste nicht, was ich mit meinem Leben anfangen sollte, also schaltete ich den Fernseher ein. Ich landete mitten in einer Sendung. Schauplatz war die Storebælt-Fähre, die damals noch zwischen Nyborg und Korsør verkehrte. In drei unförmigen, aufblasbaren Sitzsäcken aus durchsichtig blauem Plastik hockten drei Männer und unterhielten sich. Zwei von ihnen waren Künstler, der dritte Schriftsteller. Zu der Zeit hatte ich weder von Kunst noch von Künstlern groß eine Ahnung, ich kannte nur, was ich in meiner Kindheit und frühen Jugend gesehen hatte, wenn meine Eltern auf der Hin- oder Rückfahrt vom Sommerhaus mal einen Zwischenstopp eingelegt und mit meinen beiden Schwestern und mir eine Galerie oder ein Museum besucht hatten. Die großen Autoren unsres Landes kannte ich praktisch nur vom Bücherregal meiner Eltern, wo ihre Namen auf jedem dritten oder fünften Buchrücken standen, alles Bücher aus dem Gyldendal Buchclub. Ein paar von ihnen hatte ich in die Hand genommen und auf der Jagd nach erregenden Stellen durchgeblättert, die mir eine mickrige, schamhaarlose Erektion bescheren konnten. Bei der Abschlussprüfung am Ende der Neunten war ich mit einem Gedicht von Morten Nielsen drangekommen, aber worum es darin ging, wusste ich damals so wenig wie heute. Mit siebenundzwanzig hatte ich fast nur Jungsbücher gelesen, Detektiv Kim, die Jan- und die Flemming-Bücher, dann Fünf Freunde, »Geheimnis um …«, Die schwarze Sieben, Alfred Hitchcock und die drei Fragezeichen und später Alistair McLean, Der Herr der Ringe, Unten am Fluss, Das Mädchen in der Schaukel, Ayla und der Clan des Bären und, als einzigen großen Autoren unsres Landes, dessen Namen ich mir gemerkt habe: den Weltumsegler Troels Kløvedal. Einmal hatte Lola Baidel, eine der größten Dichterinnen der Zeit, an meiner Schule aus ihren Gedichten gelesen, aber ausgerechnet an dem Tag lag ich schwitzend und schlotternd mit Grippe zu Hause in meinem Schubkastenbett mit den zwei grün karierten Schaumstoffmatratzen und bekam kein Wort davon mit. Worüber die drei Männer auf den aufblasbaren, durchsichtig blauen Plastiksitzsäcken redeten, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur, dass ich am nächsten Morgen die sechs Kilometer vom Sommerhaus in die nächste kleine Stadt und in die dortige Schule ging, wo es damals noch eine gemeinsame Schul- und Stadtbibliothek gab. Im Regal mit der Aufschrift »Lyrik« stand ein einzelnes Buch von demjenigen der drei Männer auf den aufblasbaren blauen Plastiksitzsäcken, der laut Einblendung am Bildrand Schriftsteller war. Das Buch war verblüffend dünn, kaum dicker als ein Micky-Maus-Heft. Aber noch enttäuschender war sein Titel. Die Geschichte unserer Zeit. Ich hatte mich nie für Geschichte interessiert, in der Schule gab’s so was wie »Geschichte« überhaupt nicht, in meiner ganzen Kindheit und frühen Jugend drehte sich alles nur um Sport, drinnen in der Halle oder draußen auf den Bolzplätzen, samstags vorm Fernseher, wenn Fußballtoto kam, und jeden Nachmittag mindestens eine halbe Stunde auf dem Klo mit der Sportbeilage vom Montag oder dem Tischtennis-Monatsmagazin. Ich konnte die Namen aller Spieler von sämtlichen sechzehn Nationalmannschaften bei der Fußball-WM in Westdeutschland auswendig, aber »die dänische Thronfolge« kannte ich nur aus den Geschichten, die mein Vater über seine Schulzeit in Fredericia und Tønder erzählte. Ich weiß auch nicht, was ich mir vorgestellt hatte. Jedenfalls nicht ein Buch über Die Geschichte unserer Zeit. Andererseits: Etwas Neues musste passieren, irgendwas, ich war sechs Kilometer bis zu dieser Kleinstadt gelaufen, gleich würde ich dieselben sechs Kilometer wieder zurücklaufen und dazu noch bei steifem Gegenwind aus West, ich musste unbedingt als ein anderer zurückkehren, oder wenigstens mit dem Ansatz zu einem völlig neuen Leben, also griff ich mir zuletzt doch Die Geschichte unserer Zeit, ließ sie von der Schulbibliothekarin stempeln und ging auf der Schotterstraße zurück zum Sommerhaus. Den Rest des Tages und die Nacht durch und den Tag und die Nacht darauf las ich Die Geschichte unserer Zeit. Ich las langsam und gründlich und laut vor mich hin und verstand rein gar nichts. Die Geschichte, von der das Buch laut Titel angeblich handelte, wurde mit keinem Wort erwähnt, und auch das Buch selbst war keine Geschichte. Trotzdem machte es auf mich einen großen Eindruck. Die Stelle, an der die Hauptperson, die keinen Namen hat, sondern nur ich heißt, wie du und ich, im Zug aus dem Fenster schaut, und die Landschaft »vorbeiwirbelt«, und wenige Zeilen später ist »das Universum nicht größer als ein Stecknadelkopf«, »eine Glut«, die aufflammt und erlischt. Im Lauf der nächsten Tage oder Wochen schrieb ich fünf Gedichte und beschloss, nach Kopenhagen zu fahren. Ich zog in eine Wohngemeinschaft im dritten Stock, ich hatte von allen am wenigsten Geld, aber da ich auch keine Möbel besaß, bloß eine Matratze und einen Rucksack mit Klamotten, Zahnbürste und den fünf Gedichten, und mit meinen knapp sechzig Kilo auch selbst nicht viel Platz wegnahm, konnte ich problemlos in dem hintersten Kämmerchen hausen, einem viereckigen Raum mit Petroleumofen und winzig kleinem Dachfenster, durch das immer zur vollen Stunde das Glockenläuten der drei umliegenden Kirchen dröhnte, ohrenbetäubend und ganz außer Takt. Ich setzte meinen Rucksack ab, ging zur Post und schickte meine fünf Gedichte an die einzige Literaturzeitschrift, von der ich je gehört hatte, ging in die Bibliothek und lieh eine dicke Anthologie mit dänischen Gedichten aus den letzten Jahrhunderten aus, nicht bloß Die Geschichte unserer Zeit, nein, die ganze, große Geschichte. Auf dem Rückweg kaufte ich einen Kanister Petroleum und fand einen kleinen Tisch und einen Stuhl in einem Müllcontainer. Ich schleppte den ganzen Kram hoch in mein Kämmerchen im dritten Stock, lieh mir von einem meiner Mitbewohner einen Stapel Papier und ein paar Bleistifte, legte den Stapel neben das Buch mit den dänischen Gedichten der letzten Jahrhunderte auf den Tisch, setzte mich hin, schlug es auf und fing an zu lesen. Die nächsten Wochen oder Monate saß ich an dem Tisch, las in dem Buch und schrieb einzelne Wörter und manchmal sogar ganze Zeilen auf die Blätter, die sich im Lauf der Tage und Nächte auf dem Tisch stapelten, auf den Boden segelten, herumflogen und zu kleinen Haufen sammelten wie das Laub eines kubistischen Albinobaums. Jede Stunde, rund um die Uhr, schmetterten die Kirchenglocken durch das winzige Dachfenster und dröhnten in meinem Schädel, der sich immer leerer und mehr oder weniger inspiriert anfühlte, während der Frühling Sommer wurde, schwerer Regen gegen die Scheibe schlug und tief unten im Hof auf den Boden klatschte. Nur ein Mal alle drei oder fünf Stunden stand ich auf, um kurz in der Küche mein Wasserglas zu füllen und vielleicht, wenn ich zufällig gerade allein war, eine dünne Scheibe von dem Brot eines der anderen abzuschneiden und ein klein bisschen Butter eines Dritten draufzuschmieren, vielleicht auch einen Hauch Gutsleberwurst. Auf dem Weg zurück ließ ich Wasser. Das war alles. Ein paar Wochen später kam die Absage von dem Redakteur der Zeitschrift, einem der großen, alten Dichter des Landes. Er hatte meine fünf Gedichte gelesen und wollte keins davon drucken, ermunterte mich aber dennoch, ihm mehr Gedichte zu schicken, nicht gleich, versteht sich, in einem halben Jahr oder so, wenn ich mich etwas weiterentwickelt hatte. Gegen Ende des folgenden Winters schickte ich dem Redakteur der Zeitschrift weitere neun Gedichte. Meine fünf Erstlinge, dachte ich, waren vielleicht nicht künstlerisch genug gewesen, auch der Schriftsteller hatte ja nicht allein auf seinem aufblasbaren blauen Plastiksitzsack gehockt, sondern in Gesellschaft zweier richtiger Künstler. Meine Gedichte mussten unbedingt auch einen Bezug zur Kunst haben, also ging ich in die Küche, und da ich zufällig gerade allein war, stibitzte ich eine Rote Bete aus dem Kühlschrankfach eines Mitbewohners, schnitt sie mittendurch, zog alle meine Sachen aus, verteilte neun Blatt weißes Papier auf dem Boden, rieb eine Rote-Bete-Hälfte gegen mein Knie, presste das Knie auf eins der Blätter und wiederholte danach die Prozedur mit acht anderen Körperteilen, presste erst die Hand, dann eine Wange, dann die Stirn, eine Pobacke, den Mund, den linken Fuß, die rechte Schulter und zu guter Letzt meinen Penis auf je eins der neun weißen Blätter. Ich zog mich wieder an, las die neun »Rote-Bete-Drucke« vom Boden auf und ging in die Bibliothek, wo ich eine...

Erscheint lt. Verlag 8.5.2024
Übersetzer Hannes Langendörfer
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Claus Beck Nielsen • Dänemark • Dänische Literatur • dänischer Bestseller • Das Monster • Der endlose Sommer • Humor • Interview • Lamento • Literaturpreis des Nordischen Rates • Nordic-Council-Preis • Parodie • Peter Hoeg • Peter Høeg • Porträts • Samuel Beckett • Sarkasmus • Schrifststeller • Schriftstellerinnen
ISBN-10 3-462-31181-6 / 3462311816
ISBN-13 978-3-462-31181-5 / 9783462311815
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