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Die Schwestern (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
192 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-25869-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Schwestern -  Daisy Johnson
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Eine literarische Gothic Novel für das 21. Jahrhundert - verfilmt unter dem Titel »September Says«
Die Schwestern Juli und September sind unzertrennlich: Sie teilen sich einen Geburtstag, ein Handy, ein Bett. Doch als Juli sich für einen Jungen aus der Schule interessiert, gerät die eigene kleine Welt der Schwestern ins Wanken. Was geschah damals auf dem Tennisplatz der Schule, im strömenden Regen? Was haben Juli und September getan, dass ihre Mutter nicht mehr mit ihnen spricht? Juli weiß nur, dass sie deswegen hier sind, in dem einsamen, verfallenen Cottage an der englischen Küste. Während das Haus sich unter dem Gewicht von Zorn und Trauer zunehmend auflöst, erinnert sich Juli plötzlich an ein schreckliches Versprechen...

Andeutungsreich und psychologisch meisterhaft erschafft Daisy Johnson ein klaustrophobisches häusliches Setting und zeigt, wie schnell Liebe in Grausamkeit umschlagen kann.

Daisy Johnson, geboren 1990, war mit ihrem ersten Roman Untertauchen die jüngste Autorin, die jemals Finalistin des Booker Prize war. Ihr zweiter Roman Die Schwestern stand auf der Shortlist für die Initiative »Futures« des Women's Prize for Fiction, welche die talentiertesten britischen Nachwuchsautor*innen auszeichnet, und wurde unter dem Titel September Says von Ariane Labed verfilmt. The Hotel ist nach Fen ihr zweiter Erzählband; für ihre Kurzgeschichten erhielt sie den Harper's Bazaar Short Story Prize, den A. M. Heath Prize und den Edge Hill Short Story Prize. Ihr immersives Theaterstück Viola's Room hatte 2024 mit Helena Bonham Carter als Erzählerin Premiere. Daisy Johnson lebt mit ihrer Familie in Oxford.

JULI


1 Da sind wir. Da ist es.

Zu diesem Haus sind wir aufgebrochen. Dieses Haus war unser Ziel. Gestrandet am Rand der North York Moors, gleich neben dem Meer. Mit gespitzten Lippen lecken wir das Salz von den Chips, die Glieder schwer, von Wachstumsschmerzen verbogen. Das glühend heiße Lenkrad, das Flimmern der Straße. Wir waren stundenlang unterwegs, auf der Rückbank vergraben. Als sie ins Auto stieg, sagte Mum: Sehen wir zu, dass wir da sind, bevor es dunkel wird. Und dann hat sie lange Zeit nichts mehr gesagt. Wir stellten uns vor, was sie sagen könnte: Das ist eure Schuld. Oder: Wir hätten nie fortgemusst, wenn ihr nicht getan hättet, was ihr getan habt. Was sie damit meint, ist, wenn wir nicht zur Welt gekommen wären. Wenn wir erst gar nicht zur Welt gekommen wären.

Ich ringe die Hände. Kann noch nicht sagen, wovor ich Angst habe, nur, dass sie riesig ist. Hier ist das Haus. Wie ein Kind kauert es neben der kleinen Schiefermauer. Hinter der Mauer die leere Schafweide, pockig vor trockenen Köteln und mannshohen Dornbüschen. Als ich die Tür aufstoße, ein Sog; abgestandene Luft trifft auf frische. Der Geruch von Dung. Die Hecken verwildert, durch den Beton drängendes Unkraut, der schmale Vorgarten verfilzt von Gerümpel, alten Spatenblättern, Plastiktüten, zerbrochenen Blumentöpfen mitsamt ihren halblebendigen Wurzelballen. September balanciert auf der schiefen Gartenmauer, sie verzieht den Mund zu etwas, das ein Lächeln sein könnte oder auch nicht. Die Fenster verhangen vom Spiegelbild ihres Körpers, von meinem Gesicht dahinter, Augen wie Höhlen, und noch weiter hinten unsere Mutter, die erschöpft an der Motorhaube lehnt. An einer Wand stehen Gerüstteile, auf der Straße liegen kaputte Dachziegel. Ich greife nach Septembers Arm und überlege, ob ich ihr die Zähne in die Haut drücken soll, vielleicht finde ich durch den Kontakt heraus, was sie gerade denkt. Manchmal kann ich das. Nicht mit Sicherheit, aber manchmal ist es, als würde das Wissen zu mir weitergeleitet. Wie wenn Mum in mehreren Zimmern das Radio laufen hat, sodass man, wenn man im Gang steht, etwas zeitversetzt den Widerhall hört. Doch September wirbelt davon und krächzt wie eine Elster.

Ich ziehe ein Taschentuch heraus und putze mir die Nase. Die Sonne geht zwar schon unter, aber noch brennt sie auf meine nackten Schultern. In meiner Tasche sind Hustenbonbons, überzogen von Fusselflaum. Ich stecke eins in den Mund.

Ein schmutzverkrustetes Schild an der Hauswand. Ich reibe so lange mit dem Taschentuch daran herum, bis ich die Schrift lesen kann: DAS RUHEHAUS. Wir haben noch nie in einem Haus gewohnt, das einen Namen hatte. Haben noch nie in einem Haus gewohnt, das so aussah: so angefressen, ausderformgeraten, verdreckt. September wirbelt herum. Ich kneife fünfmal hintereinander die Augen zu, damit sie nicht fällt oder, falls doch, heil landet wie eine Katze.

Dann schaue ich zu Mum. Sie stemmt sich vom Auto weg, ihr Körper sieht aus, als wäre er zu schwer für sie. So – schweigsam oder stumm – ist sie seit dem Vorfall in der Schule. Wenn sie nachts oben im Oxford-Haus auf und ab ging, haben wir ihren Schritten gelauscht. Sie hat kaum noch mit uns gesprochen, ab und zu mal einen Satz, hat uns kaum in die Augen gesehen. Sie ist eine andere in einem vertrauten Körper, und ich wünsche sie mir zurück. Sie stößt mit dem Zeh das Gartentor auf.

Hilf mir, sagt sie im Vorbeigehen. Ursa hat gemeint, der Schlüssel liegt unter dem Frosch.

Wir machen uns auf die Suche. Der Boden wimmelt vor Insekten. Ich grabe einen Wurm aus und erschrecke, als ich fühle, wie weich er ist, wie nachgiebig.

Schluss mit dem Unsinn, sagt Mum, und wir suchen vornübergebeugt im Gras, bis ich ihn ertaste, einen Steinfrosch, fettlippig, knopfäugig und im Gestrüpp kaum zu erkennen. Mum tippt mit dem Stiefel dagegen, stöhnt, kein Schlüssel. Typisch, sagt sie. Typisch. Und dann haut sie sich dreimal mit den Fäusten auf die Oberschenkel.

Die Maiwolken jenseits des Feldes haben sich stahlgrau gefärbt, sie ballen sich und schwellen bedrohlich an. Ich zeige darauf und sage: Schau.

Gut. Schnell. Such.

Wir stapeln die Taschen aufeinander und schauen unter leere Pflanzentöpfe, stochern mit den Füßen im struppigen Gras. Ich finde Münzen in der Erde. Ein Pfad führt am Haus vorbei in einen Garten mit abgerupftem Gras, an den Wänden sind Steinplatten aufgetürmt, ein verwaister Rechen liegt herum. Etwas, das vielleicht mal ein Grill war, ein Haufen Asche inmitten einer Ziegelkonstruktion. In die Hauswand sind Muscheln eingelassen, einbetoniert, und der Boden ist bedeckt von körnigem Sand und Kieseln, die das Meer glatt geschliffen hat. Ich spähe durch ein Fenster. Hinter der Scheibe: Düsternis, Wände, Regale, womöglich die Speisekammer. Ich spucke in die Hände und wische über das Glas. Das hellere Rechteck eines Türrahmens, dahinter verschwommene Schatten, eine Couch oder ein Tisch, etwas, das die unterste Stufe einer Treppe sein könnte. Neben mir drückt sich September die Nase platt, presst die Fäuste gegen die Scheibe. Der süße Geruch des Parfüms, das wir in der Drogerie neben der Schule geklaut haben, ihr Atem, der nach ungeputzten Zähnen riecht. Sie glotzt mich an, rollt die Zunge, zwickt mich in den Arm. Mein Gesicht sieht komisch aus, die Proportionen stimmen nicht, meine Wangen sind zu lang, die Augen schmal wie die Münzschlitze von Parkautomaten.

Ich sehe Mum ähnlich. Oder ihrer Mum, wie sie sagt, unserer Großmutter in Indien, wo wir nie waren. September sieht anders aus. Wir können uns zwar nicht an unseren Vater erinnern, aber bestimmt ähnelt sie ihm – glattes Haar, mit weichem, hellem Flaum bedeckte Wangen, blasse Augen wie ein Schneeleopard.

Was wir über ihn wissen, haben wir nur nach und nach in Erfahrung gebracht, und selten kampflos. Mum hat ihn kennengelernt, als sie dreiundzwanzig war und in Kopenhagen, wo er damals lebte, Urlaub machte. Drei Tage lang ist er ihr durch die Stadt gefolgt. Mum sagt, das war typisch für ihn. Obwohl er perfekt Englisch sprach – denn er ist hier aufgewachsen –, hat er sich einen Spaß daraus gemacht, Dänisch mit ihr zu reden. Es gefiel ihm, dass sie ihn nicht verstand. Auch das war typisch für ihn. Er ist gestorben. Wie? Vier Jahre lang haben wir sie gelöchert, bis sie schließlich nachgab. Ertrunken im Swimmingpool eines Hotels in Devon. Zu dem Zeitpunkt waren sie schon nicht mehr zusammen, und wir drei – September war gerade mal fünf, ich etwas jünger – wohnten woanders. Erst ein knappes Jahr später rief seine Schwester an, um Mum von seinem Tod zu erzählen. Wir haben gelernt, nicht nach ihm zu fragen. Uns fehlen die Worte, um ihn zu beschreiben. Wir haben ihn nicht gekannt. September hat mal gesagt, er sei ein Heulendergaunerbandenbildenderplünderer gewesen, woraufhin Mum lachte und meinte, das stimme, doch dann hat sie stundenlang gar nichts mehr gesagt und den Gesichtsausdruck bekommen, den wir schon kannten. Jedes dritte oder vierte Weihnachten kommt seine Schwester Ursa uns besuchen. Manchmal versuchen September und ich, ihr Informationen über ihn abzutrotzen, doch sie gibt nie nach. Ursa fährt ein Cabrio, bleibt nie länger als einen Tag und schläft im Hotel statt bei uns. Sie hat kurzes blondes Haar, und es ist vorgekommen, dass wir sie von hinten für ihn hielten, unseren lang verschollenen Vater, den Grund dafür, dass unsere Mutter so traurig ist und dass es uns gibt. Das Haus am Moor gehört Ursa, aber sie vermietet es; sie wohnt nicht hier, sondern füllt es mit Leuten wie uns, die nicht wissen, wohin.

Der Wind frischt auf, und wir entdecken in der Seitenwand ein Fenster, das zwar nicht groß ist, aber offenbar locker. Als wir dagegendrücken, schwingt es nach innen auf.

Mum steht vorn, vor dem Haus, in der Hand einen Stein aus dem nahe gelegenen Feld, den sie gleich durch das Fenster neben der Tür werfen wird. Ich halte mir die Ohren zu. Das Blut wummert mir in den Ohren, Angst schießt mir in die Knochen und steigt mir in die Kehle.

Wir haben ein offenes Fenster gefunden, schreit September. Ich glaube, wir passen durch. Mum dreht uns das versteinerte Gesicht zu, ihre Mundwinkel zeigen nach unten, in die Haut geritzt.

Das Fenster führt in eine Speisekammer. Als wir drin sind, greifen wir uns an den Händen. Der Fliesenboden ist schmutzig und da, wo er auf die feuchte Wand trifft, gesprungen. Holzregale. Dosen mit Suppe und Bohnen, ein paar ausgeblichene Spaghettipackungen. In der Luft hängt ein Geruch mit einer süßlichen Note, die ich nicht zuordnen kann. Die Decke ist niedrig, ich stoße mit dem Kopf gegen die nackte Glühbirne.

September summt, wie immer, wenn sie aufgeregt ist und will, dass ich es weiß. Ihr Summen kann alles Mögliche bedeuten. Hallo, wo bist du / Komm her / Lass das / Du nervst. Ich merke, dass ich mich vor dem Haus fürchte. Ich fürchte mich auch davor, dass Mum wütend ist und September genervt. Wir waren schon mal hier, ein Mal nur, ich kann mich fast nicht daran erinnern.

Was ist das?, frage ich.

Was?

Der Geruch.

Keine Ahnung. Eine tote Maus?

Sag doch nicht sowas.

Durch die Tür der Speisekammer spähen wir in den Flur, links ist die Haustür, daneben eine geschlossene Tür, wahrscheinlich zu einem Bad. Weiter hinten ist die Treppe, rechts eine weitere Tür und unmittelbar vor uns erstreckt sich das Wohnzimmer. Die Räume sind komisch angeordnet, irgendwie willkürlich, mit einer Speisekammer, die mehr oder weniger direkt ins Wohnzimmer führt. Es riecht nach Essen, das zu lange herumgestanden hat. Wir betreten das Wohnzimmer. In der Ecke kauert eine gedrungene, formlose Gestalt aus...

Erscheint lt. Verlag 10.7.2024
Übersetzer Birgit Maria Pfaffinger
Sprache deutsch
Original-Titel Sisters
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2024 • ariane labed • cannes 2024 • Coming-of-age • eBooks • England • Familiengeschichte • Gothic • Identität • Mobbing • Mutterschaft • Neuerscheinung • Roman • Romane • Schwestern • september says • sydney filmfestival 2024 • Trauer • Trauma
ISBN-10 3-641-25869-3 / 3641258693
ISBN-13 978-3-641-25869-6 / 9783641258696
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