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Malnata (eBook)

Roman - 'Dieses Buch ist wie eine Stichflamme und hat mich komplett entzündet.' Mareike Fallwickl
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
272 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-29696-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Malnata -  Beatrice Salvioni
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Eine junge Frau mit einem unbeugsamen Willen. Und eine Gesellschaft, die versucht, sie zu brechen.
Unter der sengenden Sonne der Lombardei im Jahr 1935 begegnet Francesca zum ersten Mal Maddalena, die von allen im Ort nur »Malnata« genannt wird: »Die Unheilbringende«. Francesca - zu Konformität und Gehorsam erzogen - ist sofort fasziniert von dem barfüßigen Mädchen, dessen Hände immer schmutzig sind, die Augen voller Trotz. Entgegen allen Warnungen freundet sich Francesca mit Maddalena an und lernt mit der Zeit, den Lügen der Erwachsenen zu misstrauen. Doch in einer Gesellschaft, die keinen Platz hat für weibliches Freiheitsdenken, ist jedes falsche Wort und jede unfolgsame Tat eine Gefahr ...

Ein aufsehenerregender, vom Feuilleton hochgelobter Roman über die Macht weiblicher Selbstbestimmung und eine Hymne an die Kraft der Freundschaft. Beatrice Salvionis Debüt sorgte nicht nur in Italien für große Aufmerksamkeit, wo es wochenlang auf der Bestsellerliste stand: »Malnata« wird in 35 Sprachen übersetzt.

Beatrice Salvioni, geboren 1995, studierte Literatur an der Universität Mailand und besuchte dann in Turin die renommierte Schreibschule Holden, gegründet von Alessandro Baricco. Sie hat bereits mehrere Erzählungen geschrieben, von denen eine mit dem Premio Calvino ausgezeichnet wurde. 2021 erregte das literarische Debüt der jungen Autorin große internationale Aufmerksamkeit. La Malnata wurde noch vor Erscheinen in Italien zu einem literarischen Ereignis und verkaufte sich innerhalb weniger Wochen in 20 Länder; inzwischen sind es 35.

2.


Wenn die Malnata in ihren ausgetretenen Sandalen an ihnen vorbei über das Kopfsteinpflaster von Monza schlurfte, mit erhobenem Kinn und in Begleitung von zwei etwas älteren Jungen, beeilten sich die Frauen, das Kreuz zu schlagen und ein Stoßgebet zum Himmel zu schicken, und die Männer spuckten auf den Boden. Die Malnata streckte dann die Zunge heraus und verneigte sich laut lachend, als wäre sie dankbar für diese Beleidigungen.

Mit ihrem tiefschwarzen Haar, das so schief geschnitten war, als hätte man sie mit Schüssel und Fleischermesser frisiert, und mit ihren leuchtenden dunklen Augen, die ihr zusammen mit den schlanken, flinken Beinen etwas Katzenartiges verliehen, war sie für mich das schönste Geschöpf, das ich je gesehen hatte.

Vier Tage nach jenem Sonntag, an dem mein Blick von der Brücke dem ihren begegnet war, sprach sie zum ersten Mal mit mir.

Es war der 6. Juni 1935, das Patronatsfest zu Ehren von San Gerardo. Der Platz vor der Kirche und die Arkaden und Balkone ringsum waren mit Fahnen und Girlanden geschmückt, überall herrschte dichtes Gedränge wie an Ostern. In einer Prozession zogen die Gläubigen zum Leichnam des Heiligen, schlugen das Kreuz, küssten sich die Finger, um damit den Schrein mit der in Gold gewandeten Reliquie zu berühren und danach wieder auf den hellen Platz hinauszutreten, um tief Luft zu holen.

Die Glocken ächzten, und die Wolken waren schwer von der Hitze. Unter den Arkaden und im Kreuzgang boten Händler im Schatten der Maulbeerbäume Zuckerwaren und Blechspielzeug feil, auch eine Schießbude war dort aufgebaut. Signor Tresoldi, der Obsthändler, wartete hinter seinen Kirschen mit verschränkten Armen auf Kundschaft. Er machte ein grimmiges Gesicht und roch nach muffigen Handtüchern. Ab und zu stützte er sich mit seinen kräftigen Pranken auf den Marktstand und grölte: »Kirschen, Kirschen für drei Lire das Körbchen.« Sein Sohn Noè, dem die Wutausbrüche seines Vaters ins Gesicht geschrieben waren, stapelte Holzkisten vor den Säulen. Er hatte die Hemdsärmel bis über die Ellbogen hochgekrempelt wie ein gestandener Mann, obwohl er kaum drei Jahre älter war als ich und die Schule nicht hatte beenden dürfen. Es hieß, der Obsthändler habe seinen Sohn immer gehasst, das beweise schon der Name, den er für ihn ausgesucht hatte. Noè war im November auf die Welt gekommen, zeitgleich mit dem Hochwasser des Lambro. Der Fluss war über die Ufer getreten, hatte Brücken zum Einsturz gebracht und Keller überflutet. Und Noè hatte bei seiner Geburt alles Blut aus seiner Mutter herausgeschwemmt und nur sich selbst gerettet, genau wie Noè, der auf seiner Arche das Vieh mitnahm, ohne an die Menschen zu denken, die der Herrgott dann der Sintflut überließ.

Beim Patronatsfest zu Ehren von San Gerardo herrschte jene erbarmungslose Mittagshitze, die bei feierlichen Anlässen dazu führte, dass die Frauen der Stadt sich in zwei peinlich auf Abstand bedachte Gruppen aufteilten: in diejenigen, die sich weiße Handschuhe und ein leichtes gepunktetes Seidenkleid bis knapp unters Knie leisten konnten, und in all die anderen, die das ganze Jahr über zu sämtlichen Hochzeiten und Kommunionen ein und dasselbe grobe Herbstkleid auftragen mussten. Dann waren da noch die Dienstmädchen in ihren Schürzen und mit der Einkaufstasche in der Armbeuge, die aber mit dem Besorgungszettel in der geballten Faust hastigen Schrittes die andere Straßenseite entlangeilten und die Buden nur aus der Ferne beäugten.

Meine Mutter hielt mich an der Hand, sie trug ein rosa lackiertes, steifes Strohhütchen mit einem Band, das ihr über die Wange fiel. Im Kurzwarenladen hatte sie Kirschen aus Pappmaschee gekauft und sie mit Draht am Hut befestigt. Sie wollte von den anderen Frauen beneidet werden, vor allem von denen, die ohne Kopfbedeckung umherschlenderten und nur gucken konnten, weil ihnen die Kirschen am Stand des Obsthändlers zu teuer waren.

Meine Mutter begnügte sich nicht damit, dass die einfachen Frauen sich nach ihr umdrehten, auch ihren Männern machte sie schöne Augen. Mein Vater stand, die Jacke über der Schulter, vor der Schießbude. Neben ihm zielte Signor Colombo, den alle mit erhobenem Arm und ausgestreckter Hand grüßten, mit einem Gewehr auf Blechfiguren. Papa hatte seinen Hut abgesetzt und nestelte daran herum, während sich Signor Colombo alle Mühe gab, mit dem Korken zu treffen, als ginge es um Leben oder Tod. Er trug ein schwarzes Hemd mit lauter Verdienstorden an der Brust, ab und zu fuhr er mit dem Daumen über die grün-weiß-rote Anstecknadel mit den Initialen der National-Faschistischen Partei, als wollte er sich vergewissern, dass sie noch gerade saß.

Vor dem Süßwarenstand, der nach Honig und Krapfen duftete, stand Signor Fossati in einem unter den Achseln vergilbten Unterhemd, beide Daumen in den Gürtel gehakt. Er amüsierte sich über die Männer, die mit vom Wein geröteten Wangen den Schießstand umringten. Fossati spottete oft, Colombo hätte in den Särgen der Toten gewühlt, um sich all die Medaillen zu beschaffen. Dass er sie für wer weiß welche Heldentaten erhalten habe, sei frei erfunden, wahrscheinlich habe er sie beim »Faschistischen Samstag« in irgendeinem Sportwettstreit gewonnen, wenn das billige Blechzeug nicht gar ein Erbstück von den Großeltern war. Außerdem stichelte er, Colombo sei wie ein kleiner Junge, der gerne Krieg spielt, ein echtes Gewehr habe der noch nie zu Gesicht bekommen. Colombo wiederum verbreitete, Fossati wisse mit dem Frieden nichts Besseres anzufangen, als ihn in der Osteria di San Gerardo in Lambrusco zu ertränken und später hinter den Mühlen wieder von sich zu geben. Alle wussten das, auch wir Kinder, denn was in anderen Familien so vor sich ging, war Lieblingsthema beim Sonntagsbraten, wenn Freunde zu Gast waren und wir bis zum Schluss am Tisch sitzen bleiben mussten, weil »es sich so gehörte«.

»Kaufst du mir Kirschen?«

Ich zeigte auf den Stand von Signor Tresoldi und zog an der Hand meiner Mutter.

»Du weißt genau, was dein Vater gesagt hat.«

Dein Vater. Wenn jemand etwas tat, was ihr nicht in den Kram passte oder missfiel, schob sie es immer auf jemand anders. »Dein Vater möchte nicht, dass wir dieses Jahr in Urlaub fahren«, oder »Dein Vater meint, mehr als ein Dienstmädchen brauchen wir nicht«. Wenn es darum ging, mich zu bestrafen, war auch ich plötzlich »deine Tochter«, wie ein unliebsames Geschenk, das man hinten im Schrank versteckt und dann vergisst.

»Darf ich sie mir wenigstens anschauen?«

»Die Kirschen? Von mir aus.«

Meine Mutter ließ meine Hand los.

»Aber benimm dich. Nichts anfassen!«

Sie zupfte sich ihr ordentlich gekämmtes und mit Haarnadeln gespicktes Haar unter dem Hütchen zurecht und ging auf die Schießbude zu. Als sie vor meinem Vater und Signor Colombo stand, reckte der das Spielzeuggewehr und fragte: »Möchten Sie, dass ich Ihnen was schieße, Signora Strada?«

Ich krümmte die Zehen in den engen Schuhen und ballte die Fäuste. Kichernd schlug sich meine Mutter die Hand vor den Mund. Signor Colombo berührte sie wie zufällig an der Hüfte, seine Finger strichen über ihren Ellbogen; dann drehte er sich um, stierte mich an und zog die Augenbrauen zusammen wie Mussolini auf dem Porträt bei uns im Klassenzimmer. Und lächelte dabei. Alles in mir erstarrte, als ich seinen Blick auf mir spürte. Voller Scham rannte ich davon.

Ein paar Meter vor Signor Tresoldis Obststand blieb ich stehen. Die mit glänzenden schwarzen Kirschen prall gefüllten Körbchen lockten mich, aber ich hielt Abstand, weil er mir Angst einflößte. Im Schatten der Kirche blieb ich stehen, die Hände auf dem Rücken verschränkt und die Worte meiner Mutter im Hinterkopf: Nichts anfassen!

»Was machst du? Siehst du dir die Kirschen an?«

Eine krächzende Stimme ließ mich herumwirbeln.

Hinter mir, an die Wand mit dem abgeplatzten Fresko von San Gerardo gelehnt und die Taschen des zerschlissenen Kleides von Kieselsteinen ausgebeult, stand die Malnata und sah mich an.

Mir blieb die Luft weg, und der Boden unter mir schien plötzlich seine Konsistenz zu verlieren. Noch nie waren wir uns so nahe gewesen.

Sie roch nach Fluss, eine weiße Narbe reichte von ihrer Nase bis zur Wölbung ihrer Lippen, und von der Schläfe bis zum Kinn erstreckte sich ein rötlich glänzendes Mal.

»Wie bitte?«

Ich stotterte und schämte mich wie damals bei den Nonnen, als ich das Alphabet auswendig aufsagen musste und sie mich mit Stockschlägen auf die Finger korrigierten.

»Die Kirschen«, sagte sie. »Willst du welche kaufen?«

»Kann ich nicht. Ich hab kein Geld.«

»Stimmt doch gar nicht«, sagte sie und musterte mich herablassend, obwohl sie eine ganze Handbreit kleiner war als ich.

»Du bist angezogen wie eine Prinzessin. Deine Schuhe glänzen sogar.« Grinsend zeigte sie auf meine Füße und brach in schallendes Gelächter aus, ohne sich die Mühe zu machen, es zu unterdrücken.

»Na und?«, antwortete ich und bemühte mich, das Kinn oben zu halten.

»Also hast du auch Geld für Kirschen.«

»Ich nicht«, sagte ich. »Aber Papa. Doch er möchte nicht, dass ich die Kirschen kaufe.«

»Und warum nicht?«

Ich starrte auf meine Schuhe.

»Weil er es nicht will.«

»Und warum nicht?«

»Was geht dich das an?«

»Hol dir doch einfach welche«, sagte sie atemlos.

»Wie denn? Ich habe doch gesagt, dass ich kein Geld habe.«

»Na, dann nimm sie dir halt.«

Zu Hause hatten wir ein Kruzifix. Eines von diesen großen, dunklen Exemplaren, das nicht mehr...

Erscheint lt. Verlag 15.5.2024
Übersetzer Anja Nattefort
Sprache deutsch
Original-Titel La Malnata
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2024 • Booktok • buch zur buchmesse • eBooks • Elena Ferrante • Faschismus • female empowerment • Feminismus • Feministische Literatur • frankfurter buchmesse 2024 • Freundinnen • Freundinnenroman • Historische Romane • Historischer Roman • Isabell Allende • Italien • Italienische Bücher • Lombardei • Nell Leyshon • Neuerscheinung • TikTok Buch • Violetta • Weiblichkeit
ISBN-10 3-641-29696-X / 364129696X
ISBN-13 978-3-641-29696-4 / 9783641296964
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